Basel: IDOMENEO, 12.04.2013
Dramma per musica in drei Akten | Musik: Wolfgang Amadeus Mozart | Libretto : Giambattista Varesco | Uraufführung: 29. Januar 1781 in München | Aufführungen in Basel: 12.4. | 14.4. | 16.4. | 18.4. | 21.4. | 26.4. | 28.4. | 8.5. | 12.5. | 20.5. | 28.5. | 30.5. | 1.6. | 3.6. | 5.6. | 7.6.2013
Kritik:
Es ist schon erstaunlich – da dauert ein Opernabend beinahe vier Stunden (inkl. 2 Pausen) und kommt einem in keinem Moment lange vor. Man ist ganz im Bann von Mozarts dramatischer Charakterisierungskunst, seinen weit über seine Zeit herausragenden kompositorischen Einfällen, dem zupackenden, jugendlichen Elan seiner grandiosen Partitur. Dass dieser immense Spannungsbogen nie abbricht ist in erster Linie das Verdienst von Dirigent Andrea Marcon und dem La Cetra Barockorchester Basel, welche die eigentlich statische Opera seria mit leidenschaftlichem Impetus zu packendem Leben erwecken. Das Orchester spielt mit wunderbarer Farbigkeit und kontrastreicher Transparenz des Klangs, bringt die Stum- und Desaster-Szenen zu überaus plastischer Wirkung, untermalt die Seelen- und Liebesqualen Ilias und Idamantes mit einfühlsamer Begleitung, verstärkt den Furor Elettras und die psychischen Zerreissproben zwischen Religion, Vaterliebe und Macht des Titelhelden. Ein exzellentes Ensemble von Sängerinnen und Sängern steht dem Theater Basel für diese Produktion zur Verfügung: Als Idomeneo begeistert Steve Davislim mit seinem ebenmässig timbrierten Tenor, virtuos gesetzten Koloraturen in der grossen Arie des zweiten Aktes Fuor del mar und Empfindsamkeit in der Phrasierung. Er ist zum Glück kein Kreterkönig, der die mozartschen Linien forcieren muss, sie scheinen mit natürlicher, dosierter Kraft und sublimem Wohlklang seiner Kehle zu entströmen. Sein Sohn Idamante, welcher ja lange Zeit über die Hintergründe der väterlichen Liebesverweigerung im Ungewissen gelassen wird, reift vom Teenager zum jungen Mann: Solenn' Lavanant-Linke gestaltet dieses (den Jüngling überfordernde) Erwachsenwerden mit überaus einnehmender Stimme und vereint sich mit Laurence Guillods (Ilia) zart und mit fabelhafter Intensität blühendem Sopran zum zauberhaften Duett im dritten Akt (S'io non moro a questi accenti). Beide Sängerinnen verkörpern die problematische Liebesbeziehung der durch ihre Lebensumstände (beinahe eine Art politischer Romeo/Julia-Situation) mit einer überaus glaubwürdig gespielten Unbeholfenheit von Pubertierenden und gestalten ihre Arien mit bewegender Empfindsamkeit. In Basel hat man sich entschieden, einige Striche, welche Mozart kurz vor der Münchner Uraufführung vornahm, wieder zu öffnen und dafür die Ballettmusik wegzulassen. Eine kluge Entscheidung, denn nun kommt man in den Genuss von Elettras fulminanter Arie D'Oreste, d'Ajace im dritten Akt – und wenn man dann noch eine Elettra vom Kaliber einer Simone Schneider zur Hand hat, ist diese Arie wahrlich Pflicht.RASEND!!! Nach der betulichen Verzückung, in welche die anderen Figuren nach der Besänftigung des Ungeheures verfallen sind, folgt Elettra mit einem dramatischen Rezitativ und einer der furiosesten Arien aus Mozarts Feder. Simone Schneider bleibt dieser archaisch daherkommenden Figur (könnte auch aus einer altertümlich-verstaubten Inszenierung von Richard Strauss' ELEKTRA stammen, inklusive vergrabenem Beil) nichts an Raserei in darstellerischer (vom christliche Grabkreuze verkehrt rum in die Gräber von Ilias Angehörigen Rammen bis zum Aufschneiden der Pulsadern) und vor allem stimmlicher Hinsicht (irres Lachen in der Koloratur) schuldig! Karl-Heinz Brandt gibt einen wunderbar zwielichtigen Arbace, mit grossartiger Bühnenpräsenz, obwohl er oft im Rollstuhl sitzen muss. Alexey Birkus wirft seine Orakelsprüche mit herrlich sonorer Resonanz aus dem Off in den Raum, Hans Schöpflin überzeugt als besorgter Gran Sacerdote. Der Chor des Theaters Basel erfüllt seine dramatisch fordernde Rolle mit kraftstrotzender Verve (Einstudierung: Henryk Polus).
Begeistert wurde vom Premierenpublikum auch die Inszenierung von David Bösch in der Ausstattung von Patrick Bannwart (Bühne) und Falko Herold (Bühne und Kostüme) aufgenommen. Bösch gelingt dabei das Kunststück, die Geschichte quasi als Sandkastenspiel (Vorgeschichte) beginnen zu lassen (Videoprojektionen während der Ouvertüre und im weiteren Verlauf der Oper von Falko Herold) und dann den Bogen von einer Aufführung, welche zeitweise wie ein unbeholfenes Schülertheater anmutet, mit hilflos ihren Liebesqualen ausgesetzten Teenagern und viele bunte Smarties spendendem Meeresgott (das soll jetzt nicht despektierlich klingen, denn das war äusserst kunstvoll gemacht!) zum grossen, religionskritischen Welttheater zu spannen. Der kretisch-antike Vater-Sohn Konflikt wird auf die christliche Ebene gehoben (Gottvater-Jesus). Das mag etwas gar dick aufgetragen sein, ebenso wie die Verweigerung des lieto fine, des versöhnlichen Endes. Elettra begeht Selbstmord, Idomeneo kommt mit dem Verlust der Macht nicht zurecht und stirbt an einer Überdosis Tabletten, Idamante ist mit der neuen Rolle überfordert und bricht zusammen, Ilia sinkt in ihrem blütenweissen Brautkleid entseelt zu Boden, die Masse (blutverschmierte Brautpaare) steht orientierungslos auf dem Hügel von Golgatha – die Religion hat als humanistische und zivilisatorische Orientierungshilfe ein Totalversagen zu vermelden.
Das Theater Basel hat in den vergangenen 25 Jahren für den IDOMENEO stets überzeugende szenische und musikalische Lösungsansätze finden können (1988: Armin Jordan / Jean Claude Auvray – Philippe Langridge in der Titelaprtie, 2001: Julia Jones/ Nigel Lowery – Keith Lewis in der Titelpartie und nun Andrea Marcon / David Bösch – Steve Davislim in der Titelpartie). Kompliment!
Inhalt:
Die trojanische Königstochter Ilia (Tochter des Priamus) wurde als Kriegsgefangene nach Kreta verschleppt. Zwar sehnt sie sich nach ihrer Heimat, doch zugleich ist sie in heftiger Liebe zum kretischen Prinzen Idamante entbrannt.
In letzter Sekunde aus grosser Seenot gerettet, verspricht der kretische Herrscher Idomeneo dem Meeresgott Poseidon, ihm das erste Lebewesen zu opfern, welches ihm am Strand begegnen wird. Es ist sein Sohn Idamante … Idomeneo begegnet ihm kühl. Er sucht bei seinem Vertrauten Arbace Rat, um nicht zum Mörder seines Sohnes zu werden.
Die mykenische Königstochter Elektra lebt ebenfalls auf Kreta, auch sie ist in Idamante verliebt. Idamante soll Elektra nun nach Hause führen und so seinem grausigen Schicksal entkommen. Doch der wutentbrannte Meeresgott lässt sich nicht so leicht täuschen und vernichtet die auslaufende Flotte. Idomeneo bietet sich selbst als Opfer dar, um seinen Sohn zu verschonen.
Idamante zieht in den Kampf gegen das von Poseidon gesandte Meeresungeheuer. Ilia gesteht ihm ihre Liebe. Elektra und Idomeneo fordern den Prinzen erneut auf, Kreta zu verlassen. Auf Drängen des Volkes gibt Idomeneo den Namen des geforderten Opers preis: Es sei Idamante, sein eigener Sohn, welcher soeben das Ungeheuer besiegt habe.
Die Opferung wird vorbereitet. Ilia will sich vor die Klinge werfen. In diesem Augenblick verkündet das Orakel, dass Poseidons Zorn besänftigt sei, wenn Idomeneo die Krone an seinen Sohn abgebe und Ilia Königin werde.
Werk:
IDOMENEO gehörte lange Zeit zu den wohl am häufigsten unterschätzten Werken der Opernliteratur. Erst in den letzten dreissig Jahren erfuhr das Werk dank den Bemühungen von Nikolaus Harnoncourt (und anderer Dirigenten wie Minkowski und Gardiner) seine ihm zustehende Beachtung und Wertschätzung. Ausgehend von Glucks Reformopern, den tragédies lyriques, schuf Mozart eine Symbiose dieser mit der opera seria. Der 24-jährige Meister wertete die Dreiecksgeschichte Ilia-Idamante-Elektra durch die Dramaturgie von Spannung und Entspannung, der als chiaroscuro (hell-dunkel) bezeichneten Technik, unendlich auf. Der Chor spielt in diesem Werk eine so bedeutende Rolle wie in keiner seiner anderen Opern, er ist der Auslöser für die Verlagerung der Handlungsebenen von den privaten Konflikten (Vater-Sohn, Liebe-Eifersucht-Enttäuschung) ins allgemein Politische. Grosse Kraft entfalten die Rezitative und die Ensembles, welche die Personen eindringlich charkterisieren. IDOMENEO stellt damit eine bedeutende Schnittstelle zwischen alter opera seria und einem moderneren, die Figuren psychologisch durchdringenderen Musiktheater dar.
Wenn man Mozarts IDOMENEO auf den Spielplan setzt, stellt sich unweigerlich die Frage nach der zu spielenden Fassung. Mozart selbst hatte kurz vor der Münchner Uraufführung noch Striche - wegen schlechter Sänger, aus zeitlichen oder dramaturgischen Gründen - vorgenommen, welchen zum Teil wunderbare Arien v.a. im dritten Akt zum Opfer fielen. Heute ist es üblich, diese Fassung von 1781 zu spielen, manchmal mit, manchmal ohne Ballett, manchmal mit, manchmal ohne Elektras fulminante Arie D'Oreste, d'Aiace.
Zur Ballettmusik: Seit Rameau hatte es kein Komponist mehr verstanden, das Ballett musikdramatisch so überzeugend in eine Oper einzubinden, wie es Mozart in IDOMENEO gelungen ist. Durch musikalische Motivverbindungen integrierte Mozart diese die Akte beschliessenden Tanznummern in den dramaturgischen Ablauf. Diese Balletteinlagen waren z.B. in den Zürcher Aufführungen zu hören und zu sehen.
Vater Leopold hatte seinen Sohn Wolfgang ermahnt, nicht nur an das musikalisch gebildete Publikum zu denken, sondern auch „populär“ zu komponieren. Sohn Wolfgang schrieb zurück: „...in meiner Oper ist Musick für aller Gattung leute;- ausgenommen für lange ohren (Esel) nicht.“ (Brief vom 16.12.1780)
Dem bleibt nichts hinzuzufügen ...
Musikalische Höhepunkte:
Padre, germani, addio, Arie der Ilia, Akt I
Tutte nel cor vi sento, Arie der Elektra, Akt I
Se il padre perdei, Arie der Ilia, Akt II
Fuor del mar, Arie des Idomeneo, Akt II
Idol mio, se ritroso, Arie der Elektra, Akt II
Pria di partir, Terzett Idomeneo, Idamante, Elektra, Akt II
Andrò ramingo e solo, Quartett Idamante, Ilia, Elektra, Idomeneo, Akt III
D'Oreste, d'Aiace, Arie der Elektra, Akt III
Ballett (Chaconne) KV 367, Schluss Akt III