Zürich, Tonhalle: VIOTTI/EBERLE (KORNGOLD, STRAUSS, RAVEL), 27.04.2022
Erich Wolfgang Korngold: Violinkonzert in D-Dur, op.35 | Uraufführung: 15. Februar 1947 in St. Louis (mit Jascha Heifetz) | Richard Strauss: Suite aus der Oper «Der Rosenkavalier» op. 59 AV 145/TrV 227d o.op. 145 | Uraufführung: 1944 in New York | Maurice Ravel: LA VALSE, poème choréographique pour orchestre | Uraufführung: 12. Dezember 1920 in Paris | Dieses Konzert in Zürich: 27.4. | 28.4. | 29.4.2022
Kritik:
Mit einem klug und stringent zusammengestellten Programm debütierte der aufstrebende Schweizer Dirigent Lorenzo Viotti gestern Abend beim Tonhalle-Orchester Zürich. Alle drei an diesem Abend präsentierten Werke blicken zurück auf eine (Wiener-) Zeit, die so wohl nie mehr wieder kommen wird: Erich Wolfgang Korngold wollte sich mit seinem Violinkonzert in D-Dur wieder der absoluten Musik zuwenden (nach seiner überstürzten Flucht 1938 aus dem anschlussbereiten Österreich nach Hollywood und der danach mehrjährigen, äusserst erfolgreichen Zeit als Komponist von Filmmusik). Sein Violinkonzert evoziert mit der süsslichen Melancholie der ersten beiden Sätze eine längst vergangene Zeit, ein Wien der Zwischenkriegsjahre. Richard Strauss stellte seine Oper DER ROSENKAVALIER noch vor dem ersten Weltkrieg fertig (die Suite entstand 1945, wohl zusammengestellt von Artur Rodzinski). Auch darin wird - wenn auch augenzwinkernd - ein walzerseliger Blick auf Irrungen und Wirrungen der Liebe im Wien des Rokoko geworfen. Am Kritischsten ging Maurice Ravel in LA VALSE ans Werk. Das ist keine freundliche Hommage mehr an den Wiener Walzer, sondern eine geradezu depressive, unheimliche und groteske Beschwörung eines Walzerrauschs.
Zu Beginn also erklang das Violinkonzert aus der Feder Korngolds, das erst seit den 1990er Jahren wieder vermehrt auf den Konzertpodien erklingt. Mit einer betörend schön gespielten Phrase der Solovioline stieg die Geigerin Veronika Eberle in den ersten Satz ein. Dieses zauberhafte Thema erklingt auch in Korngolds Filmmusik zu Another Dawn (1937, mit Errol Flynn). Gleichzeitig aber ist bekannt, dass Korngold bereits zu dieser Zeit Skizzen seines Violinkonzerts angefertigt hatte. Es spielt auch keine Rolle, ob die Filmmusik oder der Eröffnungssatz zuerst konzipiert wurden, denn das Theme ist einfach von einmaliger Schönheit. Faszinierend erklangen die kunstfertigen Glissandi auf Eberles Stradivari aus dem Jahr 1715, welche sie in der kurzen Kadenz spielte. Viotti und das fabelhaft klangschön und präzise aufspielende Tonhalle-Orchester Zürich erreichten einen beeindruckend satten und bei aller Süsse nie schwülstigen oder dicklichen Klang und krönten den Satz mit einem herrlichen Finale. Dem zweiten Satz wohnte eine wundersame, träumerische Verschattung inne, auf welcher sich Veronika Eberles Solovioline mit stupender Reinheit in den höchsten Lagen entfalten konnte. Wunderschön und mit emotionalem Feingefühl glangen der Solistin und dem Dirigenten die Übergänge in der wechselnden Melodieführung zwischen Soloinstrument und Orchester. Von überirdischer Schönheit geprägt verklang dieser Satz. Auch im dritten Satz ist ein Thema aus einer Filmmusik Korngolds erkennbar, nämlich aus The Prince and the Pauper (1937), eine Filmmusik, die genauso von Charme, Witz und Rasanz sprüht wie eben dieser dritte Satz seines Violinkonzerts. Hier wird von der Solistin eine beachtliche Virtuosität verlangt, mit Doppelgriffen, atemberaubenden Läufen und Trillern. Veronika Eberle erfüllte diese Anforderungen mit stupender, aber unprätentiöser Selbstverständlichkeit. Lorenzo Viotti selbst schien an diesem Satz unheimlichen Spass zu haben, dies übertrug sich eins zu eins aufs Orchester. Gemeinsam erreichte man Gänsehaut erregende Gipfel im Orchestertutti des Hauptthemas, aber auch im kurzzeitigen Abstieg in intensive Piani. Grosser Applaus nach dem fulminanten Satzende. Korngold schrieb im Programmheft zur Uraufführung seines Violinkonzerts: "Inspite of its demand for virtuosity in the finale, the work with its many melodic and lyric episodes was contemplated rather for a Caruso of the violin than for Paganini. It is needless to say how delighted I am to have my concerto performed by Caruso and Paganini in one person: Jascha Heifetz." Bestimmt wäre Korngold mit Veronika Eberles wunderbarer Interpretation genauso glücklich gewesen. Es lohnt sich, dieses Violinkonzert des "letzten Wunderkindes" (wie Brendan G.Carroll seine lesenswerte Kongold-Biographie betitelte) immer wieder anzuhören.
Wenn schon Korngold üppig instrumentiert hatte, ging Richard Strauss noch darüber hinaus. Das Riesenorchester für die SUITE aus der Oper DER ROSENKAVALIER sprengte beinahe die Platzverhältnisse auf dem Orchesterpodium im grossen Saal der Tonhalle Zürich. Lorenzo Viotti führte den Riesenapparat mit weit ausgreifenden Armbewegungen, formte den von Strauss auskomponierten Orgasmus im Vorspiel zum ersten Akt und die süsse Erschlaffung danach mit intensiver Körperlichkeit. Klangprächtig dann die Introduktion zum zweiten Akt mit der Aufregung im Hause Faninal und der überwältigenden Erscheinung des Octavian. Mit gezielt effektvoller Steigerung wurde auf diesen Moment des Beckenschlags hingearbeitet, um danach in den Silberklang der Rosenüberreichung abzutauchen. Ein Klangbad der Extraklasse durchzog Viottis Interpretation dieser Suite, das Orchester folgte ihm mit herrlicher Emphase. Die auf den Ochs abgestimmte, nostalgische Schwerfälligkeit des Walzers wurde bezaubernd von der Solovioline des Konzertmeisters (Andreas Janke) eingeleitet und stürzte sich in einen mitreissenden Taumel. Das wunderbar wehmütige Terzett (Hab mir's gelobt) verfehlte auch ohne Gesangsstimmen die Gänsehaut-Wirkung nicht. Auch das süsse Schlussduett Octavian - Sophie wurde vom Dirigenten in aller Schönheit ausgekostet. An dieser Stelle liess er das Orchester einfach spielen, gab praktisch keine Zeichen mehr. Ein grosses Vertrauen und Einvernehmen schien bereits bei diesem Debüt Lorenzo Viottis zwischen ihm und dem Orchester zu herrschen. Strauss hätte vermutlich (wie in seiner Oper) an dieser Stelle das Werk beendet, doch Rodzinskis Arrangement griff nun nochmals zurück auf den Walzer des Ochs, der nun dermassen effektvoll und reisserisch den Schlusspunkt setzte, dass eine Dame hinter mir meinte, dieses Werk hätte man doch ans Ende des Programms setzen müssen. Doch Viottis Konzeption des Abends sah dies (zu Recht) nicht so: Ganz so unbeschwert wollten er und das Tonhalle-Orchester Zürich uns nicht entlassen. Aus tief grummelndem Untergrund tauchten verhangene, abgebrochene und immer wieder durch "falsche" Töne hinterfragte Walzermelodien auf, wehten kurz herein, verschwanden wieder. Viotti machte diese "Geburtswehen" des Walzers, der in der Zeit nach dem schrecklichen Krieg nicht mehr Fuss fassen konnte, beinahe physisch spürbar. Er wand sich wie unter Schmerzen auf dem Podium, liess die brutalen Akzente knallhart, ja geradezu gestampft hereinbrechen. Peitschend und berauscht torkelnd wurden ein erster und dann ein zweiter Kulminationspunkt wie unter Zwang erreicht. Die Walzerseligkeit schlich sich hinkend und betrunken davon. Diese von unmittelbarer Intensität sprühende Interpretation ging dermassen unter die Haut - wie das eben nur ein Liveerlebnis im Konzertsaal zu ermöglichen vermag - und setzte einen nachdenklich machenden Schlusspunkt.
Gerne hätte man noch mindestens einem weiteren Werk mit dieser Thematik gelauscht, denn das Konzert war mit einer reinen Musikspieldauer von 59 Minuten doch relativ kurz.
Auf überaus sympathische Art wandte sich Lorenzo Viotti zu Beginn des Konzerts ans Publikum und erläuterte kurz und eloquent das zu erwartende Programm. Nachahmenswert!
Werke:
ERICH WOLFGANG KORNGOLD (1897-1957): VIOLINKONZERT D-DUR, op.35
Nach seiner Emigration in die USA (1934) wandte sich Korngold eigentlich ausschliesslich der Komposition von Filmmusik zu. Es bedurfte der immensen Überzeugungskraft seines Freundes, des Geigers Bronislaw Huberman, um Korngold von den Filmstudios wegzulotsen. Das von Jasha Heifetz dann zur Uraufführung und zum weltweiten Erfolg gebrachte Violinkonzert wurde Korngolds grösster Konzerterfolg (neben den frühen Erfolgen mit seinen Opern DIE TOTE STADT, 1920 und DAS WUNDER DER HELIANE, 1927).
Die drei ungefähr je sieben Minuten dauernden Sätze (Moderato nobile, Romanze, Allegro assai vivace) entlehnen einige Motive aus seinen Filmmusiken, werden in den ersten beiden Sätzen eher elegisch verarbeitet und kulminieren in einem virtuosen Klimax im dritten Satz. Erwähnenswert ist auch der Einsatz eines grossen, vielgestaltigen Schlagwerks, mit Vibraphon, Xylophon, Celesta u.a.m.
Richard Strauss (1864-1949) hatte mit seiner Oper DER ROSENKAVALIER 1911 einen durchschlagenden Erfolg, der bis heute an ununterbrochen anhält. Nach der brachialen, aufwühlenden Tonsprache der ELEKTRA kehrte Strauss im ROSENKAVALIER zu etwas gemässigteren Tönen zurück. Aber nichtsdestotrotz ist auch der ROSENKAVALIER für ganz grosses, reich besetztes Orchester geschrieben und in seiner Tonsprache unverkennbar „Strauss“. Im zweiten und dritten Akt fügte Richard Strauss verschiedene Walzerthemen ein, anachronistisch da die Handlung zur Zeit Maria Theresias spielt und der Wiener Walzer noch gar nicht erfunden war. Aber gerade diese Walzereinschübe machen die Popularität und den Reiz des Werkes aus. Strauss wehrte sich lange gegen Adaptionen des Werks für den Konzertsaal. Er veröffentlichte unter seinem Namen nur zwei Walzer-Suiten aus dem Rosenkavalier, zwischen 1934 und 1944. Der emigrierte Dirigent Artur Rodzinsky erarbeitete eine Suite aus Themen der gesamten Oper und führte sie in New York 1944 auf. Strauss schien eingewilligt zu haben ... .
Maurice Ravel (1875-1937) komponierte LA VALSE als Auftragswerk für Diagilews Ballets Russes. Ursprünglich sollte es "Wien und seine Walzer" heissen, nach dem ersten Weltkrieg schien aber dieser Titel als nicht mehr angebracht zu gelten, deshalb wählte Ravel schlicht LA VALSE als Stückbezeichnung. Diagilew war wenig begeistert, so dass das Werk erstmal rein konzertant erklang. 1928 schuf Bronislaw Nijinska eine Choreographie, später wurde Ravels Werk erfolgreich von George Balanchine und Frederic Ashton auf ie Ballettbühnen gebracht. Ravel setzte seiner Komposition diesen Text voran: "Flüchtig lassen sich durch schwebende Nebelschleier hindurch walzertanzende Paare erkennen. Nach und nach lösen sich die Schleier auf, man erblickt einen riesigen Saal mit zahllosen im Kreise wirbelnden Menschen. Die Szene erhellt sich zunehmend; plötzlich erstrahlen die Kronleuchter in hellem Glanz. Eine kaiserliche Residenz um 1855."