Berlin, Deutsche Oper: LA DAMNATION DE FAUST, 20.10.2018
Dramatische Legende in vier Teilen | Musik: Hector Berlioz | Libretto: Gérard de Nerval, Almire Gandonnière, Hector Berlioz | Uraufführung: 6. Dezember 1846 in Paris (konzertant) | Aufführungen in Berlin (Wiederaufnahme): 12.10. | 17.10. | 20.10.2018
Kritik:
Beeindruckt ist man bereits, wenn man den Zuschauersaal der Deutschen Oper Berlin betritt: Das Orchester stimmt seine Instrumente nicht im Graben versteckt, sondern ist trichterartig aufsteigend aus dem Orchestergraben heraus platziert. So sieht man auf der linken Seite ganz oben die Holzbläser, rechts dominieren vier (!) Harfen. Nur die Streicher bleiben für den Zuschauer im Parkett in den Tiefen des Grabens verborgen. Akustisch muss sich dann das Ohr erst an diese Aufstellung gewöhnen. Zwar hört man die vom Orchester der Deutschen Oper Berlin brillant intonierten Bläserpassagen von Holz und Blech mit ganz neuen Ohren, kann die Glissandi und Pizzicati der Harfen optisch und akustisch voll genießen, doch vermisst man manchmal auch etwas die warme Grundierung des Streicherklangs, welche zugunsten der Bläser (wenigstens vom Parkett aus) etwas in den Hintergrund gerückt wird. Nichtsdestotrotz badet man natürlich mit Hochgenuss in der ausgefeilten und opulenten Instrumentationskunst Berlioz’, welche vom Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung seines GMD Donald Runnicles mit der gebotenen Brillanz und Finesse erklingt.
Diese Aufstellung des Orchesters hat jedoch auch ihre Tücken: Die Balance ist eindeutig zugunsten des Orchesters verschoben, es braucht also starke, tragfähige Stimmen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Roberto Tagliavini als Méphistophélès hatte mit seiner balsamisch-verführerisch-sonoren Bassstimme damit keine Probleme, intonierte wunderbar geschmeidig, diabolisch und sarkastisch – eine zu Recht umjubelte Glanzleistung. Auch der wunderschön gefärbte, mit einem aparten Vibrato ausgestattete Mezzosopran von Irene Roberts als Marguerite vermochte zu berühren, sowohl mit ihrer Erzählung des Roi de Thulé als auch mit der grandios und fein ausgehorcht gestalteten Arie D’amour l’ardente flamme. Sehr schön war die Idee, die Musikerin mit dem Englischhorn (ganz hervorragend gespielt von Chloé Payot) mit auf die Bühne zu integrieren! Problematischer war es für den Tenor: John Irvin sprang erst wenige Tage vor Beginn dieser Wiederaufnahmeserie für den Startenor Klaus Florian Vogt ein. Irvin (blendend aussehend als romantisch verträumter und verblendeter Faust) verfügt über eine wunderschön ebenmäßig timbrierte Stimme, leicht und sauber ansprechende Höhe, tolle Phrasierung. Aber die Aufstellung des Orchesters und vor allem der offene Bühnenraum (bereits Elisabeth Schwarzkopf hatte diese Art von Bühnenbild als erheblich sängerunfreundlich moniert) gereichten ihm im ersten und vierten Teil zum Nachteil, was ihm einige wenige Zuschauer beim Schlussapplaus übelnahmen und es nicht unterlassen konnten zu buhen. Allerdings schienen diese Zuschauer nicht realisiert zu haben, dass Irvin in den intimeren Szenen des zweiten und dritten Teils (in seiner Studierstube und in Marguerites Zimmer) seine lyrischen Qualitäten durchaus offenbaren konnte. Zudem ist es ihm hoch anzurechnen, dass er auf der offenen Bühne nicht der Versuchung erlag zu forcieren. Klug gemacht. So wird ihm seine schöne Stimme auch viel länger mit ihrem weichen, dem französischen Idiom so exzellent entgegenkommenden Ansatz lange erhalten bleiben. Man würde diesem Sänger gerne in einem vielleicht etwas intimeren Theater als der DOB und in einem sängerfreundlicheren Bühnenbild jedenfalls gerne wieder begegnen.
Verantwortlich für diese Bühne (und auch für die vornehmlich schwarzen, aber mit witzigen Farbakzenten versehenen Kostüme) zeichnete Emma Ryott. Sie ließ eine kreisrunde, schräggestellte, gigantische Scheibe auf die Drehbühne der DOB bauen. Imposant anzusehen und von Regisseur Christian Spuck spannend und intelligent bespielt (Premiere war im Februar 2014). Spuck, der am Opernhaus Zürich seit 2012 sehr erfolgreich als Ballettdirektor amtiert, hat Berlioz’ so oszillierend zwischen weltlichem Oratorium und Symphonie dramatique schwankendes Werk (das eigentlich gar nie für die Bühne gedacht war) spartenübergreifend inszeniert. Die Tänzerinnen und Tänzer kommentieren das Bruchstückhafte, Episodische der Handlung mal mit Ironie, mal mit Konterkarikatur. Das ist alles sehr geschickt verwoben, zurückhaltend, ohne über das Fragmentarische der Vorlage gestülpte Handlung (wie es zum Beispiel Terry Gilliam 2017 – ebenfalls in Berlin, aber an der Staatsoper – getan hatte). So gelingen Spuck ganz starke Bilder, etwa beim Rákóczi-Marsch, wo aus den niedlich daherstapfenden Zinnsoldaten plötzlich eine Horde vergewaltigender Männer wird (befremdlich nur, dass der einzige Zwischenapplaus in der pausenlos gespielten Vorstellung ausgerechnet hier aufbrandete ...), oder in der revueartigen Höllenfahrt und im Pandämonium. Struktur erhält die Inszenierung durch das Drehen der Scheibe, welches dann die intimeren Szenen quasi im Unterbau des erhöhten Teils der Scheibe ohne Umbaupausen ermöglicht. Herabfahrende Leinwände werden für Jan Joost Verhoefs genial konzipierte Videokunst genutzt. Herausragend sind da die sich zunehmend skelettierenden Pferde von Méphistophélès – wahrlich gespenstisch. Großartig auch die Gestaltung des Lichtdesigns von Reinhard Traub und Ulrich Niepel. Spuck gelangen natürlich mit seinem gewohnt vielseitigen Bewegungsvokabular auch bezaubernde Choreographien, so der Tanz der Geister oder die bezaubernden Irrlichter. Immer wieder wurde neben allem Revueartigen auch die Magie der schwarzen Romantik beschworen, Méphistophélès agierte als smarter Puppenspieler, zog subtil die Strippen. Sternenhimmel und Miniatur-Fachwerkhäuschen sorgten für stimmungsvolle Momente. Herrlich auch die Szene mit den geifernden Nachbarinnen, die ihre langen Pappnasen in Dinge steckten, die sie nichts angingen. Da konnte denn auch der wunderbar agierende Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines) zeigen, was er darstellerisch und stimmlich so alles draufhatte, genauso wie in der exakt wiedergegebenen Amen-Fuge in Auerbachs Keller. Als Brander konnte dort Byung Gil Kim noch nicht so restlos überzeugen, das war etwas zu brav gehalten. Am Ende sind wir wieder da, wo alles angefangen hatte: Tisch und Stuhl stehen auf der riesigen Scheibe, die beiden Balletttänzer stellen erneut die zwei Seelen, die ach in meiner Brust wohnen, dar. Nur Faust fehlt nach dem Höllenritt. Dafür nimmt nun Méphistophélès seinen Platz ein – und wartet bestimmt auf sein nächstes Opfer. Da liegt wohl des Pudels Kern.
Inhalt:
Faust erwacht in der Puszta-Landschaft Ungarns. Er preist den Frieden und die Einsamkeit und singt einen Hymnus auf den Frühling. Weder die fröhlichen Gesänge der Bauern noch der mitreissende Rakoczy-Marsch vermögen Faust aus seiner Schwermut zu reissen.
In seinem Arbeitszimmer führt Faust einen Giftbecher zum Mund. Das Ostergeläute erklingt, Engelsstimmen singen vom Auferstandenen. Faust ist seltsam berührt: „Die Erde hat mich wieder....“ Mephisto erscheint und führt ihn in Auerbachs Keller. Doch die drolligen Trinklieder der Studenten beeindrucken Faust nicht. Am Ufer der Elbe ruft Mephisto Luft- und Erdgeister herbei. Diese erschaffen für Faust ein bezwingendes Traumbild von überirdischer Schönheit und Kraft. Darin sieht Faust Margarethe. Mephisto führt ihn zu ihr. Faust verbirgt sich hinter einem Vorhang. Margarethe singt das Lied vom „König von Thule“. Mephisto ruft die Irrlichter herbei. Es folgt das grosse Liebesduett Faust-Margarethe, begleitet vom Spott Mephistos.
Den letzten Teil leitet die grosse Arie der von Faust verlassenen Margarethe D'amour l'ardente flamme ein, gefolgt von Fausts Anrufung an die Natur. Mephisto schildert Faust die bevorstehende Hinrichtung Margarethes. (Sie hat ihre Mutter umgebracht.) Falls Faust sich ihm komplett verschreibt, will Méphistophèles die Vollstreckung verhindern. Am Ende durchleben wir die aufwühlend-grandiose Höllenfahrt Fausts, kontrastiert von Engelsstimmen, welche Margarethe Erlösung verheissen.
Werk:
Hector Berlioz (1803-1869) wollte ursprünglich eine der damals üblichen Grand Opéras schaffen. Tatsächlich enthält seine Faust-Version alle dafür notwendigen Ingredienzen: Grosse Chöre, tableau artige Szenen, immenser Aufwand an orchestralen und vokalen Mitteln, vielfältige Schauplätze, tänzerische Intermezzi. Durch den Verzicht auf eine geschlossene, dramaturgisch durchgearbeitet aufgebaute Handlung entstand jedoch nicht eine Oper im herkömmlichen Sinne, sondern bezwingend intensiv durchgestaltete, epische Einzelbilder, eine Art Kolossalgemälde, aufgeteilt in kontrastreiche, ungemein fortschrittlich und exzessiv instrumentierte musikalische Szenen mit hoch illustrativer Erzählkraft.
„Ich betrachte dieses Werk als eines der besten, die ich hervorgebracht habe ...“ , schrieb Berlioz in seinen Memoiren. Trotzdem führte die Uraufführung an der Opéra-Comique in Paris zu einem finanziellen Desaster für den Komponisten. Zu seinen Lebzeiten wurde das Werk (nach nur zwei Aufführungen) nicht kaum gespielt. Erst 1893 folgt in Monte Carlo eine erste szenische Aufführung. Doch bis heute sind szenische Aufführungen von Berlioz' Werk (ganz im Gegensatz zu Gounods FAUST oder Boitos MEFISTOFELE) selten geblieben.