Zürich, Tonhalle: STRAWINSKY | DESSNER | STRAUSS, 25.11.2023
Die Dirigentin Simone Young mit ihrem lange erwarteten Debüt beim Tonhalle-Orchester Zürich
Werke: Igor Strawinsky: APOLLON MUSAGÈTE | Uraufführung: 27. April 1928 in Washington D.C., gespielt wird die reviedierte Version von 1947 | Bryce Dessner: ST. CAROLYN BY THE SEA für zwei elektrische Gitarren und Orchester – Schweizer Erstaufführung | Uraufführung: 22. Oktober 2011 in New York | Richard Strauss: Also sprach Zarathustra | Uraufführung: 27. November 1896 in Frankfurt am Main |
Dieses Konzert in der Tonhalle Zürich: 25.11. und 26.11.2023
Kritik:
ZWEI GANZ UNTERSCHIEDLICHE KLANGBÄDER IN GEWALTIGEN ORCHESTERFLUTEN
Dass Richard Strauss kein Kostverächter war, wenn es um orchestrale Masslosigkeit ging, ist allgemein bekannt. Dass ein zeitgenössischer Komponist ebenfalls mit ganz grosser orchestraler Kelle anrichtet, ist hingegen nicht selbstverständlich. Allerdings macht der Amerikaner Bryce Dessner das ganz anders als Strauss. In Dessners Komposition ST.CAROLYN BY THE SEA, welche gestern Abend in der Tonhalle Zürich als Schweizer Erstaufführung erklang, entwickelt sich ein sorgsam aufgebautes, klanglich wunderbar ausdifferenziertes Crescendo aus einer zum Zerreissen gespannten atmosphärischen Dichte von tremolierenden Streicher heraus; aparte, überraschende Töne und Melodiefragmente steuern die beiden E-Gitarren bei, gespielt vom Komponisten selbst und von David Chalmin. Dazwischen verströmt das Solocello warme Gesanglichkeit und unterstreicht den wunderbaren Mischklang, welcher Dessner in seiner bezwingenden Musik geglückt ist. Die Ostinati der Streicherfiguren steigern sich "Boléro"-artig mit Unterstützung des Schlagwerks, bevor das erneute Versinken in den Tremoli der Streicher einsetzt und die E-Gitarren nun selbstbewusster den Lead übernehmen und eine Musik zum Abschluss bringen, die man sich gerne wieder anhören würde. Das kommt bei zeitgenössischen Kompositionen nicht allzu häufig vor, aber ich habe es schon öfters erwähnt, dass die Komponist*innen aus dem angelsächsischen und lateinamerikansichen Raum weniger Zurückhaltung und falsche Scham als die Kontinentaleuropäer an den Tag legen, um auch mal "gefällig" zu sein. Jendfalls war es schon ein besonderes Erlebnis, den Komponisten selbst an der E-Gitarre auf dem Podium erleben zu dürfen, neben seinem Komponistenkollegen und E-Gitarristen David Chalmin (er komponierte u.a. den Soundtrack zum Madonna-Kurzfilm HER STORY und ein Werk für die Labèque-Schwestern). Das Tonhalle-Orchester Zürich unter der engagierten Leitung von Simone Young, David Chalmin und der Komponist Bryce Dessner konnten sich des dankbaren Applauses des Publikums sicher sein. Mit Spannung und Vorfreude darf man weiteren im Verlauf der Saison präsentierten Werken des Creativ-Chair-Inhabers Bryce Dessner entgegenblicken.
Bei Richard Strauss' Tondichtung ALSO SPRACH ZARATHUSTRA (nach Nietzsche) muss man ebensowenig wie bei Dessners Werk (angeregt durch Kerouac) die literarische Inspirationsquelle kennen, um die Musik zu empfinden. Anders als Dessner legte Strauss von Anfang an volle Pulle los: Der berühmte Sonnenaufgang ging in die Musikgeschichte ein und liess gestern Abend unter der Leitung von Simone Young den goldenen Saal der Tonhalle noch eine Spur goldener erstrahlen. Strauss schrammt im weiteren Verlauf seiner Tondichtung manchmal oft ganz nah am sentimentalen Kitsch vorbei, aber das ist alles so grandios orchesteriert und vom Tonhalle-Orchester so bezwingend und in Bann ziehend umgesetzt und von Simone Young mit bestechender Emphase aufgebaut, dass man sich der beglückenden Wirkung nicht entziehen kann. Ganz wunderbare Soli der Stimmführer betten sich mit feinfühliger Transparenz gespielt in den berauschenden Gesamtklang ein, zarte Melodien kristallisieren sich heraus. Walzerhafte Passagen, die schon im Silberklang der Violinen den ROSENKVALIER heraufschimmern lassen, münden in aufschäumenden Jubel des Orchestertuttis, das wird streckenweise fast chaotisch-lärmig, bevor das Werk mit dem beseligenden Gesang von zwei ersten und zwei zweiten Violinen, untermalt von der Flöte, ganz still verklingt und nur die die grummelnden Cs der Kontrabässe eine Zweispältigkeit ins sanft entschwebenden H-Dur streuen.
ESKAPISMUS IN ANTIKES/KLASSIZISTISCHES EBENMASS
Als ruhevoller Auftakt in den Klangrausch des Abends diente Igor Strawinskys neoklassizistische Komposition APOLLON MUSAGÈTE. Dieses nur für Streichorchester konzipierte Werk, mit dem Strawinsky dem Lärm und den Problemen der Gegenwart der 20er Jahre die Schönheit der Antike entgegensetzen wollte, hat etwas faszinierend Beruhigendes, die punktierten, sanften Bewegungen und das ebenmässig Tänzerische bewirken einen friedvollen Klangfluss, der einen von den Aufregungen und den Spannungen des Alltags loslöst - ein wunderbar gewählter Konzertbeginn. Simone Young und die Streichergruppe des Tonhalle-Orchesters Zürich arbeiteten die kunstvolle Polyphonie dieser ursprünglich als Ballettmusik konzipierten Komposition mit Akkuratesse und tröstlichem Klang heraus, tauchten das alles in ein mildes klangliches Licht. Auch wenn der Eskapismus in die Antike keine unmittelbaren Lösungen für die Probleme der Gegenwart bringen mag, ein ruhiges, besinnliches Innehalten und Verweilen in der Schönheit könnte ein Reflektieren zumindest begünstigen!
Heute um 17 Uhr wird das Konzert nochmals zu erleben sein. Lohnt sich!
Werke:
IGOR STRAWINSKY (1882-1971): APOLLON MUSAGÈTE (revuduerte Version von 1947)
Igor Strawinskys musikalisches Schaffen war ausserordentlich vielschichtig, man könnte auch sagen widersprüchlich. Seine Komponistenlaufbahn hatte in Russland begonnen, als Schüler Rimski-Korsakows lehnten sich seine ersten Kompositionen an russische Vorbilder wie Glinka, Tschaikowski und Rimsik-Korsakow an, genährt von Liedern und Volksmusik aus seiner Heimat. Die ersten grossen Erfolge erreichte er mit den Ballettmusiken für Diaghilews Ballets russes (PETRUSCHKA, L'OISEAUDE FEU. LE SACRE DU PRINTEMPS). Diese Werke waren noch stark geprägt von den Einflüssen seiner Heimat, wuchtig und raffiniert instrumentiert. Zunehmend jedoch entwickelte er sich zum Kosmopoliten, war u.v.a. mit Künstlerpersönlichkeiten wie Picasso, Cocteau, Gide, Ramuz, Ansermet und Ravel befreundet. Nach den teils revolutionären und lauten Werken mit mutiger Harmonik und vielen Dissonanzen und unendlichen Taktwechseln, wie dem SACRE, wandte er sich in seiner neoklassizistischen Phase der alten Musik und Themen aus der Antike zu, im letztendlich hilflosen Bestreben, Lösungen für die Probleme der Welt in der klassischen Kunst zu finden. Im hohen Alter jedoch setzte sich Strawinsky mit der Zwölftontechnik und der seriellen Musik auseinander und liess sich auch vom Musikleben der Sowjetunion beeindrucken, die er nach Jahrzehnten in der Schweiz, in Frankreich und als amerikanischer Staatsbürger, der er nun geworden war, erstmal 1963 besuchte. APOLLON MUSAGÈTE gehört zu seiner neoklassizistischen Phase, ist nur für Streichorchester geschrieben und entstand als Auftragswerk der Library of Congress in Washington; ein Ballet blanc, mit einer Dauer von ca. 30 Minuten, tonal gehalten und in der Struktur an Ballettmusiken von Jean Baptiste Lully angelehnt. Apollo, der Führer der Musen inspiriert drei Musen - Kalliope, Polyhymnia und Terpischore - zu ihren jeweiligen Künsten.
BRYCE DESSNER (geb. 1976): ST. CAROLYN BY THE SEA
Der US-amerikanische Komponist und E-Gitarrist Bryce Dessner ist Inhaber des diesjährigen" Creative Chair" beim Tonhalle-Orchester Zürich. Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Aaron gehören die beiden gemäss dem Musikmagazin Rolling Stone zu den 250 weltbesten Gitarristen der Gegenwart. Sie spielen auch in der Rockband THE NATIONAL. Dessner komponierte sehr viel Filmmusik, so z.B. Beiträge für THE REVENANT (mit Leonardo di Caprio), arbeitet mit Sinfonieorchestern oder Kammermusikensembles (Kronos Quartett) zusammen. Er schrieb z.B. auch ein Konzert für zwei Klaviere und Orchester für die Schwestern Labèque. ST. CAROLYN BY THE SEA wurde inspiriert vom BIG SUR des US Autors Jack Kerouac, der darin autobiographische Befindlichkeiten verurbeitete: Halluzinationen, Panikattacken, Provokationen und Alkoholmissbrauch. Dessner sagte dazu Folgendes: “When I wrote the piece I was in a state of emotional trauma. It has a slight romantic intensity about it and it does shift states. It starts in this kind of sweet longing and then it moves into the more aggressive section and it has, obviously, a kind of triumphant ending.”
RICHARD STRAUSS (1864-1949): ALSO SPRACH ZARTHUSTRA, op.30
Da Strauss eigentlich dem Christentum nicht sehr zugeneigt war, erstaunt es nicht, dass er Nietzsches kulturkritischen Angriffen in ALSO SPRACH ZARATHUSTRA nicht gerade ablehnend gegenüberstand. Nietzsches Hymne entspricht in ihrem sprachlichen Rhythmus einer Art Musikstück. Auch Gustav Mahler hat sich für den Text interessiert. Strauss hat die neun Teile seiner Komposition nach Kapiteln aus Nietzsches Gedicht benannt. Berühmt wurde der Anfang: Die grandiose Natur-Motiv Steigerung c´-g´c´´ ist wohl das berühmteste crescendo der Musikgeschichte und fand Eingang in Filmmusikscores, Popmusik und Werbespots (von Stanley Kubricks 2001 – A SPACE ODYSSEY über die Simpsons zu LED ZEPPELIN und ELVIS PRESLEY bis zur Werbung für eine deutsche Biermarke). Doch auch was sich nach diesem alle in seinen Bann führenden Beginn tut, ist beachtlich und zeigt Richard Strauss in Höchstform der effektvollen Orchestrierungs- und Motivverarbeitungstechnik. Ein immenser Bogen führt zum zwiespältig zwischen H- und C-Dur changierenden Finale.