Hamburg, Staatsoper: EUGEN ONEGIN, 22.02.2023
Lyrische Szenen in drei Akten | Musik: Pjotr Tschaikowski | Libretto: Konstantin Schilowski, Piotr Tschaikowski, nach dem Versroman von Alexander Puschkin | Uraufführung: 29. März 1879 in Moskau | Aufführungen in Hamburg (WA): 14.2. | 18.2. | 22.2. | 25.2.2023
Kritik:
Nicht ohne Grund wollte Tschaikowsky sein Werk EUGEN ONEGIN nie als Oper verstanden wissen, sondern bezeichnete die intime Komposition als "Lyrische Szenen in sieben Bildern". Tschaikowsky bekannte, dass die Musik aus seinem tiefsten Inneren herausgeflossen sei, nichts hatte er um des Effektes der Großen Oper willen aufgebauscht oder "erfunden". Jede der sieben Szenen situierte Tschaikowsky an einem anderen Ort: Veranda des Gutshauses Larinas, Schlafzimmer Tatjanas, bei der Beerenernte, Feier des Namenstages Tatjanas im Vestibül des Gutshofs, winterliche Landschaft für die Duellszene, Ballsaal in St. Petersburg und Boudoir Tatjanas in Gremlins Palast. Der Regisseur Adolf Dresen und der Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann haben diese szenischen Vorgaben für ihre Hamburger Inszenierung (Premiere war am 11. Februar 1979!) sehr ernst genommen und äußerst stimmig umgesetzt. Herrmann hat sieben wunderschöne, atmosphärisch dichte Bilder entworfen, welche das Publikum auch nach 44 Jahren noch verzücken und in die Welt Puschkins versetzen. Natürlich bedeutet ein solch aufwändiges Bühnenbild, dass man nach jeder Szene eine Umbaupause von einigen Minuten aushalten muss. Einigen Menschen fällt so etwas in der heutigen Zeit, wo alles schnell gehen muss, eher schwer. Wohl deshalb setzen heutzutage Inszenierungsteams auf Einheitsbühnenbilder, auf pausenlose Übergänge, um ja nicht die Leute warten zu lassen. Dabei ergibt sich doch bei solchen Umbaupausen die Gelegenheit, mit den Sitznachbar*innen ins Gespräch zu kommen, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten und Ohr und Auge etwas inne halten zu lassen, um sich auf die nächsten Eindrücke fokussieren zu können.
Mir persönlich hat diese Inszenierung jedenfalls sehr viel Freude gemacht. Sie ist detailgenau ausgestaltet, ohne je überladen zu wirken. Die wunderschönen Kostüme von Margit Bárdy unterstreichen den geschmackvollen Gesamteindruck mit den herbstlichen Pastellfarben für die Szenen auf dem Land und den dezent-eleganten Roben für die Ballszene in St.Petersburg.
Auch musikalisch war der Abend überaus stimmig, wie aus einem Guss. Die junge russische Dirigentin, Lidiya Yonkoskaya, die in den USA studiert hatte, spürte zusammen mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg behutsam der wunderbar feinen Melancholie nach, erweckte die elegischen Melodiebögen, diese sich nach und nach im Ohr festsetzenden Erinnerungsmotive zu intensivem Erleben. Gesungen wurde auf ganz hohem Niveau, und zwar vom gesamten Ensemble, da war eine Harmonie der Stimmen zu erleben, die einfach großartig war.
In der Titelrolle war das Hamburger Ensemblemitglied Alexey Bogdanchikov zu erleben, der mit einer kühlen, nüchternen Tongebung in den ersten Auftritten genau die abgehobene Blasiertheit Onegins offenbarte, um dann (nachdem er seinen Freund Lenski im Duell erschossen hatte) zu leidenschaftlicher Verzweiflung und Selbsterkenntnis zu finden. Die Tatjana wurde von Ruzan Mantashyan interpretiert. Frau Mantashyan sang die entrückten, sich in Traumwelten verlierenden Passagen des Eröffnungsbildes mit wunderbarer Sanftheit, ließ ihre Gefühlswelten dann in der großen Briefszene des zweiten Bildes aufflammen, stimmlich stets sauber kontrolliert. Wunderbar gelangen auch ihre Passagen im berührenden Finale des vierten Bildes (die Eskalation zwischen Lenski und Onegin) und mit reifer, abgeklärter Haltung widerstand sie in der letzte Szene Onegins Versuch, sie wieder zurückzugewinnen. Dovlet Nurgeldiyev als Lenski ist schlicht ein Ereignis: Eine Tenorstimme mit warm-goldenem Glanz, nie forciert, wunderbar gerundet, blitzsauber intonierend und klar phrasierend. Man war nicht nur über seine so unnötige Erschießung im fünften Bild traurig, sondern vor allem darüber, dass man seiner herrlichen Stimme nun nicht weiter lauschen durfte. Sind sich die Hamburger*innen eigentlich dessen bewusst, was sie da seit über zehn Jahren für eine Perle im Ensemble haben? Marta Świderska sang eine bodenständige Olga, setzte mit ihrem herrlich ausdruckstarken, satten Mezzosopran einen spannenden Kontrast zum verträumten Gesang ihrer Schwester Tatjana. Der Bassist Alexander Tsymbalyuk als Fürst Gremin hat zwar nur einen Auftritt in der sechsten Szene, aber der hat es in sich: Tschaikowsky hatte für die Rolle wohl eine der schönsten und ergreifendsten Bassarien des Repertoires komponiert, und Tsymbalyuk blieb ihr nichts an sonorer Expressivität schuldig; er verfügt über eine Stimme mit einnehmendem Klang, immensem Volumen und überwältigender Profundität.
Janina Baechle als besorgte Amme Filipjewna, Katja Pieweck als ebenso fürsogliche Gutsherrin Larina, Peter Galliard als sein Couplet gekonnt vortragender Triquet, Han Kim als Saretzki, Hubert Kowalczyk als Hauptmann und André Nevans als ausgezeichneter Vorsänger der Leibeigenen komplettierten das herausragende Ensemble aufs Trefflichste! Sehr klangschön und geschmackvoll gestaltete der Chor der Staatsoper Hamburg seine Auftritte in der ersten, dritten und sechsten Szene (Einstudierung: Christian Günther).
Es ist mehr als erfreulich, dass die Staatsoper Hamburg diese 44 Jahre alte Inszenierung im Repertoire behält und pflegt. Es muss nicht jede Inszenierung steril ausgestattet und für jedes Werk austauschbar aussehen wie eine Lounge aus dem "Schöner Wohnen"-Magazin.
Persönliche Anmerkung: Eine russische Dirigentin, eine armenische Tatjana, eine polnische Olga, ein usbekischer Onegin, ein turkmenischer Lenski, ein ukrainischer Gremin, ein Schweizer Triquet, eine deutsche Filipjewna - wenn doch bloß auch auf der Weltbühne so viel Harmonie zwischen den Nationalitäten herrschen würde wie auf der Opernbühne!
Inhalt:
Ort: Russland, zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Auf einem Landgut lebt die Witwe Larina mit ihren beiden Töchtern Tatjana und Olga, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Tatjana scheint ernst und verträumt, Olga lebenslustig und temperamentvoll. Olga ist mit dem schwärmerischen Dichter Lenskij verlobt, Tatjana hingegen ist noch solo. Lenskij kommt mit seinem Freund Onegin zu Besuch. Onegin hat einen reichen Onkel beerbt; gibt sich ziemlich herablassend und gelangweilt. Tatjana ist trotzdem von ihm sehr angetan. Am selben Abend noch schreibt sie ihm einen Liebesbrief, obwohl er keinerlei Anzeichen erkennen liess, dass er an ihr interessiert wäre. Onegin spielt den kühlen Menschenverächter und lässt Tatjana wissen, dass er zur Ehe nicht tauge.
Larina lädt zu Tatjanas Namenstag viele Gäste ein, darunter sind auch Lenskij und Onegin. Ein Franzose trägt ein Couplet vor. Onegin langweilt die provinzielle Gesellschaft und er beginnt intensiv mit Olga zu flirten und tanzt beinahe ununterbrochen nur mit ihr. Lenskij steigert sich in seine Eifersucht, die Situation eskaliert und er fordert Onegin zum Duell. Obwohl Olga und Tatjana versuchen, das Duell zu verhindern, lässt sich Lenskij nicht davon abhalten. Onegin tötet dabei seinen einstigen Freund.
Zehn Jahre später: Tatjana ist mit dem viel älteren Fürsten Gremin verheiratet und lebt in St.Petersburg. Onegin taucht auf einem Ball im Palast Gremins auf. Er ist viel gereist, jedoch hat er sein Glück nie gefunden. Zudem lastet der durch ihn verschuldete Verlust seines Freundes Lenskij schwer auf ihm. Als er Tatjana wiedersieht, wird ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte, ihre Liebe zu verschmähen. Er versucht sie für sich zu gewinnen, doch nun ist sie es, die sich von ihm abwendet.
Auch ein letzter Versuch Onegins scheitert. Zwar stürzen Onegins Liebesschwüre Tatjana in einen zwiespältigen Gefühlsstrudel, doch schliesslich reisst sie sich von Onegin los, der viel zu spät erkennt, dass seine Überheblichkeit ihn das persönliche Glück gekostet hat.
Werk:
EUGEN ONEGIN ist die meistgespielte Oper aus dem musikdramatischen Schaffen Tschaikowskis (1840-1893). Der Stoff kam seinem Charakter und seinen Ansprüchen an eine Oper entgegen, da er nicht Monumentalopern im Stile der Grand Opéra schreiben wollte, sondern die intimere, ja beinahe kammermusikalische Form bevorzugte. Zwar tauchen auch in EUGEN ONEGIN folkloristische Momente (Bauernchor) und zwei grosse Ballszenen auf (Landgut der Larina und Ball in St.Petersburg), doch diese bilden nur quasi einen musikalischen Untergrund, auf dem sich die Seelenqualen Tatjanas und Onegins ausbreiten. Daneben dominiert ein lyrisch-schlichter, melancholischer Konversationsstil welcher dem poetischen Sujet überaus angemessen ist. Ariose Aufschwünge (die komplexe, kompositorisch meisterhaft gestaltete Briefszene Tatjanas, Lenskijs grosse Szene vor dem Duell, Gremins abgeklärte Schilderung seiner Ehe mit Tatjana) und die äusserst populär gewordenen Rhythmen der Polonaise und der Mazurka verleihen dem Werk zwar einen leidenschaftlichen, charaktervollen Glanz, der jedoch stets mit feinfühliger Zurückhaltung eingesetzt wird. Tschaikowski hatte die Uraufführung Schülern des Moskauer Konservatoriums anvertraut, welche wohl den Ansprüchen an die psychologische Durchdringung der Partien nicht ganz genügten. Deshalb errang erst die Aufführung im Bolschoi Theater zwei Jahre später den bis heute ungebrochenen Erfolg dieses Schlüsselwerks der russischen Seele.