St.Gallen: EUGEN ONEGIN, 12.09.2015
Lyrische Szenen in drei Akten | Musik: Piotr Tschaikowsky | Libretto: Konstantin Schilowski, Piotr Tschaikowsky, nach dem Versroman von Alexander Puschkin | Uraufführung: 29. März 1879 in Moskau | Aufführungen in St.Gallen: 12.9. | 19.9. | 27.9. | 4.10. | 21.10. | 23.10. | 30.10. | 8.11. | 17.11. | 24.11. | 13.12. | 17.12.2015 | 11.1. | 13.1. | 11.2. | 28.2.2016
Kritik:
Tschaikowskys EUGEN ONEGIN ist sicher seine persönlichste Oper, geprägt von einer Phase der inneren Zerrissenheit im Leben des Komponisten, unerfüllten Sehnsüchten, Weltschmerz, dem Gefühl am falschen Platz zu sein. Als empfindsamer Künstler hat er die Vorlage Puschkins mit unnachahmlicher Sensibilität in seinen lyrischen Szenen verarbeitet. Bereits das so wunderbar weich und stimmungsvoll dahinfliessende, kurze Vorspiel öffnet die Ohren für die tief empfundene musikalische Seelenlandschaft. In diesen wenigen Takten ist viel motivisches Material exponiert, welches im Verlauf des Werks durch die subtile Verarbeitung immer wieder aufscheint. Das Sinfonieorchester St.Gallen trift diesen elegischen, von Melancholie geprägten Ton mit grosser Akkuratesse. Otto Tausk gelingt es mit seinem einfühlsamen Dirigat vortrefflich, diesen melancholischen Ton über den ganzen Abend beizubehalten, ihn durch zügige Tempi und sehr schön herausgearbeitete Transparenz des Klangs nie in Larmoyanz oder Kitsch abgleiten zu lassen. Auch die wenigen Anklänge an die grosse Oper (die Ballszenen auf dem Landgut und in St.Petersburg, die Chöre und Tänze der Landarbeiter) erklingen mit feinem Gespür für das richtige Mass und ohne aufgeblasene Bombastik. Die jungen, frischen Stimmen der Sängerinnen und Sänger tragen viel dazu bei, dass Tschaikowskys Seelendrama zumindest musikalisch mit berührender Glaubhaftigkeit erklingt. Nikolay Borchev gelingt eine grossartige Verkörperung des Titel(Anti-)helden: Sein zu Beginn eher herb timbrierter Barition passt wunderbar zu der lassitude, welche Onegin bei seinem Auftritt auf dem Landgut an den Tag legt. Wie ein jungenhafter, mit Schalk kommentierender oder zynischer Beobachter des Geschehens steht er oft etwas steif abseits, doch spätestens nach dem fatalen Duell mit seinem Freund Lenski kann er die Rolle des Zynikers nicht mehr aufrecht erhalten und wandelt sich im letzten Bild zum tragisch um Liebe flehenden Mann, der nun realisiert, was er in seinem oberflächlichen Leben falsch gemacht hat. Diese Wandlung macht Borchev auch im Klang seiner Stimme deutlich, einem Klang, der nun entschieden leidenschaftlicher und ausdrucksstärker ausfällt. Im ersten Bild tritt er noch voller Verachtung und völlig unpassend gekleidet im Schlabberpullover in die folkloristische Idylle des Landlebens, im letzten Bild hingegen versucht er mit aufreizend geöffnetem Hemd und entsprechendem Sexappeal Tatjana zum Sinneswandel zu bewegen. Doch diese Tatjana ist unterdessen seelisch erstarrt, hat einen Oligarchen geheiratet. Evelina Dobračeva macht diese Wandlung stimmlich und darstellerisch ebenfalls vortrefflich deutlich: Der mädchenhaft, schön aufblühende Klang der Stimme im ersten Bild weicht nach und nach einer metallisch verhärteten, kalten Farbe. Kurz schwankt sie zwar im Finalduett noch, scheint Onegins Flehen zu erliegen, doch dann erblickt sie ihre Tochter (genialer Einfall der Regie) und die Stimme verhärtet sich wieder. Mit praller, schön geführter Stimme wartet Susanne Gritschneder als Tatjanas Schwester Olga auf. Sie spielt die sich eitel gebende Landpomeranze herrlich und verleiht ihrer (nur gespielten?) Unbekümmertheit in ihrer Arie im ersten Akt vortrefflich Ausdruck. Die Stimmen von Evelina Dobračeva und Susanne Gritschneder harmonieren fantastisch im ersten Bild, genauso wie die von Mutter Larina (Terhi Lampi-Fromageot) und der Amme Filipjewna (Kismara Pessatti, Kompliment auch an die Maskenabteilung des Theaters, welch diese junge Sängerin in eine Mamutschka weit nach den Wechseljahren verwandelte). Roman Payer singt einen zart intonierenden Lenski. Besonders hervorzuheben sind seine traumhaft schön im Mezzavoce und Piano gestalteten Phrasen. Tatjanas Ehemann, Fürst Gremin, ist mit Levente Páll interessant besetzt: Für einmal ist Gremin nicht ein schwerer, fülliger Bass mit profunder Schwärze, sondern ein smarter (sein Kind liebevoll verhätschelnder) Mafioso mit angenehm jugendlich-leichtem Timbre.
Wenn also die musikalische Seite auf der ganzen Linie zu begeistern vermag, bleiben szenisch doch einige Fragezeichen. Die Inszenierung von Lydia Steier (Regie), Susanne Gschwender (Bühne) und Anna Eiermann (Kostüme) versucht die beiden Welten der Handlung, Landgut und Grossstadt, überdeutlich voneinander abzugrenzen, was ja auch Sinn macht. Doch leider wird durch die Überzeichnung sowohl der (pseudo-)folkloristischen Aspekte der Akte I und II, als auch der pervertierten Oligarchengesellschaft (koksende Männer, welche sich von üppigen Blondinen mit Blowjobs bedienen lassen) in einer Galerie das eigentliche seelische Drama zugedeckt und weitgehend im Keime erstickt. Puschkin ist (bei aller Ironie, welche bei ihm auch durchschimmert) nun mal nicht Gogol, Tschaikowsky ist nicht Schostakowitsch. Die Groteske, die Persiflage und das Konterkarieren funktionieren bei EUGEN ONEGIN nicht. Sicher, von der Personenführung her ist vieles sehr gut gelungen, Charaktere werden genau gezeichnet, viele Szenen sind in sich genommen gekonnt und sorgfältig gearbeitet. Anderes hingegen ist nur noch ätzend: Welche Bedeutung bitte schön hat das Urinieren Triquets gegen die Hauswand im Duellbild? Warum müssen der Hauptmann (Andrzej Hutnik) bei Larinas Ball als Tunte und Monsieur Triquet (Riccardo Bota) als Obertunte agieren? So überlagert viel Grelles leider auch die schönen Einfälle der Regie, z.B. das Zitieren des schmucken Landhäuschens in der modernen Lichtinstallation in der Neureichen-Galerie im letzten Akt, die Anwesenheit von Tatjanas Familie auch in ihrem neuen Leben, die bereits erwähnte Hinzufügung der Tochter Tatjanas und Gremins, in welcher sich nach dem schon in der Briefszene evozierten Matroschka-Prinzip das Frauenschicksal wiederholen wird. Sehr stimmungsvoll ist das Lichtdesign von Andreas Enzler mit den subtilen Himmelsprojektionen und Farbschattierungen. Von einfallsreich bis (bewusst) betulich und karikierend sind die Choreografien von Beate Vollack für den präzise singenden Chor und den Opernchor des Theaters St.Gallen.
Das Premierenpublikum in St.Gallen zeigte sich uneingeschränkt begeistert. Die erst zehn Jahre zurückliegende, feinfühlige Inszenierung von Anthony Pilavachi an diesem Haus schien bereits dem kollektiven Vergessen anheim gefallen zu sein.
Inhalt:
Ort: Russland, zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Auf einem Landgut lebt die Witwe Larina mit ihren beiden Töchtern Tatjana und Olga, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Tatjana scheint ernst und verträumt, Olga lebenslustig und temperamentvoll. Olga ist mit dem schwärmerischen Dichter Lenskij verlobt, Tatjana hingegen ist noch solo. Lenskij kommt mit seinem Freund Onegin zu Besuch. Onegin hat einen reichen Onkel beerbt; gibt sich ziemlich herablassend und gelangweilt. Tatjana ist trotzdem von ihm sehr angetan. Am selben Abend noch schreibt sie ihm einen Liebesbrief, obwohl er keinerlei Anzeichen erkennen liess, dass er an ihr interessiert wäre. Onegin spielt den kühlen Menschenverächter und lässt Tatjana wissen, dass er zur Ehe nicht tauge.
Larina lädt zu Tatjanas Namenstag viele Gäste ein, darunter sind auch Lenskij und Onegin. Ein Franzose trägt ein Couplet vor. Onegin langweilt die provinzielle Gesellschaft und er beginnt intensiv mit Olga zu flirten und tanzt beinahe ununterbrochen nur mit ihr. Lenskij steigert sich in seine Eifersucht, die Situation eskaliert und er fordert Onegin zum Duell. Obwohl Olga und Tatjana versuchen, das Duell zu verhindern, lässt sich Lenskij nicht davon abhalten. Onegin tötet dabei seinen einstigen Freund.
Zehn Jahre später: Tatjana ist mit dem viel älteren Fürsten Gremin verheiratet und lebt in St.Petersburg. Onegin taucht auf einem Ball im Palast Gremins auf. Er ist viel gereist, jedoch hat er sein Glück nie gefunden. Zudem lastet der durch ihn verschuldete Verlust seines Freundes Lenskij schwer auf ihm. Als er Tatjana wiedersieht, wird ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte, ihre Liebe zu verschmähen. Er versucht sie für sich zu gewinnen, doch nun ist sie es, die sich von ihm abwendet.
Auch ein letzter Versuch Onegins scheitert. Zwar stürzen Onegins Liebesschwüre Tatjana in einen zwiespältigen Gefühlsstrudel, doch schliesslich reisst sie sich von Onegin los, der viel zu spät erkennt, dass seine Überheblichkeit ihn das persönliche Glück gekostet hat.
Werk:
EUGEN ONEGIN ist die meistgespielte Oper aus dem musikdramatischen Schaffen Tschaikowskis (1840-1893). Der Stoff kam seinem Charakter und seinen Ansprüchen an eine Oper entgegen, da er nicht Monumentalopern im Stile der Grand Opéra schreiben wollte, sondern die intimere, ja beinahe kammermusikalische Form bevorzugte. Zwar tauchen auch in EUGEN ONEGIN folkloristische Momente (Bauernchor) und zwei grosse Ballszenen auf (Landgut der Larina und Ball in St.Petersburg), doch diese bilden nur quasi einen musikalischen Untergrund, auf dem sich die Seelenqualen Tatjanas und Onegins ausbreiten. Daneben dominiert ein lyrisch-schlichter, melancholischer Konversationsstil welcher dem poetischen Sujet überaus angemessen ist. Ariose Aufschwünge (die komplexe, kompositorisch meisterhaft gestaltete Briefszene Tatjanas, Lenskijs grosse Szene vor dem Duell, Gremins abgeklärte Schilderung seiner Ehe mit Tatjana) und die äusserst populär gewordenen Rhythmen der Polonaise und der Mazurka verleihen dem Werk zwar einen leidenschaftlichen, charaktervollen Glanz, der jedoch stets mit feinfühliger Zurückhaltung eingesetzt wird. Tschaikowski hatte die Uraufführung Schülern des Moskauer Konservatoriums anvertraut, welche wohl den Ansprüchen an die psychologische Durchdringung der Partien nicht ganz genügten. Deshalb errang erst die Aufführung im Bolschoi Theater zwei Jahre später den bis heute ungebrochenen Erfolg dieses Schlüsselwerks der russischen Seele.