Winterthur, Stadthaus: TSCHEREPNIN | TSCHAIKOWSKY | BRAHMS; 22.11.2023
Gabriela Montero spielt Tschaikowskys Klavierkonzert in b-Moll
Werke: Nikolaj Tscherepnin: Prélude zu "La princesse lointaine" op. 4 | Uraufführung: unbekannt | Pjotr Iljitsch Tschaikowksy: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll, op. 23 | Uraufführung: 25. Oktober 1874 in Boston (mit Hans von Bülow am Klavier) | Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68 | Uraufführung: 4. November 1876 in Karlsruhe
Kritik:
WONDER WOMAN
Es mag ungewöhnlich erscheinen, aber diesmal beginne ich meine Würdigung des gestrigen Konzerts des Musikkollegiums Winterthur mit den Zugaben der Solistin Gabriela Montero:
Die begnadete Pianistin setzte sich nach dem begeisterten Applaus für ihre Darbietung von Tschaikowskys b-Moll Klavierkonzert nicht einfach an den Flügel und spielte (wie so manche Künstler*innen) eine Zugabe ohne Ansage, nein, Frau Montero griff zum Mikrofon, bedankte sich ganz herzlich beim Publikum, dem Orchester und dem Dirigenten und forderte das Publikum auf, ihr doch eine Melodie vorzugeben, zu der sie dann improvisieren werde. Selbstverständlich dauerte es bei der bekannten Schweizer Zurückhaltung etwas, bis jemand im Saal den Mut aufbrachte, eine Melodie zu intonieren. Aus einer der hintersten Reihen ertönte schliesslich das Schweizer Heimatlied "Luegid vo Bärge und Tal". Die venezolanische Ausnahmepianistin kannte sich verständlicherweise in der Schweizer Volksmusik nicht aus, konnte das Lied aber bereits nach dem einmaligen Anhören der Phrase aus dem Publikum perfekt nachspielen und entwickelte daraus eine fulminante Improvisation, so leicht im Stil eines üppig romantisierten Bach, ein Klangrausch sondergleichen, in welchem immer wieder "Lugid vo Bärge" aufschimmerte. Das Publikum war kaum mehr zu halten. Das war umwerfend gespielt mit einer Virtuosität sondergleichen und stets geschmackvoll. Als zweite Improvisation schlug dann jemand "Last Christmas" von Wham vor: Frau Montero entwickelte aus der simplen, aus wenigen Tönen bestehenden Melodie einen mitreissenden Ragtime. Herrlich!!! Eine wahre "Wonder Woman" auf dem Schlachtfeld der Tasten. (Morgen Freitag übrigens wird Gabriela Montero im Stadthaus ein Freikonzert mit ihrer Kunst der Imporovisation geben. HIngehen!)
Nachtrag: Improvisationskunst vom Allerfeinsten präsentierte Gabrieal Montero gestern Freitag anlässlich eines Freikonzerts - seit 125 Jahren werden diese Gratiskonzerte in Winterthur dank Stiftungen und Schenkungen in Winterthur angeboten, einmalig! Sie begann mit einer fulminanten Interpretation von Bachs Chaconne in d-Moll, transkribiert von Ferruccio Busoni, dem legendären Pianisten und Komponisten. Durch Zurufe aus dem Publikum folgten eine Improvisation über “Fremd bin ich ausgezogen” aus Schuberts Winterreise, gefolgt von “I wish you a merry Christmas” und “Alle Vögel sind schon da - Morgen kommt der Weihnachtsmann” auf Anregung eines jugendlichen Besuchers, eine Melodie, die schon Mozart zu Variationen inspiriert hatte (Ah vous dirai-je maman). Dazwischen folgte eine freie Improvisation zu Gabriela Monteros Haimatland Venezuela, sehr tief empfundene Paraphrasen, emotional vorgetragen. Im Anschluss an den Konzertteil führte Dominik Deuber ein Interview mit der Künstlerin, das einen sehr persönlichen Eindruck über diese wunderbare Pianistin und Komponistin vermittelte, die Kostproben ihres Talents in dieser “Winterthurer-Woche” dem Publikum und Nachwuchpianist*innen (in einer Meisterklasse) schenkt.
Lebensfreude pur schlägt einem auch zu Beginn von Tschaikowskys erstem Klavierkonzert entgegen, diesem unverwüstlichen Schlachtross unter Tschaikowskys Werken. Bereits mit den wuchtigen aufsteigenden Akkorde des Klaviers zur majestätischen Streicherfigur des Beginns wurde man auf eine frohe, leicht pathetische Ebene getragen, lauschte im Verlauf des ersten Satzes der kunstvollen, manchmal auch vertrackten Verarbeitung des ukrainischen Themas, das bald einem Seitenthema von zärtlicher Lyrik wich. Das Musikkollegium Winterthur unter der wunderbar uneitlen Leitung von Thierry Fischer und die Solistin Gabriela Montero entwickelten einen spannungsgeladenen Dialog. Die Solistin spielte mit einer grandiosen rhythmischen Präzision, technisch herausragend in den rapiden Läufen, den Akkordkaskaden und in der elegischen Ausbreitung des Seitenthemas bestechend sicher und tiefgründig, effektgeladenen Steigerungen zu Recht nicht ausweichend. Mit wunderbaren, dynamisch fein abgestuften und virtuosen Passagen glänzte sie in der Kadenz. Sie suchte immer wieder den Kontakt zum Orchester im Zusammenspiel z.B. mit der Flöte, so dass ein wunderbarer Fluss den Satz durchströmte. Im pastoralen Charakter des zweiten Satzes schimmerten immer wieder wunderbare solistische Passagen von Musiker*innen des Orchesters auf, oftmals untermalt von präzisen Pizzicati der Streicher. Wilde, chromatische Läufe des Klaviers unterbrachen kurz die Idylle, bevor der Satz wieder in Melancholie endete und schnell ins finale Rondo mündete, wo Solistin und Orchester in fulminantem, frohem Wechselspiel badeten und sich am Schluss zum Jubelfinale steigerten, einem Jubel, dem sich das Publikum gerne anschloss.
DURCH KAMPF ZUM SIEG
Brahms kämpfte lange mit der Grossform der Sinfonie, hatte immensen Respekt vor Beethovens Schaffen in dieser Sparte. So kam es, dass er seine erste Sinfonie zwar schon lange im Kopf konzipiert hatte, sie jedoch erst im Alter von 54 Jahren der Öffentlichkeit präsentierte. Thierry Fischer und das Musikkollegium Winterthur intonierten den Kopfsatz mit erfüllter Wärme, ohne allzuviel Pathos zu verströmen, dafür das Ringen, den Kampf, die Zerklüftung hörbar zu machen. Fischer disponierte die Klangblöcke mit homogener Abstufung, ohne den grossen Bogen zu vernachlässigen. Die unaufgeregte, sparsame Zeichengebung dieses Dirigenten ist bewundernswert. Er erreicht damit trotzdem ein Maximum an Ausdruckskraft, stellt sich ganz in den Dienst der Musik. Das Musikkollegium Winterthur spielte den zweiten Satz mit tröstlichem Wohllaut, aber nie zu süsslich. Oboe und Solovioline des Konzertmeisters verströmten eine friedvolle Naturstimmung voller Gesanglichkeit. Im dritten Satz wurde das Klopfen des Schicksals und dessen Kampf gegen die liebliche Grundstimmung des Satzes deutlich herausgearbeitet. Die heiklen Passagen der Hörner gelangen an dieser Stelle nicht immer nach Wunsch, im Finale allerdings glänzten auch die Hörner mit dem an Weber und Schubert angelegten Referenzthema. Auch das von Brahms zitierte Freudenthema aus Beethovens 9. Sinfonie erstrahlte in herrlichemn Glanz und verdrängte alles streckenweise düster heraufdräuen Wollende. So endet die Sinfonie in bejahendem, feierlichem Ton und wiederum begeisterte das Musikkollegium Winterthur mit seinem tröstend warmen Gesamtklang.
ERZÄHLEND
Eingeleitet wurde das Konzert mit Nikolai Tscherepnins Prélude aus der Schauspielmusik zu LA PRINCESSE LOINTAINE. Ein zaghaftes Motiv des Cellos stimmte ein auf sanfte Wellen und übers Meer wehende Sirenengesänge, die Wellen steigerten sich zu Wogen, zeichneten die gefahrenvolle Reise des Ritters zur Prinzessin über die aufgewühlte See. Die wunderbar satten Streicherfiguren des Musikkollegiums Winterthur, sanft bereichert mit Holzbläsern und dezent eingesetztem Blech, evozierten ein plastisches Gemälde, einen wunderbar (spät-) romantischen Klangzauber, von dem man sich sehr gerne in eine leichte Trance versetzen liess - und der neugierig machte auf andere Werke diese Komponisten.
Werke:
Nikolai Nikolajewitsch Tscherepnin (1873-1945) wurde in St.Petersburg geboren, zeichnete sich als Student bei Rimski-Korsakov aus. Dieser regte ihn auch zur Komposition der Schauspielmusik zu LA PRINCESSE LOINTAINE von Edmond Rostand an. Diese entstand 1899. Erzählt wird in diesem Schauspiel die Geschichte der Melisande, einer göttlichen Schönheit aus Byzanz, und des provenzalischen Fürsten und Troubadours Geoffroy. Der Troubadour hat Melisandes Stimme als von den Winden transportiertes Echo wahrgenommen und träumt seither Tag und Nacht von der unbekannten “Perle von Byzanz”. Schliesslich macht er sich auf die Reise dorthin, um ihr seine Liebe darzubringen. Die Reise allerdings erweist sich als gefährlich und entbehrungsvoll. Er erreicht zwar Byzanz, doch so entkräftet, dass er mit einem letzten Seufzer auf den Lippen tot zu Melisandes Füssen zusammenbricht. Edmond Rostands Schauspiel hat nicht überlebt, Tscherepnins Prélude sehr wohl. Als Konzertouvertüre ist das Werk recht beliebt.
Tscherepnin folgte später einem Ruf aus Paris, wurde der Dirigent der ersten Saison von Diaghilews Ballets Russes und danach auch Dirigent von Anna Pavlovavs Ballettcompagnie. Er gründete das russische Konservatorium in Paris und leitete es viele Jahre lang. Zu seinen Schülern zählte auch Prokofiev. 1923 vervollständigte und editierte Tscherepnin Mussorgskys Oper DER JARHMARKT VON SOROTSCHINZY. Sein Sohn Alexander, seine Enkel Ivan und Serge und seine Urenkel Sergej und Stefan wurden ebenfalls renommierte Komponisten.
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893) komponierte sein erstes (und mit Abstand beliebtestes Klavierkonzert) im Jahre 1874. Ursprünglich wollte er es seinem Mentor Nikolai Rubinstein widmen, doch der bezeichnete die Komposition als armselig, vulgär, wertlos, unspielbar. Daraufhin schickte Tschaikowsky das Konzert an Hans von Bülow und bat um sein Urteil. Der befand es als hinreissend in jeder Hinsicht. Und das ist es tatsächlich. Bis heute verfehlt das Schlachtross unter den Klavierkonzerten der Romantik und Spätromantik seine mitreissende Wirkung nie. Bereits der Beginn ist von einer effektvollen, unnachahmlichen Wucht, quasi ein elementares Ereignis. Die Melodie des Orchesters wird vom Klavier mit sich über die gesamte Tastatur erstreckenden Akkorden begleitet. Das Hauptthema, welches dann in b-Moll gehalten ist, erinnert an ein ukriainisches Volkslied. Der zweite Satz beginnt mit einer melancholischen Melodie der Querflöte, welche das Thema des ukrainischen Voksliedes wieder aufnimmt. In der Mitte dieses Satzes wird ein damals bekanntes französisches Chanson (Il faut s' amuser, danser et rire) schnell dahinrauschend verarbeitet. Der dritte Satz, in der Form eines fulminanten Rondos, verlangt viel Tastenakrobatik vom Pianisten, so viel, dass dieser Satz meist in der von Alexander Siloti gekürzten Fassung aufgeführt wird.
Rubinstein hat übrigens seine vernichtenden Worte später bedauert und das Konzert sogar selbst aufgeführt.
Berühmt wurde die Aufnahme mit dem blutjungen Pianisten Van Cliburn von 1961. Dies war die erste Schallplatte aus dem Bereich der klassischen Musik, welche sich über eine Million Mal verkaufte.
Johannes Brahms (1833-1897) hatte bereits 67 Werke veröffentlicht, als er seine erste Sinfonie endlich der Öffentlichkeit vorstellte. Da er ein äusserst selbstkritischer und ehrgeiziger Schaffer war, vernichtete er selbst viele seiner Entwürfe und Werke. So dauerte der Entstehungsprozess der ersten Sinfonie wahrscheinlich an die 16 Jahre. Dazu kam, dass das Geltungswesen der absoluten Musik und ihrer vermeintlichen formalen Enge durch Komponisten wie Liszt und Wagner zunehmend hinterfragt wurde. Die erste Sinfonie wirkt in Brahms' Opus wie eine Art Kirchenportal, die zweite fungiert als liebliches Andantino, die dritte als heiteres Scherzo und die vierte bildet das wuchtige Finale.
Clara Schumann, welcher Brahms immer wieder Entwürfe seiner Kompositionen zuschickte, war vom ersten Satz der ersten Sinfonie „betrübt und niedergeschlagen“ von dessen Schmerzlichkeit. Und tatsächlich, der Satz hat etwas Düsteres – aber in aller Melancholie auch Glanzvolles – an sich. Nach ruhigem Beginn entdeckt man im zweiten Satz etwas störend Bohrendes, oft hinter lieblichen Melodien der Holzbläser versteckt. Mehr Heiterkeit kommt im dritten Satz auf und den vierten hat Brahms selbst mit den Worten „Hoch auf'm Berge, tief im Tal, grüss' ich dich viel tausendmal“ an Clara Schumann gesandt. Es ist ein Satz voller Erhabenheit und Frische, Moll wendet sich zu Dur, Düsternis zu Jubel. Dieses Finale weist unverschleierte Parallelen zu Beethovens neunter Sinfonie auf.