Luzern, KKL: HONEGGER | TSCHAIKOWSKI | STRAWINSKY, Le piano symphonique, 10.02.2023
Arthur Honegger: RUGBY, Mouvement symphonique Nr. 2 | Uraufführung: 19. Dezember 1928 in Paris, unter der Leitung von Ernest Ansermet | Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll | Uraufführung: 25. Oktober 1874 in Boston (mit Hans von Bülow am Klavier) | Igor Strawinsky : PETRUSCHKA, Burleske in vier Bildern | Uraufführung: 13 Juni 1911 in Paris
Kritik:
Selbstredend stand wiederum eine Starpianistin im Zentrum dieses letzten sinfonischen Konzerts anlässlich des nun jährlich stattfindenden Festivals LE PIANO SYMPHONIQUE im KKL. Zuerst aber möchte ich auf die rein orchestralen Programmpunkte des Abends eingehen. Während bei Martha Argerich mit Schumanns Klavierkonzert und bei Yoav Levanon mit Paderewskis Klavierkonzert jeweils das Residenzorchester des KKL, das Luzerner Sinfonieorchester, spielte, wurde nun das Orchestre de la Suisse romande unter seinem Chefdirigenten Jonathan Nott eingeladen - ein wertvoller kultureller Austausch zwischen den Sprachregionen der Schweiz, der öfter passieren sollte, verfügt dieses kleine Land doch über mehrere ganz ausgezeichnete Konzertformationen. Für den Dirigenten Jonathan Nott war es quasi eine Heimkehr, leitete er doch als Chefdirigent und als Musikdirektor das Sinfonieorchester Luzern und das Luzerner Theater von 1997 bis 2002.
Nott ist bekannt für seinen Einsatz für Werke des 20. Jahrhunderts und für zeitgenössische Musik. So brachte er für das gestrige Konzert Arthur Honeggers RUGBY und Igor Strawinskys PETRUSCHKA mit und liess das OSR nach begeistertem Schlussapplaus auch noch Maurice Ravels UN BARQUE SUR L'OCÉAN spielen. Bei allen drei Werken bewunderte man die oszillierenden orchestralen Farben, welche das grossartig aufspielende Orchestre de la Suisse romande (OSR) zu Gehör brachte. In Honeggers jazzig unterhaltsamen Stück RUGBY bewunderte man die musikantische Rhythmik, die originelle Instrumentation, diese ständige, aber nie nervende sondern zum Schmunzeln animierende Unruhe und die überraschenden Wendungen. Das Stück ist kurz, prägnant und einfach ganz grosse Klasse - vor allem wenn es mit soviel hörbarer Freude am gemeinsamen rhythmisch präzisen Musizieren präsentiert wird.
Überschäumende Jahrmarktsstimmung, vergebliche Liebesmüh und die Tragik der Petruschka-Puppe prägten Strawinskys Burleske PETRUSCHKA. Mit fesselnder Agogik, unentrinnbarem, plastisch gestaltendem Drive und wiederum immenser Farbigkeit intonierte das OSR unter Jonathan Nott diese mitreissende und gefühlvolle Partitur. Man brauchte nicht mal die Optik des Balletts, um in die Geschichte hineinzufinden, denn das Orchester erählte mit gekonnter Lautmalerei alles, was man wissen musste. Herausragende Einzelleistungen der Soloflöte, der Pianistin, der Blechbläser, der Bassklarinette oder des Fagotts entfalteten sich auf dem spannungsreichen Klangteppich des Orchesters. Spannend war es auch, dem Dirigenten und insbesondere seinem bis in die Fingerspitzen genau ausformendem interpretatorischen Wirken zuzusehen - eine Formgebung, die sich eins zu eins auf das Spiel der Musiker*innen auswirkte.
Dieser klar definierte Gestaltungswille führte auch bei Ravels UN BARQUE SUR L'OCÉAN zu einem stimmungsvollen Klangzauber, das Riesenorchester wurde quasi zu einem bewegten Meer, mal ruhige, dann aber auch bedrohliche Wellen werfend. Wunderbar!
Im Mittelpunkt des Programms stand logischerweise Tschaikowskis b-Moll Klavierkonzert mit der georgisch-französischen Starpianistin Khatia Buniatishvili als Solistin. Tschaikowskis erfolgreiches erstes Klavierkonzert hat man natürlich schon oft gehört, für mich persönlich prägend war meine erste Langspielplatte des Tschaikowski-Konzerts mit dem 24jährigen Van Cliburn unter der Leitung von Kyrill Kondraschin. Ich gebe es zu, es fällt mir oft schwer mich von Hörgewohnheiten zu entfernen. Deshalb sind meine Einwände gegen die Interpretation des Konzerts durch Khatia Buniatishvili ganz subjektiver Natur. Mir schien es, Khatia Buniatishvili wolle alles anders machen. Abrupte Tempowechsel, ausgeprägte riterdandi oder accelerandi führten für mich zu einem fahrigen Eindruck. Der erste Satz schien mit insgesamt zu überhastet (mit plötzlichen Tempostopps), um einen Eindruck der Geschlossenheit zu hinterlassen. Natürlich war das technisch ausgezeichnet gespielt, die differenzierte (leicht manieristisch scheinende) Anschlagskultur von Khatia Buniatishvili ist absolut bewundernswert. Aber gerade zum Beispiel die nach der kurzen Orchestereinleitung so effektvoll aufsteigenden Akkorde schienen mir zu flüchtig und tempomässig unpräzise, artifiziell verzögert einzusetzen. Der Dirigent Jonathan Nott nahm das schnelle Tempo auf, doch hatte man manchmal das Gefühl, das passe alles noch nicht bruchlos zusammen. Manches klang gehetzt, anderes wieder zu gedehnt, von der Solistin sehr eigenwillig interpretiert. Aber es gab natürlich auch Momente von überragender Schönheit, das Duettieren des Flügels mit der Flöte zum Beispiel oder wunderbar fein perlende Läufe im Pianissimo, eine Kunst, die Khatia Buniatishvili wie kaum eine andere beherrscht. Im zweiten Satz, diesem wunderbaren Andantino, fehlte erneut der grosse Atem, der Bogen. Die zum Teil technisch senstionell gespielten Einzelteile wirkten sezierend, führten zum Zerfall des Ganzen. Auch im Finalsatz, diesem auf der Rondo-Form aufgebauten Allegro con fuoco wirkte vieles zu analytisch, als fürchtete sich die Interpretin vor zuviel Schmalz und Schwulst, wollte nur ja keine Emphase aufkommen lassen. Nichtsdestotrotz durfte sie am Ende eine Standing Ovation entgegennehmen, auch die erneut vor mir sitzende Martha Argerich (sie hat Tschaikowskis b-Moll Klavierkonzert mindestens dreimal selbst eingespielt, mit Dutoit, Kondrashin und Abbado) erhob sich zum Applaus. Als Zugabe spielte Khatia Buniatishvili die Klavierversion des Adagios aus Alessandro Marcellos Oboenkonzert in d-Moll, welches Johann Sebastian Bach für Cembalo bearbeitet hatte (BWV 974). In dieser Bearbeitung einer Bearbeitung nahm man gerne die interpretatorischen Freiheiten Khatia Buniatishvilis in Kauf, weit gedehnte, traumverlorene Piani mit überaus grosszügig appliziertem Pedaleinsatz. Das Publikum war verzückt!
Werke:
Arthur Honegger (1892-1955) war ein französisch-schweizerischer Komponist. Er liess sich nach dem Musikstudium in Paris nieder und wurde schon bald Mitglied der GROUPE DES SIX, einer Gruppe von Komponisten der Avangarde, zu der neben Honegger auch Darius Milhaud, Francis Pulenc, Georges Auric, Louis Durey und als einzige Frau Germaine Tailleferre gehörten. Inspiriert von Erik Satie und Jean Cocteau lehnten sie den nach-wagnerianischen Romantizismus ab, propagierten Primitivität satt Raffinement, Kürze und Klarheit statt verschwommener Länge, Freilegen der Linien und des Rhythmus. Es gab wenige gemeinsame Kompositionen, bald schon ging jeder seinen eigenen musikalischen Weg, sie blieben jedoch befreundet.
Die Grundform von RUGBY ist ein Rondo mit Variationen. Es wird der Eindruck eines Kampfes evoziert, bei dem sich beide Teams die Motive (den Ball) gegenseitig zuspielen (und wieder wegnehmen). Honegger schrieb dazu: "Ich mag Fussball sehr, aber ziehe dennoch Rugby vor. Nach meinem Dafürhalten ist Rugby spontaner, direkter und irgendwie natürlicher als Fussball ... Dennoch würde man mein Werk falsch verstehen, wenn man es als Programmmusik nehmen wollte. Alles, was mein RUGBY zum Ausdruck bringen möchte, ist den vielfältigen Bewegungen und Geräuschen sowie dem hektischen Lärm eines Spieles im Pariser Colombes-Stadium abgelauscht ... ."
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) komponierte sein erstes (und mit Abstand beliebtestes Klavierkonzert) im Jahre 1874. Ursprünglich wollte er es seinem Mentor Nikolai Rubinstein widmen, doch der bezeichnete die Komposition als armselig, vulgär, wertlos, unspielbar. Daraufhin schickte Tschaikowsky das Konzert an Hans von Bülow und bat um sein Urteil. Der befand es als hinreissend in jeder Hinsicht. Und das ist es tatsächlich. Bis heute verfehlt das Schlachtross unter den Klavierkonzerten der Romantik und Spätromantik seine mitreissende Wirkung nie. Bereits der Beginn ist von einer effektvollen, unnachahmlichen Wucht, quasi ein elementares Ereignis. Die Melodie des Orchesters wird vom Klavier mit sich über die gesamte Tastatur erstreckenden Akkorden begleitet. Das Hauptthema, welches dann in b-Moll gehalten ist, erinnert an ein ukriainisches Volkslied. Der zweite Satz beginnt mit einer melancholischen Melodie der Querflöte, welche das Thema des ukrainischen Voksliedes wieder aufnimmt. In der Mitte dieses Satzes wird ein damals bekanntes französisches Chanson (Il faut s' amuser, danser et rire) schnell dahinrauschend verarbeitet. Der dritte Satz, in der Form eines fulminanten Rondos, verlangt viel Tastenakrobatik vom Pianisten, so viel, dass dieser Satz meist in der von Alexander Siloti gekürzten Fassung aufgeführt wird.
Rubinstein hat übrigens seine vernichtenden Worte später bedauert und das Konzert sogar selbst aufgeführt.
Berühmt wurde die Aufnahme mit dem blutjungen Pianisten Van Cliburn von 1961. Dies war die erste Schallplatte aus dem Bereich der klassischen Musik, welche sich über eine Million Mal verkaufte.
Igor Strawinsky (1882-1971) komponierte zuerst eine Burleske für Klavier und Orchester, welche er später auf Anraten des Direktors der Ballets russes, Diaghilew, zu einem grossen, rund 35 Minuten dauernden Ballett erweiterte. Die Musik zieht ihren Reiz aus der collagenhaften Verwendung und Zerbröckelung von russischen Volksmelodien, der dissonanten, aggressiven Verwendung von sich reibenden Durakkorden, den Spannungen von derben Fanfarenmotiven kontrastierend zur nach innen gewendeten, empfindsamen Musik, welch zur Charakterisierung von Petruschkas Emotionen verwendet wird. Die Uraufführung in Paris geriet zu einem überwältigenden Erfolg, ganz im Gegensatz zur Uraufführung des SACRE DU PRINTEMPS zwei Jahre später.
Handlung des Balletts: Mitten im bunten Jahrmarktstreiben in der Karnevalszeit führt ein Gaukler seine Puppen vor: eine Ballerina, einen Mohren und den russischen Hampelmann Petruschka. Mittels seines Flötenspiels erweckt er die Puppen zum Leben. Die sensationshungrigen Zuschauer ergötzen sich an der Abweisung und Erniedrigung Petruschkas durch die Ballerina, welche sich lieber dem Mohren hingibt. Petruschka versucht, mit tollkühnen Tänzen, die Ballerina zu gewinnen und seiner Sehnsucht nach Liebe Ausdruck zu verleihen. Doch die Ballerina schaut nur teilnahmslos zu, genau so wie die Menge. Später werden die Ballerina und der Mohr bei ihrem Geturtel vom eifersüchtigen Petruschka überrascht. Der Streit zwischen dem Mohren und Petruschka eskaliert. In der Folge tötet der Mohr Petruschka. Der Gaukler führt dem teilnahmslos gaffenden Volk die leblose Puppe (Petruschka) vor, aus der Sägespäne rieseln. Doch zu seinem Entsetzen erscheint über dem Dach seiner Bude der Geist Petruschkas und droht dem Gaukler mit boshaftem Grinsen.