Essen, Aalto Theater: SCHWANENSEE; 20.12.2024
Ballett in drei Akten | Musik: Peter Iljitsch Tschaikowski | Libretto: Wladimir P. Betischew und Wassili F. Gelzer | Uraufführung: 1. Fassung 4. März 1877 in Moskau, 2. Fassung: 27. Januar 1895 in St. Petersburg | Aufführungen in Essen: 14.12. | 19.12. | 25.12. | 27.12.2024 | 4.1. | 18.1. | 26.1.2025
Kritik:
Sie ist schon fast zu schön, um wahr zu sein, diese Produktion (Premiere war 2018) von Tschaikowskis Ballettklassiker SCHWANENSEE. Die beiden weißen Akte sind ein Musterbeispiel an zeitloser Schönheit und bestechend reiner Technik, an Präzision und Synchronität. Traumhaft. Dabei wird stets die elegante, beinahe ätherische Leichtigkeit gewahrt. Ein Riesenkompliment also an die gesamte Compagnie des Aalto Ballett Essen, den Choreografen Ben van Cauwenbergh und Monique Janotta, die für das Coaching der "Weißen Akte" verantwortlich zeichnet. Bernd Hagemeyer hat die Bühne wunderbar klar ausgelichtet, Valeria Lampadova steuerte stimmungsvolle Videosequenzen bei. Das Bühnenbild und die Kostüme von Doris Gal sind von klassisch - romantischer Schönheit: Der erste Akt zeigt den Schlossgarten mit schmiedeeisernem Tor, im Hintergrund der See (Prinz Siegfried und sein Freund Benno kommen gerade vom erfrischenden Bad im See) und eine Hügellandschaft. Der zweite und der vierte Akt spielen am und im See, mit viel Theaternebel, einem riesigen schwarzen Tuch für die Welle, die Siegfried in die Tiefe reisst und fantastischem Licht. Im dritten Akt befinden wir uns in einem prunkvollen, spätgotischen Festsaal. Hier werden die stupend ausgeführten Nationaltänze vorgeführt, einer mit verblüffenderer Akrobatik und perfekterer tänzerischer Souveränität als der andere. Der ungarische Tanz wird angeführt von Marie Van Cauwenbergh und Benjamin Balazs, der spanische von Yusleimy Herrera León und William Emilio Castro Hechevarría, der italienische wird rasant ausgeführt von den zwei Paaren Anna Maria Papaiacovou, Joel Dichter, Sena Shirae und Matheus Barboza De Jesus. Im polnischen Tanz sind es Julia Schalitz und David McMillan Mikkelsen, die ebenso zu begeistern vermögen wie Yuki Kishimoto und Kieren Bofinger im virtuos dargebotenen russischen Tanz. Wie gesagt, da reihte sich eine begeisternde Gala-Performance an die nächste! Eine besondere Freude breitet sich beim Publikum auch immer über den berühmten Tanz der kleinen Schwäne aus: Yusleimy Herrera León, Sena Shirae, Anna Maria Papaiacovou und Yanelis Rodriguez bleiben ihrem Auftritt nichts an verblüffender Beinarbeit auf der Spitze schuldig, genauso wie die beiden großen Schwäne Yuki Kishimoto und Julia Schalitz an Eleganz und schwerelos schwebendem Spitzentanz.
Mariya Tyurina verblüffte und berührte mit ihrer ausserordentlichen Virtuosität, wirkte kalt und berechnend als Odile und mit Eleganz leidend als Odette. Siegfried wurde mit kraftvoller Geschmeidigkeit und raumgreifenden Sprüngen von Moises León Noriega interpretiert, zusammen mit dem quirligen, virtuos tanzenden Benno von Davit Jeyranyan war Siegfried noch von burschikoser Fröhlichkeit zu Beginn des ersten Aktes, doch unter den strengen Blicken seiner Mutter (diese elegante Königin wurde von Yulia Tsoi gespielt, eine sehr pantomimisch angelegte Rolle) wurde er ernster, introvertierter. Der bedrohliche Rotbart war bei David Bassénz bestens (heisst unheimlich) aufgehoben.
Wenn auch das, was man auf der Bühne erleben durfte etwas gar klinisch sauber und somit blutleer war, so erspürte man die ganz großen Emotionen durch die Musik: Das dräute bedrohlich, da stiegen Gänsehaut erregende, spätromantische Schwaden hoch, da wurde Dramatik spürbar. Wolfram-Maria Märtig (er hatte am Vorabend bereits LA FORZA DEL DESTINO geleitet) führte die erneut hochklassig aufspielenden Essener Philharmoniker zu mitreißender Interpretation des SCHWANENSEES, mit vielen herrlich herausgearbeiteten Soli der Holzbläser und transparentem Musizieren in den kammermusikalischen Passagen (z.B. im Russischer Tanz).
Gewählt wurde für diese wirklich schöne, auf der Originalchoreografie von Marius Petipa und Lee Iwanow fußende Produktion das Happy End: Es war alles nur ein böser Traum des Prinzen, Odette und er sind in einer Art von Harfen umspielter Apotheose vereinigt. Nett und familienfreundlich - als Erwachsener hätte ich mir gerne ab und zu ein feines Kratzen im allzu sterilen Getriebe gewünscht. Andererseits ist es natürlich sehr zu begrüßen, dass die Tänzer*innen auch mal wieder zeigen können, was sie in all den vielen Jahren des harten, entbehrungsreichen Trainings gelernt haben und nicht an Choreografen geraten, die ihnen sagen, sie sollen das alles vergessen.
Inhalt:
Der junge Prinz Siegfried soll heiraten. Er aber schätzt seine Freiheit und mag keine Braut wählen, die er nicht liebt. Doch anlässlich seines Geburtstagsfests drängt ihn seine Mutter zu einer baldigen Entscheidung. Als sich die feiernde Gesellschaft verabschiedet hat, bleibt Siegfried alleine zurück und sieht sehnsüchtig einem Schwarm wilder Schwäne nach.
Er folgt den Schwänen zum See. Sein Mentor Rotbart taucht ebenfalls am See auf. Ein Schwan nähert sich und verwandelt sich umgehend in eine schöne Frau, es ist Prinzessin Odette, die einst zusammen mit ihren Freundinnen von Rotbart in Schwäne verzaubert worden ist. Nachts jedoch nehmen sie wieder menschliche Gestalt an. Der Zauberbann kann nur durch ein ewiges, unverbrüchliches Liebesversprechen gebrochen werden. Siegfried beteuert Odette diese Liebe, trotz ihrer Warnungen.
Am nächsten Tag muss Siegfried seine Wahl treffen: Doch keine der anwesenden Prinzessinnen, vermag es, sein Herz zu entflammen. Rotbart ist mit seiner Tochter Odile beim Fest anwesend. Er hat Odile mit seinen Zauberkünsten in ein Ebenbild Odettes verwandelt. Der Prinz ist fasziniert von Odile und tanzt mit ihr. Verblendet hält er um ihre Hand an. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er damit sein Versprechen gegenüber Odette gebrochen hat. Er macht sich auf zum See.
Odette ist bei ihren Schwanengefährtinnen. Sie ist entschlossen zu sterben. Rotbart entfacht vergeblich einen Sturm, um Siegfried vom See zurückzuhalten. Siegfried findet Odette und erlangt ihre Verzeihung, doch am gebrochenen Treuegelübde ändert dies nichts mehr. Gemeinsam wollen sie nun sterben.
Werk:
Trotz der schnell wieder abgesetzten Moskauer Uraufführung erreichte Tschaikowskis SCHWANENSEE Kultstatus, ja das Werk wird gemeinhin als DAS Handlungsballett schlechthin bezeichnet und erlangte nach der Uraufführung der zweiten Fassung in der Choreographie von Marius Petipa schnell eine Verbreitung über alle relevanten Tanzbühnen. An der Musik kann es also nicht gelegen haben, dass das Werk nicht schneller seinen Siegeszug antrat. Tschaikowski war zwar noch relativ jung (35 Jahre alt), als er mit der Komposition begann, doch hatte er bereits drei Sinfonien, ebenso viele Opern und zahlreiche Kammermusik komponiert. Vielmehr lag der Flop darin begründet, dass die Compagnie in Moskau den enormen technischen Ansprüchen nicht genügte. Die Komposition wurde zudem immer wieder durch Einschübe werkfremder Musik entstellt. Auch heute noch kann man den SCHWANENSEE nicht ohne Kürzungen auf die Bühne bringen, da das gesamte, von Tschaikowski stammende, Material das Ballett auf TRISTAN-Länge ausdehnen würde. Nach Tschaikowskis Tod 1893 erinnerte man sich wieder des Werks, führte zunächst den Schwanenakt isoliert auf und hievte schliesslich mit Hilfe des Dirigenten Riccardo Drigo (welcher die Partitur bereinigte) und der beiden Choreographen Lev Ivanov und Marius Petipa eine Fassung auf die Bühne, an welcher sich auch heute noch viele berühmte Choreographen orientieren.
Die beiden Hauptrollen stellen an die Tänzerin und den Tänzer enorme technische und darstellerische Anforderungen; es ist seit der Petersburger Produktion üblich, dass die Primaballerina beide Rollen (Odette, der weisse Schwan verkörpert das Lichte, Unschuldige/Odile, der schwarze Schwan, das Dunkle, Böse) tanzt.
Die berühmtesten Choreographen des 20 und 21. Jahrhunderts nahmen sich des Werks an. Balanchine, Orlikowski, Cranko, Spoerli und Neumeier setzten mit ihren Interpretationen Masstäbe. Sehr erfolgreich und äusserst sehenswert war Matthew Bourne's SWAN LAKE. Er liess sämtliche Rollen (bis auf die Mutter) von Männern tanzen.
Auch im Film wurden Motive und Szenen aus SCHWANENSEE immer wieder verwendet, so z.B. in BILLY ELLIOTT von Stephen Daldry oder in BLACK SWAN von Darren Aronofsky, mit Natalie Portman.