Zürich: WINTERREISE (Ballett), Wiederaufnahme, 13.02.2021
Ballett von Christian Spuck | Uraufführung; 13.10.2018 in Zürich | Musik von Hans Zender / Franz Schubert, nach dessen Liedzyklus DIE WINTERREISE | Live Streaming der Wiederaufnahme: 13.2.2021
Kritik des Livestreams dieser Wiederaufnahme:
Man sagt (schreibt) es ja nicht so gerne, gerade in diesen Zeiten, doch der Stream der Wiederaufnahme von Christian Spucks genialer Choreografie zur WINTERREISE von Schubert/Zender wirkt am Bildschirm noch berührender und aufregender als vor gut zwei Jahren live im Opernhaus. Denn durch das Bildschirmerlebnis ist man noch näher dran an den herausragenden Tänzerinnen und Tänzern des Balletts Zürich, siehr noch mehr Details der unglaublich vielfältigen und differenzierten Bewegunssprache, welche sich der Choreograf zur bewegenden Musik Schuberts und der nicht weniger feinfühligen Bearbeitung durch Hans Zender ausgedacht hatte, eine Musik und ein Text, die den Zürcher Ballettchef zu einer seiner wohl besten Arbeiten für die Zürcher Compagnie inspiriert hatten, und für die er seinerzeit zu Recht mit dem renommierten Prix Benois de la Danse ausgezeichnet worden war. Gerade die vielen intimen Momente der Choreografie von Christian Spuck entfalten in den Nahaufnahmen ihre magische und unheimliche Wirkung, man kann die erstarrten Ausdrücke auf den Gesichtern der Tänzer*innen sehr genau nachvollziehen, wird in die Seelenqualen hineingezogen, obwohl die Choreografie nicht ein Narrativ verfolgt – in meiner Premierenkritik von 2018 hatte ich von einem Gesamtkunstwerk geschrieben (Link unten) und auch bei der zweiten Begegnung bestätigt sich dieser Eindruck. Die bleiche Figur des Mannes (Jan Casier) und die rätselhafte Frau mit der Augenbinde (Giulia Tonelli) durchziehen mit ihrer unglaublichen darstellerischen Ausdrucksstärke den Liedzyklus, tauchen immer wieder auf, berühren mit Fragilität und Leid, aber auch mit Agilität und Kraft. Zu Beginn löst sich der Sänger (hervorragend Maruo Peter mit seinem wunderschön timbrierten und sauber und ausdrucksvoll geführten Tenor) von Jan Casier, steigt hinab in den Orchestergraben. Manchmal erscheint er zu einem Lied wieder kurz auf der Bühne. Am Ende folgt er der Frau (Giulia Tonelli) ins Ungewisse. Besonderes Augenmerk verdienen die unglaublich schön getanzten Pas de Deux und Kleingruppentänze, welche eine grosse Reihe an Stimmungen ausdrücken. Haften bleibt das reichhaltige Bewegungsvokabular, welches von Giulia Tonelli und Lucas Valente, von Jan Casier und Mélissa Ligurgo, von Meiri Meaeda und Cohen Aitchison-Dugas, von Inna Bilash und Alexander Jones (mit den aufrührenden stummen Schreien), von den beiden Männern Wei Chen und Mark Geilings (wie Wirbelwinde), von Elena Vrostrotina (fantastisch) mit Cohen Aitchison-Dugas und dem grandiosen Dominik Slavkovský, von Katja Wünsche und William Moore, von Estaban Berlanga, Daniel Mulligan, Kevin Pouzou, Matthew Knight, Michelle Willems, Jesse Fraser, Loïck Pirreaux, Alba Sempere Torres, Jessica Beardsell, Francesa Dell'Aria, Elizabeth Weidenberg, Riccardo Mambelli, Constanza Oerotta Altube, Chandler Hammound, Aurore Lissitzky, Mélanie Borel, Luca Afflitto, Iacopo Arregui, Sujung Lim, Rafaelle Queiroz – also von der grandiosen Compagnie des Balletts Zürich - mit totaler Hingabe an dieses Gesamtkunstwerk getanzt werden. Die Präzison der Synchronität, die fugierten und kanonisierten Passagen, die Hebungen, aber auch die (wenigen) erstarrten Tableaux verblüffen. Über allem liegt – selbst in den seltenen verspielten Teilen – ein zutiefst bewegender Hauch von Schwermut. Das ist total kongruent zu Schuberts Intentionen, welche durch die Bearbeitung Hans Zenders noch verstärkt wurden und von Spuck quasi in die dritte Dimension gehoben wurden. Benjamin Schneider leitete die Philharmonia Zürich mit grosser Umsicht und subtiler Erzeugung der Klangfarben. Auch die unaufgeregte, einfühlsame Bildregie von Michael Beyer muss lobend erwähnt werden. Auf der Webseite des Opernhauses und auf ARTE Concert kann man dieses Ballett noch bis zum 14. Mai 2021 geniessen. Lohnt sich!
Werk:
Schuberts Winterreise ist ein Zyklus von 24 Liedern für Singstimme und Klavierbegleitung, komponiert auf Gedichte von Wilhelm Müller und entstanden 1827, ein Jahr vor Schuberts frühem Tod. In den Gedichten und der musikalischen Umsetzung kreisen Müller und Schubert um Einsamkeit, Zerrisenheit, Weltschmerz. Dieser aufwühlenden Seelenwanderung hat der deutsche Komponist Hans Zender mit seiner Fassung für Orchester und Tenor noch ein zusätzliche Schicht verliehen, er dringt mit seiner Instrumentierung, den neuartigen Harmonien, die denjenigen Schuberts weder weh tun noch im Wege stehen, noch einmal tiefer in den Charakter dieses vereinsamten Menschen ein.
Link zum Livestream: https://www.opernhaus.ch/digital/corona-spielplan/