Zürich, Tonhalle: WEBERN | STRAUSS | BRUCKNER, 25.09.2024
Golda Schultz interpretiert die VIER LETZTEN LIEDER, Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich mit BRUCKNERS 1. SINFONIE und Weberns LANGSAMER SATZ
Werke:
Anton Webern: LANGSAMER SATZ FÜR ORCHESTER (Arr. Gerard Schwarz) | Uraufführung (Fassung für Streichquartett): 27. Mai 1962 in Seattle | Richard Strauss: VIER LETZTE LIEDER | Uraufführung: Uraufführung: 22. Mai 1950 in London, mit Kirsten Flagstad | Anton Bruckner: SINFONIE NR. 1 in c-Moll, Linzer Fassung | Uraufführung: 9. Mai 1868 in Linz | Dieses Konzert in Zürich: 25. 9. | 26.9. (ohne die Sinfonie Bruckners) | 27.9.2024
Kritik:
STELL DIR VOR, ES HERRSCHT SPÄTROMANTIK. UND KEINE(R) GEHT HIN
So schwach besetzt habe in den grossen Saal der Tonhalle Zürich bei einem Konzert des hauseigenen Orchesters unter seinem Chef Paavo Järvi noch nie erlebt. Ich kann mir auch nicht erklären, woran es gelegen haben mag. Alle drei aufgeführten Werke waren in der Epoche der Romantik (Bruckners ERSTE SINFONIE) oder der Spätromantik (Weberns LANGSAMER SATZ, Strauss' VIER LETZTE LIEDER) entstanden. Paavo Järvi wird für seine Bruckner-Einspielungen zu Recht von Publikum und Kritik gefeiert und mit Golda Schultz stand eine vielversprechende Sopranistin als Interpretin der VIER LETZTEN LIEDER von Richard Strauss auf dem Podium. Trotzdem klafften riesige Lücken in den Sitzreihen. Es kann doch unmöglich am 30 Minuten späteren Konzertbeginn gelegen haben (wegen der in Zürich stattfindenden Rad-WM), dass das Publikum fernblieb. Sehr schade, denn so verpassten die Abwesenden eine begeisternde Interpretation von Bruckners erster Sinfonie in der "Linzer Fassung". (Die Uraufführung von Bruckners 1. Sinfonie in Linz soll übrigens auch sehr schlecht besucht gewesen sein, wie man im Programmheft nachlesen konnte.)
KECKES BESERL
Vor 10 Tagen hatte ich das Glück, Bruckners Erste in der ausverkauften Berliner Philharmonie mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern zu erleben. Thielemann bevorzugt zur Zeit die Wiener Fassung dieser Sinfonie (in seiner Gesamteinspielung aller Bruckner-Sinfonien mit der Staatskapelle Dresden hatte er noch die Linzer-Fassung verwendet, in der neuen Gesamtedition mit den Wiener Philharmonikern nun die Wiener-Fassung). Paavo Järvi nun stellte die erste Fassung (mit kleineren Retuschen von 1877) zur Diskussion. Beide Fassungen haben meines Erachtens ihre Daseinsberechtigung in der Aufführungspraxis. Während die "Linzer Fassung" für mich etwas kompakter und stellenweise auch frischer, unghobelter daherkommt, stellt die "Wiener Fassung" mit ihren leichten Anpassungen in der Instrumentation und dem neu komponierten Überleitungsteil im dritten Satz eine geschliffenere Version dar. Im Gesamtaufbau unterscheiden sich die beiden Fassungen jedoch nur marginal. Järvi baut die Klangblöcke und deren Entladungen sehr stringent auf, diese Crescendi, dieses Aufbäumen und Zusammenfallen, sind überaus packend gestaltet, meist in der Reprise noch ein Stück effektvoller als in der Exposition, was gerade im ersten Satz zu beachtlichen WOW-Knallern führte. Ehrlich gesagt ist das Adagio immer noch nicht meins, weder hier in der Linzer, noch vor 10 Tagen in Berlin in der Wienerfassung. Zwar zwingt Järvi mit seiner Interpretation zum genauen Hinhören, doch irgenwie schafft Bruckner es hier noch nicht ganz, als Meister des Adagios bezeichnet zu werden. Es dauert gut fünf Minuten etwas zerklüfteten Musizierens bis man zum ersten Mal in diesem langsamen Satz eine gerundete, elegische Steigerung zu hören bekommt. Aber schon bald wieder scheinen die Bögen zu zerbröseln, bevor wieder ein Kulminationspunkt (wenn auch in einer gewissen Simplizität) Eindruck zu wecken vermag. Ganz meisterhaft ist jedoch der diabolische dritte Satz, dieses herrlich schmissige Scherzo mit eingebettetem, lieblich-tänzerischem, von herrlichen Phrasen der Flöten umschmeicheltem Trio. Markant fährt das Blech des exzellent spielenden Tonhalle-Orchesters Zürich im Finalsatz ein, intoniert die Fanfaren mit gleissender Brillanz. Auf eine lange Generalpause folgen warmer Streicherklang und ausgedehnte, wunderschön gespielte Passagen der Holzbläser. Das Ende dann ein stetig an- und abflauender Sturm, der schliesslich entfesselt seinen Höhepunkt erreicht. Ganz grossartig zu erleben, wie Järvi diese Kräfte sich organisch entwickeln lässt, so dass man nie das Gefühl hat, erschlagen zu werden.
EIN WEBERN, VOR DEM SICH NIEMAND ZU FÜRCHTEN BRAUCHT
Der LANGSAME SATZ, den Webern für ein geplantes, aber nie vollendetes Streichquartett komponierte, stellt einen der absolut schönsten und ergreifendsten musikalischen Einfälle der Spätromantik dar. Zur Lebenszeit Weberns nie aufgeführt, aber von ihm auch nicht vernichtet worden, klingt in dem vom Tonhalle-Orchester gespielten Arrangement von Gerard Schwarz für Streichorchester mit unter die Haut gehender Emphase. Mein Gott, ist das beseelte Musik voller Innigkeit. Vielleicht würde es mit einem etwas kleiner besetzten (Kammer-) Orchester noch intensiver klingen, obwohl sich alle grösste Mühe geben, einen zarten Gesamtklang zu erreichen, einen liedhaften, glückseligen Ton, der den Gefühlen des frisch verliebten jungen Mannes (Anton Webern) gerecht wird.
ZU GEERDET
Im Mittelpunkt des Konzerts standen Richard Strauss' so genannte VIER LETZTE LIEDER, welche er kurz vor seinem Tod in Montreux komponierte, deren Uraufführung er jedoch nicht mehr erleben durfte. Entstanden sind vier meisterhaft orchestrierte Lieder voller Innigkeit und tiefgründiger Beseeltheit. Die Sopranistin Golda Schultz sang sie gestern Abend mit sehr schönem Timbre, das aber an zu wenigen Stellen den so typisch Strauss'schen Silberklang verströmen konnte (wie er z. B. in Referenzaufnahmen mit Kiri Te Kanawa, Jessye Norman, Gundula Janowitz, Lisa della Casa oder sogar Leontyne Price zu erleben ist). Bei Golda Schultz klang das oftmals viel zu bodenständig geerdet, kam "die Seele nicht im freien Flug zum Schweben" (drittes Lied BEIM SCHLAFENGEHEN). Diesen Zauberklang der Nacht, des Abschieds erfuhr man hingegen in den traumverloren intonierten Vor- und Nachspielen und in den begleitenden Passagen des Orchesters (die Solovioline, gespielt von Andreas Janke ein berückender Traum!). Oftmals artikulierte die Sängerin den Text an unpassenden Stellen zu markant (Nun - der - Tag - mich - müd - gemacht). Am ergreifendsten gelang zum Glück die Eichendorff-Vertonung von IM ABENDROT: "Nun sind wir wandermüde - ist dies etwa der Tod?"
Den ersten Konzertteil kann man heute Abend nochmals erleben im Rahmen von tonhalleCrush (classic meets Brazil), das ganze Konzert (mit der Sinfonie Bruckners) wird morgen Freitag nochmals gespielt. Hoffentlich entscheiden sich noch einige Musikfreunde, das schlechte Wetter für einen hochromantischen Konzertabend zu nutzen.
Werke:
Anton Webern (1883-1945) war neben Alban Berg der erfolgreichste Schüler von Arnold Schönbergs Zweiter Wiener Schule. Den “Langsamen Satz” schrieb er 1905, drei Jahre vor seinem Opus 1, der PASSACAGLIA für Orchester. Diese Komposition für Streichquartett ist noch ganz der spätromantischen Tradition verpflichtet (ähnlich wie Schönbergs VERKLÄRTE NACHT), erinnert sehr an den Klangkosmos von Brahms, obwohl Webern z.B. Brahms' dritte Sinfonie ganz scheusslich fand. Der LANGSAME SATZ strahlt – biographisch bedingt – das Hochgefühl eines frisch verliebten jungen Mannes aus: Webern hatte Pfingsten mit seiner Cousine Wilhemine Mörtl mit Wanderungen verbracht und dazu in seinem Tagebuch vermerkt: «Zwei Seelen hatten sich vermählt!» 1912 sollte sie seine Frau werden. Das Werk galt asl verloren und wurde erst 1960 auf einem Estrich in Perchtoldsdorf (Stadtgrenze von Wien) gefunden. Der renommierte amerikanische Dirigent Gerard Schwarz erstellte ein fantastisches Arrangement für Streichorchester.
Richard Strauss' (1864 - 1949) so genannte VIER LETZTE LIEDER entstanden während seines Aufenthalts in der Schweiz im Jahre 1948. Sein Sohn Franz beobachtete, dass der Vater gegen Ende seines Lebens zunehmend depressiver wurde und sich in umtriebiger und sinnloser Korrespondenz mit Kulturfunktionären verlor. Deshalb drängte Franz seinen Vater, sich wieder der Komposition von Liedern zuzuwenden. Richard Strauss nahm schliesslich den Rat seines Sohnes an und vervollständigte eine Skizze zu Eichendorffs Im Abendrot, die seit zwei Jahren in seiner Schulblade lag. Er vertonte noch drei weitere Gedichte (Frühling, September, Beim Schlafengehn von Hermann Hesse) und übergab die vier Lieder seiner Schwiegertochterf Alice mit den schroffen Worten: "Da sind die Lieder, die dein Mann bestellt hat." Mit gewohnter Schönheit und Raffinesse der Kantilenenführung setzte sich Strauss am Ende seines Lebens mit den Themen Abschied und Tod auseinander. (Hesse war über die Vertonung übrigens nicht allzu glücklich, für ihn klang das alles zu geglättet und zu oberflächlich auf Wohlklang bedacht.) Strauss erlebte die Uraufführung vom 22. Mai 1950 in London (mit Kirsten Flagstad und dem Phiharmonia Orchestra unter Wilhelm Furtwängler) nicht mehr, er starb am 8. September 1949 in Garmisch-Partenkirchen.
Anton Bruckner (1824-1896) stammte aus bescheidenen Verhältnissen, war zuerst Lehrer und besserte sein Gehalt mit bäuerlichen Arbeiten und als Geiger bei Volksfesten auf. Seine Musikalität hatte sich schon früh offenbart (Sängerknabe in St. Florian). Nach Organistenstellen in St. Florian und Linz wurde er ans Wiener Konservatorium berufen als Professor für Generalbass, Kontrapunkt und Orgel. Als Komponist schlug ihm aber auch in Wien Unverständnis und gar Häme entgegen. Er wurde in den erbitterten Streit zwischen den Traditionalisten (um Brahms) und den “Neudeutschen” (um Wagner) hineingezogen. Insgesamt schuf Bruckner neun Sinfonien, wobei die neunte unvollendet blieb. Eine frühe Sinfonie in f-Moll bezeichnete Bruckner als “Studiensinfonie”, eine Sinfonie in d-Moll bezeichnete er als ungültige weitere Studie und reihte sie als “Nullte” in sein Schaffen ein. Die erste Sinfonie, in c-Moll, schuf er 1865/66 in Linz und brachte sie 1868 zur Uraufführung, leider ohne Erfolg. Er nannte sie später ein “keckes Beserl” und sie schien ihm so ungewöhnlich für die Hörer zu sein, dass er sie 1890/91 in Wien umarbeitete, wobei er die sich auf Beethovens Neunte berufende Form nicht antastete, wohl aber die Instrumentation ausgeglichener und weniger “keck” gestaltete. Auffallend ist, dass er bereits in dieser Sinfonie eine Themen-Dreiheit im Kopfsatz vorstellt. Das dritte Thema zeigt den bei ihm üblichen monumental-gläubig-religiösen Charakter. Auch im zweiten Satz kündigt sich mit dem Adagio Bruckner als Meister der langsamen Sätze an. Das Scherzo zeigt auf dämonische Art Reminiszenzen des bäuerlichen Tanzes (seine Erfahrungen aus der Jugendzeit). Das Finale wird - wie in seinen späteren Sinfonien - zum gewichtigen Schwerpunkt mit einer Meisterleistung des Kontrapunkts in der Durchführung und strahlendem C-Dur mit majestätischem Jubel in der Reprise.