Zürich, Tonhalle: Brahms | Schostakowitsch, 16.05.2012
Johannes Brahms: 2. Klavierkonzert in B-Dur | Uraufführung: 9. November 1881 in Budapest | Dmitri Schostakowitsch: 10. Sinfonie in e-Moll | Uraufführung: 17. Dezember 1953 in Leningrad | Konzert in Zürich: 16. Mai 2012
Kritik:
Es gibt Konzerterlebnisse, die hallen lange nach. Dieses erste Konzert im Rahmen des Klavierfrühlings in der Tonhalle Zürich war ein solches. Von der ersten, so wunderbar sauber und rein erklingenden Kantilene des Horns beim Klavierkonzert von Brahms bis zu den finalen, sich fantastisch ins forte-fortissimo steigernden, und einen erlösenden Begeisterungssturm des Publikums hervorrufenden, Sechzehntelläufen des gesamten Orchesters am Ende von Schostakowitschs grandioser Sinfonie Nr.10 kann von einem geradezu überwältigenden Abend berichtet werden. Im zweiten Klavierkonzert von Brahms bewunderte man zunächst die Agilität des Solisten Arcadi Volodos: Die Leichtigkeit der Arpeggien, die Klarheit der Läufe, bei denen durch wohldosierten Einsatz des Pedals keine Verwaschungen auftraten, die zupackende, energiegeladene Attacke bei den schwierigsten Akkordfolgen welche sich dann aber flugs in zärtlichst hingepinselte Fiorituren wandeln konnten – in einem Wort: PHÄNOMENAL! Unter seinen Händen begann der Flügel zu erzählen, genau hörte er auf das Orchester und dessen herausragende Solisten, das Klavier hielt eindringliche, beinahe geheimnisvoll flüsternde Zwiesprachen mit der Flöte im ersten oder mit dem von Anita Leuzinger so tief berührend und doch ohne falsche Larmoyanz gespielten Violoncello-Solo im dritten Satz. Liebevoll säuselnd konnte Volodos Motive des Orchesters übernehmen und in seinen Variationen mit stupender Geläufigkeit fein umspielen, schneidende Spannung erzeugen um gleich darauf in tänzerische Leichtfüssigkeit zu drehen. Das Tonhalle–Orchester Zürich unter Philippe Jordan war dem Solisten in jeder Beziehung und an sämtlichen Pulten ein ebenbürtiger Partner. Jordan verstand es, grosse Bögen zu gestalten, ohne die zahlreichen, wunderbar orchestrierten Details der Partitur aus den Augen zu verlieren, da fühlte man sowohl die in sich gehende, getragene Ruhe am Ende des Andante als auch die fantastische Steigerung zum „Sehnsuchts“-Motiv im Finalsatz, hörte grossartige solistische Einzelleistungen aus dem transparent gehaltenen Gesamtklang heraus, spürte eine erhebende Luzidität gepaart mit mitreissender Prägnanz. Der Solist wurde gebührend gefeiert und schenkte dem begeisterten Publikum drei Preziosen aus seinem Repertoire als virtuose Zugaben – man hätte ihm noch stundenlang zuhören können.
Nach der Pause dann die bewegende Sinfonie Nr.10 von Dmitri Schostakowitsch. Düster und schwermütig beginnt sie in den tiefen Streichern, traurig erhebt sich eine Melodie der Klarinette darüber. Das Tonhalle-Orchester verstand es auf geradezu beängstigend eindringliche Art und Weise, den persönlichen Schmerz des Schöpfers dieser Komposition zu transportieren. Mit grandioser, nervenzerreissender Expressivität schichteten sich die Klänge übereinander, durchzuckt von martialischen Rhythmen und gleissendem Blech. Philippe Jordan und das Orchester bauten eine Spannung auf, die kaum mehr zum Aushalten war, bevor die Klangmassierungen dann wieder in die Schwermut des Beginns zurücksanken. Knallig und effektvoll, dabei mit grösster rhythmischer Präzision im marschartigen Duktus erklang das schneidende, atemberaubende Scherzo, gefolgt von einem fantastischen Wechselspiel zwischen Holzbläsern und Streichern zu Beginn des dritten Satzes. Ekstatisch gelang die erotisch angehauchte Steigerung in diesem Satz, dann das ermattete Verklingen. Ein klagendes, eindringlich gespieltes Solo der Oboe leitete den vierten Satz ein, subtil gestaltete dynamische Abstufungen führten das tänzerische Motiv des Allegro-Teils ein. Überhaupt diese Übergänge: Jordan verstand es vortrefflich, diese Bruchstellen mit organisch aufgebauter Plastizität zu gestalten und wenn dann am Ende nochmals die Posaunen mit ihrem eindringlichen Motiv auftrumpften, dann war klar: Da waren bei der Komposition UND der Ausführung wahre Meister am Werk.
Werke:
Johannes Brahms schrieb sein zweites Klavierkonzert in B-Dur über 20 Jahre nach seinem ersten Konzert für Klavier und Orchester (d-Moll). Das Konzert mit seinen vier Sätzen und einer Aufführungsdauer von ca. 50 Minuten gehört zu den längsten seiner Gattung und wird manchmal auch als "Sinfonie mit Klaviersolo" bezeichnet, was eigentlich nicht korrekt ist, da der Klavierpart äusserst virtuos und auch dominierend angelegt ist. Brahms selbst spielte am Klavier die Uraufführung und gastierte mit dem erfolgreichen Konzert in vielen europäischen Metropolen.
Brahms zeigt in diesem Konzert seine Meisterschaft der vielschichtigen thematischen Variation. Im dritten Satz verwendet Brahms eine Melodie, welche er später für das Lied "Immer leiser wird mein Schlummer" wieder verwendet hat und gibt sie zur Exposition dem Solocello. Der Finalsatz erinnert thematisch und in seinem Kolorit an eine ungarische Weise.
Dmitri Schostakowitschs kompositorisches Schaffen (abgesehen von seinen Arbeiten für den Film) wurde in der sowjetischen Öffentlichkeit in letzten Jahren von Stalins Diktatur praktisch nicht mehr wahrgenommen. Er schrieb viel für die "Schublade". Die viersätzige 10. Sinfonie weist eine sehr interessante Gestalt auf. Der erste Satz dauert insgesamt beinahe so lange, wie die drei folgenden zusammen. In ihrer leidenden Art beschreibt die Musik dieses ersten Satzes die Qual des unterdrückten Künstlers, macht sich im zweiten, rasant-brutalen Scherzo-Satz über den Diktator lustig, arbeitet im dritten Satz mit den Initialen des Komponisten (D - Es - C - H) und dem Vornamen einer Kompositionsschülerin (E - La - Mi- Re - A), Elmira Nasirova. Der vierte Satz gliedert sich in einen ernsten, pessimistischen Andante-Teil und ein tänzerisches Allegro, unterbrochen von Reminiszenzen ans Scherzo. Das erneute, diesmal triumphierende Auftreten des D - Es - C - H - Motivs beschliesst die Sinfonie im fortissimo.