Berlin, Staatsoper: DIE WALKÜRE, 16.10.2022
Erster Tag des Bühnenfestspiels DER RING DES NIBELUNGEN | Musik: Richard Wagner | Textdichtung vom Komponisten | Uraufführung: 26. Juni 1870, Hoftheater München | Aufführungen in Berlin: 16.10. | 30.10.2022 | 5.4. 2023
Kritik:
DIE INSZENIERUNG
Das Experiment (auch Wagner selbst hat in Schriften dieses Wort in Bezug auf seine Werke oft benutzt) geht weiter. DER RING DES NIBELUNGEN ist ja eine Abfolge von Verbrechen und moralischen Entgleisungen, die von Mord über Ehebruch, Inzest, Betrug, Erschleichen von Vermögen, widerrechtliche Aneignung bis zu Verrat führen. In der WALKÜRE nun befinden wir uns in Dmitri Tcherniakovs Inszenierung immer noch im Forschungslabor E.S.C.H.E. Die Direktoren beschäftigen sich in diesem Teil der Tetralogie vornehmlich mit der Verhaltensforschung von Straftätern, insbesondere von Mördern. Denn Mörder sind sowohl Siegmund, wie auch Hunding. Wotan beobachtet den Fortgang des Experiments. Zum stürmischen Vorspiel sehen wir eine Videosequenz einer live im TV übertragenen Flucht eines Straftäters (Siegmund), vor dessen Aggressivitätspotential die Öffentlichkeit gewarnt werden soll. (Das erinnert an den Fall O.J. Simpson oder an Filme wie AUF DER JAGD oder AUF DER FLUCHT.) Siegmund wird in Sieglindes Wohnung gelockt. Hier nun entdeckt der Mörder Siegmund seine empfindsamen Seiten, die Geschwister nähern sich an, werden ein stürmisches Liebespaar - von Wotan arrangiert und am Ende von ihm mit genüsslicher Miene das scheinbar gelungene Experiment quittierend. Inszeniert ist das alles auch mit Humor, etwa wenn Siegmund beim Packen vor der Flucht aus Hundings Haus noch schnell den Kühlschrank plündert oder wenn er sich über das Verhalten der Frau amüsiert, die ihre Kleider in die Einkaufstüte stopft und sich beim Anziehen der Schuhe fast den Knöchel bricht. Dieses hektische Einpacken und die Flucht aus dem Haus wird zum kurzen Vorspiel des zweiten Aktes in horrendem Tempo ausgeführt. Da diese musikalische Stelle nicht allzu ausladend angelegt ist (d.h. dieses Orchestervorspiel ist sehr kurz), stellt sie für Sieglinde und Siegfried schauspielerisch die Herausforderung dar, so viel Action in so kurzer Zeit zu bewältigen. Die beiden schaffen das meisterhaft! Spannend ist auch Hundings Rolle gestaltet, auch er ein Mörder, der anstelle des Gefängnisaufenthalts hier die Chance bekommt, in einem Verhaltungsforschungsexperiment mitzuwirken. Er darf die Rolle eines Sheriffs oder Security-Mitarbeiters übernehmen, der sich nach der Arbeit erst mal die Pantoffeln anzieht. Herrlich wie da das Bild des antiquiert denkenden Macho-Ehemannes kolportiert wird. Im zweiten Akt dann irren Sieglinde und Siegmund zwischen Käfigen mit (lebenden) Versuchskaninchen herum, die beiden sind ja eigentlich auch selbst menschliche Versuchskaninchen. Brünnhhildes Todesverkündigung an Siegfried erfolgt tief unten in Nibelheim, in den nun verlassenen Büros und Werkstätten der Nibelungen. Sieglinde versteckt sich erschöpft unter einem Schreibtisch. Auch hier überzeugt wieder die exakte Personenführung des Regisseurs, wie bewegend ist doch z.B. der Moment gestaltet, wo Siegmund seine Strümpfe auszieht und sie der frierenden Sieglinde über die Füsse streift. Das Duell zwischen Hunding und Siegmund findet bei Tcherniakovs Lesart nicht statt (was ein paar wenigen Zuschauern offensichtlich missfiel), denn da die beiden ja an einem Experiment teilnehmen, greift Wotan als Verantwortlicher so ein, dass er Siegmund der Justiz überantwortet, die aus einem brutalen Schlägertrupp in Uniform besteht. Der dritte Akt mit dem Walkürenritt wird nun als "Auswertung der Feldforschung zur Gewalt" tituliert. Die Namen der Pferde, welche die Walküren da aufzählen werden zu Familiennamen auf den Karteikarten von Verbrechern aus dem Strafarchiv. Erstaunlicherweise geht das alles gut auf, eine blendende Idee des Regisseurs. Herrlich auch, wie die Walküren dazu gelangweilt als salopp gekleidete Wissenschaftlerinnen im Hörsaal sitzen. Mit seinem Auftritt in ebendiesem Hörsaal kann Wotan seiner Wut freien Lauf lassen und sich an den Stühlen des Auditoriums austoben. Aus eben diesen Stühlen schafft sich Brünnhilde eine Art Schutzring und mit ihrem kindlichen Gemüt zeichnet sie mit einem Markierstift selbst die Flammen auf die Stuhllehnen, die sie vor übergriffigen, ihrer nicht würdigen Männern während des von Wotan als Strafe für ihren Ungehorsam verordneten Tiefschlafs schützen sollen. Doch das stärkste Bild folgt während des so genannten Feuerzaubers: Im orange ausgeleuchteten Hörsaal steht Wotan, der Saal fährt langsam nach hinten. Er ist nun der Gefangene, sein Tun hat ihm die Lieblingstochter genommen, das Misslingen all seiner Experimente kündigt sich an. Brünnhilde hingegen steht auf der weiten, leeren Bühne, schaut erst traurig dem Verblassen Wotans nach, hängt sich ihren Rucksack um und blickt zum Publikum. Stark!
DIE MUSIKALISCHE UMSETZUNG
Der für den erkrankten Daniel Barenboim eingesprungene Dirigent Thomas Guggeis wird auch an seinem zweiten Abend mit Jubelstürmen vor jedem Akt empfangen und am Schluss wollen die Bravi-Rufe für ihn und die Staatskapelle kaum enden. In der WALKÜRE kann das Orchester natürlich noch mehr als im RHEINGOLD aus dem Vollen schöpfen. Der Sturm im Vorspiel zum ersten Akt war blitzsauber und prägnant akzentuiert und riss richtiggehend mit. Grandios die Emphase der Aufschwünge zur Untermalung der Geschwisterliebe im ersten Akt, konzentriert die intensive, feinsinnig die Motive herausarbeitende Begleitung des juristischen Geplänkels zwischen Fricka und Wotan, in dem der Gott trotz seiner Spitzfindigkeiten klar den Kürzeren zieht.
Aufwühlend erklang der Walkürenritt und souverän gelang das Auffangen eines kleinen textlichen Hängers einer Sängerin in dieser Szene durch den Souffleur und den Dirigenten, wunderschön und zum Dahinschmelzen liess Guggeis die Staatskapelle Wotans Abschied und den Feuerzauber intonieren.
Michael Volle war eindeutig der Star des Abends. Seine schon beim RHEINGOLD bewunderte Interpretation des Textes und der Gefühlswelten dieses am Ende gebrochenen Herrschers waren phänomenal. Der grosse Monolog im zweiten Akt, dieses Eingeständnis seines Scheiterns gegenüber Brünnhild,e war von einer bewegenden und berührenden Intensität, die sich im Abschied des dritten Aktes fortsetzte. Herzzerreissend sein "Der Augen leuchtendes Paar", in feinstem Piano gesungen bis zur wuchtigen, durch Mark und Bein gehenden, autoritären Warnung: "Wer meines Speeres Spitze fürchte, durchschreite das Feuer nie!"
Anja Kampe klang jugendlich-frisch in den freudigen Hojotoho-Rufen der Auftrittsszene, gestaltete eine wirklich unglaublich bewegende Todesverkündigung und war eine grandiose Anwältin ihrer Rechte in der Auseinandersetzung mit Wotan, in der sie aber auch der Liebe zum Vater und der Empathie mit seiner Zwangslage wunderschönen Ausdruck zu geben vermochte.
Grossartig auch das Geschwisterpaar: Vida Miknevičiūtė sang die Sieglinde mit wunderbar blühender, ja leidenschaftlich lodernder Stimme, ihr "hehrstes Wunder" drang direkt ins Herz. Genauso wie die unglaublich effektvollen, kraftvoll und lang gehaltenen Wälse-Rufe ihres Bruders Siegmund, den Robert Watson mit bewegender Emphase gestaltete. Mika Kares setzte seine mit einnehmendem Timbre ausgestattete Bassstimme mit markanter Gestaltungskraft als Hunding ein und Claudia Mahnke war erneut eine gewichtig und selbstsicher argumentierende Fricka. Einen stimmlichen Hochgenuss boten auch die acht Walküren in der Eröffnungsszene des dritten Aktes: Clara Nadeshdin, Flurina Stucki, Michal Doron, Alexandra Ionis, Annett Fritsch, Natalia Skrycka, Anna Lapkovskaya und Kristina Stanek.
Alle Ausführenden wurden am Ende zu Recht vom stehenden Publikum enthusiastisch gefeiert.
Das Werk:
DIE WALKÜRE bildet den zweiten Teil von Wagners vier Abende umfassenden Werk DER RING DES NIBELUNGEN und ist wie der erste Teil (Vorabend) DAS RHEINGOLD während Richard Wagners Aufenthalt in Zürich entstanden. Unüberhörbar flossen in die Partitur die leidenschaftlichen Gefühle Wagners für seine Mäzenin Mathilde von Wesendonck ein. Es ist dies der “menschlichste” Teil des grossen Epos und damit auch der populärste.
Inhalt des ersten Tages:
Siegmund taucht auf der Flucht vor Verfolgern bei Sieglinde auf. Die beiden Geschwister, Kinder des Göttervaters Wotan, erkennen sich noch nicht. Hunding, Sieglindes ungeliebter Ehemann, tritt auf. Da er ein Feind der Sippe Siegmunds ist, fordert er ihn für den nächsten Tag zum Zweikampf, in dieser Nacht jedoch soll noch das Gastrecht gelten. Sieglinde und Siegmund erkennen sich, Siegmund zieht Wotans Schwert Nothung aus der Esche. Die beiden Geschister lassen ihren Trieben freien Lauf und zeugen den zukünftigen Helden Siegfried.
Wotans Gattin Fricka, die Hüterin der Ehe, kann und will den Ehebruch der Geschwister nicht dulden. Sie verlangt von Wotan, Siegmund sterben zu lassen. Brünnhilde, Wotans kampfeslustige Tochter, stellt sich auf die Seite Siegfrieds und widersetzt sich dem Befehl ihres Vaters. Siegmund stirbt durch Hunding, Hunding anschliessend durch Wotans Hand.
Brünnhilde vermag es noch, der schwangeren Sieglinde zur Flucht zu verhelfen und gibt ihr die Trümmer des Schwertes mit, dann wird sie vom Göttervater gestellt. Als Strafe verliert sie ihren Status als Walküre und wird „menschlich“. Sie erreicht jedoch noch Wotans Zusage, dass nur der unerschrockenste Held sie erwecken können solle. Wotan nimmt bewegt Abschied von seiner Lieblingstochter, dann befiehlt er Loge, den Walkürenfelsen mit Feuer zu umgeben.
Musikalische Höhepunkte:
Der Männer Sippe, Sieglinde, Aufzug I
Winterstürme wichen dem Wonnemond, Siegmund Aufzug I
Todesverkündung, Brünnhilde, Aufzug II
Walkürenritt, Aufzug III
Wotans Abschied und Feuerzauber, Aufzug III