Zum Hauptinhalt springen Skip to page footer

Zürich, Tonhalle: PROKOFIEW | MILCH-SHERIFF | BEETHOVEN, 12.01.2021

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Prokofiew, 3. Klavierkonzert

Applausbilder: K.Sannemann Daniel Ciobanu

Werke: Sergej Prokofiew: Klavierkonzert Nr. 3 | Uraufführung: 18. Dezember 1921 in Chicago, mit dem Komponisten als Solist | Ella Milch-Sheriff: DER EWIGE FREMDE, Monodram für einen Sprecher und Orchester | Uraufführung: 20. Februar 2020 in Leipzig unter der Leitung von Omer Meir Wellber | Ludwig van Beethoven: 2. Satz (Marcia funebre) aus der 3. Sinfonie (EROICA) | Erste öffentliche Aufführung der EROICA: 7. April 1805 in Wien | Ludwig van Beethoven: Leonore-Ouvertüre Nr. 3 | Uraufführung: 29. März 1806, anlässlich der Erstaufführung der 2. Fassung von Beethovens Oper FIDELIO | Dieses Konzert wird auch am 13.1. 2023 in der Tonhalle Zürich aufgeführt

Kritik:

Rasanter Höllenritt

Trotz der filigranen, von den Klarinettisten des Tonhalle-Orchesters so einfühlsam intonierten Andante-Einleitung ist Prokofjews drittes Klavierkonzert ein virtuoses, überwältigendes Bravourstück. Denn gleich nach dieser kurzen Kantilene steigt der Solist ins Geschehen ein und von diesem Moment an ist man gebannt, gefesselt, sitzt praktisch auf der Stuhlkante. Denn was der junge rumänische Pianist Daniel Ciobanu hier zeigt ist schlicht stupend. Trotz der rasanten, wuchtigen Griffen bleibt sein Spiel spritzig, selbstredend rhythmisch präzise und die Figurationen zwischen den Kaskaden fein ziseliert aushorchend und umsetzend. Der Dirigent Omer Meir Wellber ist ihm ein aufmerksamer, präsenter Begleiter und Kompagnon, lässt das Orchester zum gleichberechtigten Partner werden, es an gewissen Stellen regelrecht explodieren, um es gleich darauf wieder zurückzunehmen, so dass die klangliche Balance stets gewahrt bleibt und das Ohr nicht erschlagen wird. Die grosse spätromantische Emphase kommt genauso zum Zug wie die verspielt-ironische Variation derselben. Perfekt gespielte Läufe des Solisten treffen auf austarierte Dynamik des Orchesters, hingetupfte Töne kontrastieren mit atemberaubenden Gilssandi. Das Finale des ersten Satzes fährt ein wie ein Hammerschlag. Im zweiten Satz dominiert zuerst ein tänzerisch-schräger Duktus. Der wohldosierte (sprich sparsame) Pedaleinsatz von Daniel Ciobanu bewirkt eine kristalline Präzision, der synkopische Dialog mit dem Orchester wird zu einem intensiven Hörerlebnis. Nur vorübergehend gerät die Musik in etwas ruhigeres Fahrwasser, Ciobanu lässt mit langgezogenen, feinen, verträumten Trillern aufhorchen, untermalt von wunderschön ausgedehnten Streicherkantilenen. Im dritten Satz kann Omer Meir Wellber sich kaum mehr ruhig auf dem Podium halten, die Rhythmen fluten seinen gesamten Körper, er beginnt zu tänzeln - und es stört nicht im geringsten, denn was davon im Orchester ankommt und so ausserordentlich genau umgesetzt wird, haut einen um. Ciobanu glänzt nun erneut mit wahnwitzigen Läufen, Trillern, Kaskaden. Pizzicati der Streicher kämpfen gegen wuchtige Intervallsprünge des Klaviers, die Streicher versuchen sich nochmals am spätromantischen Aufschwung, das Klavier konterkariert mit verspielter Rhythmik, diese nimmt die herausragende Holzbläsergruppe des Tonhalle-Orchesters noch so gerne auf. Doch nun verbündet sich das Klavier mit dem wunderbar warmen Klang der Celli und der Bratschen, untermalt diesen mit herrlichen Arpeggien, glitzernd wie Wassertropen in der Morgensonne. Das sehrende Thema kehrt kurz wieder, bevor in das allerhöchste technische Ansprüche an den Klaviervirtuosen stellende Finale eingebogen wird. Der Höllenritt ist zu Ende und der verdiente Jubel des Publikums brandet sofort auf, die Spannung entlädt sich in verdientem Applaus. Doch das war's noch nicht an Rasanz und Brillanz, denn der Boogie Woogie, den Daniel Ciabanu als Zugabe spielt ist dermassen irre in Tempo und Struktur, dass einem fast schwindelig wird. Hoffentlich darf man diesen Ausnahmepianisten bald wieder in Zürich erleben - vielleicht mal gar als Artist in residence?

Der ewige Fremde

Der Dirigent des Abends Omer Meir Wellber, wendet sich kurz ans Publikum und erzählt, wie es zur Komposition DER EWIGE FREMDE von Ella Milch-Sheriff gekommen ist und was dahinter steckt. Die Komponistin ist im Saal anwesend, hat bereits an der Konzerteinführung durch die Musikdramaturgin im Foyer teilgenommen.

Sphärische Streicherklänge evozieren den Traum Beethovens, absteigende Passagen der Celli führen zu einer klanglichen Erdung, die Oboe verortet mit den folkloristisch im Nahen Osten beheimateten Passagen den Flüchtling, der plötzlich mitten im Orchester auftaucht. Der grandiose Schauspieler Eli Danker (man kennt ihn aus Charakterrollen in diverse US-Serien und Filmen, u.a. an der Seite von Dépardieu, Banderas, Meg Ryan) ist dieser Mann, heimatlos, fremd und doch so begierig nach Liebe und Akzeptanz. Die Worte erinnern an Shylocks Monolog in Shakespears KAUFMANN VON VENEDIG. Auch dieser Mann im Monodram von Joshua Sobol spricht davon, dass er dieselben Dinge liebt, wie alle anderen Menschen: An erster Stelle die Menschen selbst, die Tiere, die Pflanzen, die Natur. Eli Danker spielt diesen vereinsamten Mann, der nirgends ankommt, dessen ausgestreckte Hand keiner ergreift, mit zutiefst bewegender Intensität. Es lohnt sich, obwohl Danker den Text in ausgezeichnetem Deutsch rezitiert, das Gedicht im Programmheft vorher zu lesen, so dass man sich während der Aufführung ganz auf den Schauspieler und die wunderbare Musik von Ella Milch-Sheriff konzentrieren kann, eine Musik, die erstens ungemein einfühlsam und wunderschön ist und zweitens neugierig macht auf andere Werke dieser Komponistin. Sie schreibt zur Zeit an einer Oper, die in ungefähr zwei Jahren an der Volksoper in Wien unter Omer Meir Wellber (deren Musikdirektor er seit September 22 ist) zur Uraufführung gelangen wird. Ella Milch-Sheriff hat es mit grosser kompositorischer Kunstfertigkeit geschafft, den Text so in die Musik einzubetten, dass weder die musikalischen Gedanken noch die verbalen zu kurz kommen, man immer wieder bewundernd der intensiven Ausdrucksstärke der kostbaren Partitur lauscht. Die Musik intensiviert sich mit der zunehmenden Emotionalität des Textes. Für diesen Abend hat sich Omer Meir Welber als ad attaca gepielte Werke Beethovens Marcia funebre aus der EROICA und dessen LEONOREN-Ouvertüre III ausgesucht. Eine kluge Wahl, denn die ergreifende Trauermusik, die Meir Wellber mit packenden dramatischen Akzenten interpretieren lässt, deren hell-dunkel Stimmung theatralisch herausgeschält werden, passt sowohl zur Stimmung des Werks von Milch-Sheriff, als auch zur nachfolgenden Ouvertüre. Diese beginnt mit der Reminiszenz Florestans an glückliche Tage (Arie: In des Lebens Frühlingstagen), mit unterdrückter, depressiver Stimmung und steigert sich dann durch die wunderbar hell und sauber gespielte Passage der Flöte und den Fanfarenklängen der auf der Galerie platzierten Trompete zum alles und alle umschlingenden, hoffnungsvollen und befreienden Jubelfinale. Auch hier fliesst die Musik direkt durch den gesamten Körper des Dirigenten hindurch und explodiert im Orchester. Das Resultat ist bis in die letzte musikalische Verästelung perfekt ausgearbeitet und schlicht überwältigend! Die Komponistin und alle Ausführenden wurden langanhaltend mit verdientem Applaus belohnt.

(Bei der Uraufführung von DER EWIGE FREMDE wurde Beethovens vierte Sinfonie anschliessend an DER EWIGE FREMDE gespielt, in Palermo folgte Beethovens Messe in C -Dur, demnächst folgt eine Aufführung in Verbindung mit Beethovens Neunter. Jedesmal komponiert Ella Milch-Sheriff neue Übergänge, die so Klasse konzipiert sind, dass man kaum merkt, wo jetzt genau die Bruchstelle liegt!)

Persönliche Anmerkung 1:

Seit über 50 Jahren besuche ich klassische Konzerte, ich kann mich kaum erinnern, je dermassen ergriffen worden zu sein wie gestern Abend in der Tonhalle Zürich.

Nichtsdestotrotz muss ich mir eine persönliche Anmerkung 2 von der Seele schreiben:

Als Programm vorgesehen gewesen war zunächst ein reiner Prokofiew-Abend, mit dem dritten Klavierkonzert und nach der Pause der beeindruckenden Kantante (und Filmmusik) ALEXANDER NEWSKI, ein grosses Werk Prokofiews mit gemischtem Chor. Im Verlauf der Chorproben muss sich herausgestellt haben, dass sich einige Chorsänger*innen der Zürcher Singakademie mit dem Werk Prokofiews "unwohl" gefühlt hatten und deshalb das russische Heldenepos nicht singen wollten. Damit war die Aufführung geplatzt. Für mich nicht nachvollziehbar. Erstens kann Prokofiew nichts dafür, dass seine Musik von Dikatatoren und dem Usurpator Putin missbraucht wird, zweitens war Alexander Newski ein erfolgreicher Kämpfer gegen den Expansionskurs des Deutschen Ordens gegen Osten im Mittelalter, also ein Vorbild und Vorkämpfer gegen Landaneignung durch Fremde. Dieses ständige "Unwohlsein" gewisser Menschen ist ein Modetrend geworden, auf den aufzuspringen diese Menschen nichts kostet und zu einer Cancel Culture führt. Ein gefährlicher Weg. Denn wo ist die Grenze? Wagners Walkürenritt und Liszts LES PRÉLUDES wurden von Goebbels' Propagandaministerium bis zum Überdruss ausgeschlachtet, auch dafür können diese Komponisten nichts. Soll man die nun im trendigen Woke-Fieber auch verbieten? Die St.Galler Festspiele waren schon in vorauseilendem Gehorsam auf diesen Zug durch die Absetzung von Tschaikovskys DIE JUNGFRAU VON ORLÉANS aufgesprungen. Wo wird das noch enden? Zumal diese Zeichensetzungen nur leere Symbole bleiben und nichts bewirken. Helfen würde tatkräftige Unterstützung der Ukraine in ihrem Freiheitskampf und nicht narzisstisches Woke-Getue. Meine Meinung!

Werke:

Sergej Prokofiew (1891-1953) hinterliess ein reichhaltiges Oeuvre für Klavier, darunter fünf Klavierkonzerte, von denen das dritte das meistgespielte ist (was aber nichts über die Qualität der  seiner anderen Klavierkonzerte aussagt, insbesondere das zweite ist hoch interessant!). Aber vielleicht ist das dritte auch das für die Allgemeinheit zugänglichste, wobei Prokofjew sich ja nie von irgendwelchen „Neutöner“ Schulen vereinnahmen liess, und seinem tonalen Stil treu blieb. So ist das dritte Klavierkonzert in der „Umgebung“ seiner Symphonie classique entstanden und kommt in der traditionellen Dreisätzigkeit in einem beinahe neoklassizistischen Stil daher. Neben aller anspruchsvollen Virtuosität und den geschärfte Rhythmen bezaubert das dritte Klavierkonzert Prokofiews aber auch mit extrem schönen, zarten Kantilenen, manchmal fast träumerisch verwischt und doch von kristalliner Klarheit. Prokofiew verarbeitet darin seine Eindrücke aus Paris, aus Amerika – doch ein wehmütiger Blick zurück nach Russland lässt sich in der Musik ebenfalls entdecken.

Der Dirigent Omer Meir Wellber trat an die israelische Komponistin Ella Milch-Sheriff (geboren 1954) mit dem Wunsch heran, sie solle ein Werk anlässlich des 250. Geburtstags Beethovens schreiben. Omer Meir Wellber wird im Programmheft so zietiert: "Als ich über dieses Vorhaben mit Ella Milch-Sheriff sprach, dachte ich an ein Stück über Beethoven als Immigranten. Durch Zufall stiessen wir auf Beethovens Traum und das war die Lösung. So bekam ich das Stück, das ich mir gewünscht hatte: Ein Stück über einen Menschen, den niemand versteht. Man kann sich vorstellen, in welche Krise er nach der ‹Eroica› geraten sein muss. Wie sollte man danach wieder eine Sinfonie in Angriff nehmen?" Beethoven berichtete seinem Freund und Verleger Tobias Haslinger in einem Brief von einem Traum, der ihn während einer Kutschenfahrt ereilt hatte. In diesem Traum fand er sich in Jerusalem, Syrien, Indien und Arabien, hatte eine religiöse Erfahrung und auch sein Freund erschien ihm in diesem Traum. Im Brief notierte Beethoven dann auch Notenmaterial zu einem Kanon. Der israelische Schriftsteller und Dramatiker Joshua Sobol verfasste einen Text über diese Traumepisode, die von Fremdheit, Flucht, Aussenseitertum handelt und als Inspiration für Ella Milch-Sheriffs Werk diente

Ludwig van Beethoven (1770-1827) schrieb insgesamt neun Sinfonien. Seine dritte in Es-Dur, op. 35 war bahnbrechend, sowohl formal als auch von der Instrumentationskunst her betrachtet. Die Entwicklung aus Kernmotiven, deren Zergliederung und Differenzierung waren wegweisend für sein weiteres sinfonisches Schaffen. Ursprünglich war Beethoven wohl durch den französischen Gesandten in Wien, den Grafen Bernadotte, dazu angeregt worden, den jungen Napoleon Bonaparte mit einer Komposition zu ehren. Beethoven stand dem Gedankengut des republikanischen Konsuls Bonaparte anfänglich nahe, sah in ihm einen Weltenretter, der die Menscheit vom Feudalismus befreien würde. Doch der sich selbst zum Kaiser krönende Napoleon wurde dem klassischen Humanisten Beethoven zusehends fremder. So zerriss Beethoven seine ursprüngliche Widmung der Sinfonie und gab ihr als Titel die Bezeichnung "Sinfonia eroica, composta per festeggiare il sovvenire du un grand' uomo".Der zweite Satz, marcia funebre, ist weit mehr als ein bewegender Trauermarsch, er ist geradezu eine Trauerfeier, die sowohl den Helden als auch den Opfern der heldischen Befreiungstaten huldigt.

Beethoven hatte nur eine Oper geschrieben und diese war eine ziemliche Zangengeburt, bis sie so dastand, wie wir sie heute meist zu hören bekommen. Nicht weniger als vier Ouvertüren gibt es für diese Oper, welche erst in der letzten Fassung FIDELIO genannt wurde. Die so genannte Leonoren Ouvertüre Nr. 3 war die Ouvertüre zur zweiten Fassung. Sie erklingt oftmals als sinfonisches Intermezzo in heutigen Aufführungen nach der Befreiung Florestans aus seinem Kerker durch seine in Männerkleidern inkognito im Gefängnis arbeitende Gattin Leonore, bevor dann das Finale mit der Huldigung der Gattenliebe einsetzt.

Karten

 

Zurück