Berlin, Philharmonie: DVOŘÁK, GRIME, BRAHMS, 06.06.2018
Antonin Dvořák: LEGENDEN für Orchester | Uraufführung: 1882 in Prag (Nr. 1-3) und im selben Jahr in Wien (Nr. 2,5,6) | Helen Grime: VIRGA | Uraufführung: 2007 in London | Johannes Brahms: VIOLINKONZERT D-Dur | Uraufführung: 1. Januar 1879 in Leipzig | Dieses Konzert in Berlin: 6. Juni 2018
Kritik:
Eigentlich ist es schade, dass zeitgenössische Kompositionen oft beinahe etwas verschämt zwischen Werken populärer Komponisten des 18. oder 19. Jahrhunderts eingebettet werden müssen, um (aus nachvollziehbaren) pekuniären Gründen das Publikum nicht zu verschrecken. Oft werden dann auch nur ganz kurze Werke des 20. oder 21. Jahrhunderts gewählt. Dieses Vorgehen hat dann manchmal einen Anstrich von „unterjubeln“. So geschehen auch in diesem Programm des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin gestern Abend in der Philharmonie mit Helen Grimes knapp sieben Minuten dauerndem Orchesterstück VIRGA (zu Gehör gebracht zwischen Dvorák und Brahms). Dabei bräuchte sich das ziemlich erfolgreiche Werk (entstanden 2007) eigentlich gar nicht zu verstecken, denn die Musik ist in ihrem Schillern, ihrem Auskosten der Extreme (Höhen und Tiefen) der Orchesterfarben, der aparten Instrumentation und der Agogik dem Ohr überaus zugänglich. In der (wie stets) überaus interessanten Konzerteinführung sprach die erfreulicherweise anwesende Komponistin Helen Grime mit Habakuk Traber über das Werk. „Virga“ beschreibt ja eigentlich ein Wetterphänomen, nämlich das Verdunsten des Niederschlags, bevor er auf dem Boden auftrifft. Am Himmel bilden sich dann eine Art riesige Kommata. Die glitzernden Kaskaden der Holzbläser zu Beginn zusammen mit den tiefen, rauen, ein Fundament bildenden Tönen der Kontrabässe erinnerten die Komponistin an diese atmosphärische Erscheinung, daher der Titel des Stücks. Erwähnenswert sind auch die Einbettung des umfangreichen Schlagwerks, die an Schostakowitsch gemahnenden Kantilenen der Celli, das reine Unisono der ersten Geigen, untermalt von Harfe und Celesta, wunderschön gespielt von den Musiker*innen des DSO unter der Leitung seines Chefdirigenten Robin Ticciati, dem die Werke der schottischen Komponistin besonders am Herzen zu liegen scheinen. Anders als im Programmheft angekündigt spielte man Grimes VIRGA nach und nicht vor der Pause. Es wäre begrüßenswert gewesen, die kurze Komposition vor UND nach der Pause zu präsentieren, so hätte man das Ohr der Zuhörer*innen noch mehr für diese spannende Musik öffnen können.
Vor der Pause erklangen Antonin Dvoráks selten aufgeführte LEGENDEN, welche er selbst für Orchester instrumentiert hatte, die jedoch zu seinen Lebzeiten nie in ihrer Gesamtheit aufgeführt worden waren. Beeindruckend war die Plastizität der Gestaltung, welche Robin Ticciati (der kaum einen Blick in die Partitur zu werfen brauchte) diesen kurzen, eher selten gespielten Stücken angedeihen ließ. Die unterschiedlichen Stimmungen, die er mit dem bestens disponierten Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zu evozieren vermochte, waren tief beeindruckend. Satte Streicher, wunderschön intonierende Hörner (in Nr. IV kamen auch noch zwei Trompeten dazu) poetische Einwürfe der Holzbläser. Diese zehn LEGENDEN erzählen uns naturnahe Geschichten, ohne dass sie mit Worten oder konkreten Handlungen unterlegt werden müssten, Dvorák gelingt dies allein mit der Ausdruckskraft seiner Musik. Ticciati und das DSO schafften es vorzüglich, dass man so richtig beseelt in die Musik versinken konnte, sich schwelgerischen Naturromanzen und Serenaden hingeben konnte, spannenden musikalischen Dialogen und Echowirkungen zwischen Instrumentengruppen lauschte, sich tänzerisch wiegte, sanften Parlandi und heiteren Passagen zuhörte. Ab und an schlichen sich auch düstere, mystische Klänge und Nebelstimmungen in die kurzen Stücke, doch immer wurde man mit dolcissimo intonierten Stimmungen schnell wieder besänftigt. Beeindruckend war die Transparenz der Interpretation, die Ticciati und das DSO den elegischen Melodieführungen angedeihen ließen.
Den umjubelten Höhepunkt des Abends bildete natürlich Brahms’ Violinkonzert mit der georgischen Stargeigerin Lisa Batiashvili (sie spielt auf einer Guarneri del Gesù). Nur schon die Vehemenz ihres Einstiegs in das grandiose Violinkonzert von Brahms ließ aufhorchen. Da war eine Kraft spürbar, ein bestimmender Gestaltungswille, mit stupenden Läufen, die schwierigen Doppelgriffe mit einer fulminanten, intonationssicheren, wunderschön flirrenden Leichtigkeit ausführend. Herrlich wie sie das elegische Seitenthema umspielt, in zarten Verästelungen weiterspinnt, dann wieder attackierend und zupackend agiert, oder zu lyrischem Tonfall wechselt. Spannungsgeladen wird auf die Kadenz zugesteuert, einer Kadenz, die es in sich hatte, denn Lisa Batiashvili wählte für dieses Konzert die Busoni-Kadenz von 1913, welche tiefgründig von der Pauke untermalt wird, ein Stück im Stück, das einen fast vom Sitz riss. Herrlich sauber Batiashvilis aufsteigende Triller, atemberaubend die Virtuosität, von grandioser Wirkung die kraftvollen Schlussakkorde. Während der langen, wunderschön vorgetragenen Oboen- Einleitung des Adagios konnte sich die Solistin etwas erholen, bevor sie dieses Thema dann mit berückend sauberer Tongebung aufnahm, ihm eine berührende Gesanglichkeit beimischte. Im abschließenden Allegro giocoso verblüffte Lisa Batiashvili erneut mit stupenden Fiorituren und leuchtenden Trillern, gab geschmeidig den Ton an, der von Orchester und Dirigent rasant aufgenommen wurde. Beinahe orkanartiger Jubel des Publikums folgte, für den sich Solistin und Orchester mit einer sanften, feinsinnigen Zugabe (von Johann Sebastian Bach "Ich ruf zu dir" BWV 639, in einer Bearbeitung für Solovioline und Streicher von Anders Hillborg) bedankten und das Publikum beglückt in den lauen Abend entließen.
Werke:
Antonin Dvořák komponierte seine LEGENDEN ursprünglich für Klavier zu vier Händen. Die Komposition dieser zehn kurzen Stücke fiel in die Zeit der Entstehung seiner sechsten Sinfonie. Noch im selben Jahr (1881) erstellte er ein Arrangement der LEGENDEN für Orchester. Die Komposition ist ausgerechnet dem scharfzüngigen Wiener Kritiker Eduard Hanslick gewidmet, einem vehmenten Gegner der sogenannten „Programmmusik“. Wie oft in seinen Werken verbindet Dvořák folkloristische Weisen mit romantischem Klang. Harmonisch geht der tschechische Komponist in dieser Komposition hoch interessante, experimentelle Wege.
Helen Grime kam 1981 in York, England, zur Welt. Mit ihren Eltern zog sie dann nach Schottland zurück, lernte Oboe und begann bereits im Alter von 12 Jahren mit dem Komponieren. VIRGA schuf sie als Auftragswerk für das London Symphony Orchestra 2007, zwei Jahre später war es auch anlässlich der proms zu hören. Das DSO schreibt dazu auf seiner Webseite: „Hinter dem Titel des Orchesterstücks ›Virga‹ steckt ein Naturschauspiel, bei dem Regen aus den Wolken tritt, zur Erde fällt und noch vor dem Bodenkontakt zerstäubt. Helen Grime illustriert dieses zauberhafte Spektakel mit rasanten Klangkaskaden und glitzernden Tonspielereien über einem schweren Basschoral. Natur wird zum Klang.“
Johannes Brahms (1833-1897) komponierte nur ein einziges Konzert für Solovioline und Orchester. Auffallend ist auch die gleiche Tonart wie bei Beethovens Violinkonzert, die traditionelle Dreisätzigkeit (schnell – langsam – schnell), die klassische Formgebung mit dem langen ersten Satz und den beiden kürzeren Folgesätzen, die zusammen in etwa die Länge des Kopfsatzes erreichen, ähnlich wie bei Beethoven (und auch bei Bach). Und wie Beethoven geht es auch Brahms darum, den Solopart in ein sinfonisches Gesamtbild einzubetten. Häufig umspielt der Solist begleitend das Orchestergeschehen, aber immer wieder auferlegt Brahms dem Solisten auch die Führung. Für den mit anforderungsreichen Schwierigkeiten gespickten Solopart hatte sich Brahms immer wieder Rat beim Geiger Joseph Joachim geholt. Joachim brachte das Werk auch unter Brahms' Leitung zur Uraufführung. Das Konzert zeigt den sonst oft als sehr ernst und introvertiert bezeichneten Komponisten von einer eher heiteren Seite. Vor allem der Finalsatz mit seinen ungarischen Weisen und dem tänzerischen Charakter unterstreicht diese Heiterkeit. Der zweite Satz wird von einer bekannten Oboenmelodie eingeleitet, welche erst später von der Solovioline aufgenommen und variiert wird. Dies führte auch zu einer Kontroverse: So soll sich der Virtuose Pablo de Sarasate geweigert haben, das Konzert zu spielen, da die einzige nennenswerte Melodie nicht dem Solisten, sondern der Oboe vorbehalten sei ... .