Zürich, Tonhalle: BEETHOVEN | BARTÓK | NIELSEN; 07.02.2024
Vilde Frang spielt Bartóks 2. Violinkonzert, Paavo Järvi dirigiert das Tonhalle-Orchester Zürich. Zu entdecken gibt es auch die aufregende fünfte Sinfonie des Dänen Carl Nielsen!
Werke:
Ludwig van Beethoven: Ouvertüre «Leonore» Nr. 3 C-Dur op. 72a | Uraufführung: 29. März 1806, anlässlich der Erstaufführung der 2. Fassung von Beethovens Oper FIDELIO | Béla Bartók: Violinkonzert Nr. 2, Sz112 | Uraufführung: 23. März 1939 in Amsterdam | Carl Nielsen: Sinfonie Nr. 5 op. 50 | Uraufführung: 24. Januar 1922 in Kopenhagen | Dieses Konzert in Zürich: 7., 8. und 9.2.2024
Kritik:
ELEKTRISIERENDER SPANNUNGSAUBAU - ERRUPTIVE ENTLADUNGEN
Sowohl Béla Bartók in seinem zweiten Violinkonzert als auch Carl Nielsen in seiner fünften Sinfonie haben in frappierender Weise mit stellenweise fast nicht auszuhaltendem Aufbau von spannungsgeladener Stimmung komponiert. Die frei schwebende Tonalität und die Polytonalität, welche diese beiden Komponisten angewandt hatten (beide Werke entstanden in den Zwischenkriegsjahren im Abstand von 15 Jahren), begünstigen diese Atmosphäre des Unheimlichen, des Geheimnisvollen - mit diesem Klang in der Schwebe sind sie (gleich wie Alfred Hitchcock im Filmgenre) "Masters of suspense".
Bartóks zweites Violinkonzert eröffnet mit einer ungewohnt zarten Phrase, einem Dialog der Harfe mit der Solovioline. Vilde Frang intoniert das mit berückender Schönheit, führt ihr kostbares Instrument (eine Violine von 1734 von Guarneri del Gesù) in lichte, zart gespielte Höhen und abgündige, diabolische Tiefen. Gerade im ersten Satz gibt's ganz viele Passagen, in denen sie mit zartem Bogenstrich die Kantilenen weich singend ausbreitet, die von fragiler Schönheit geprägt sind. Oftmals mündet diese schon fast verklärte "Schönheit" in irrwitzige Läufe, schräg klingende Glissandi oder auch in fahle, motorisch brummende Klänge, aus denen die atemberaubende Kadenz mit ihren Vierteltonschritten aufsteigt. Das Andante tranquillo des zweiten Satzes ist wohl etwas vom Schönsten, das Bartók komponiert hatte. Wie das liedhafte Hauptthema der Violine variiert wird, mit spannenden Klangkombinationen - wie dem zauberhaften Klang der Celesta - kontrastiert, ist schlicht meisterhaft. Das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Paavo Järvi evoziert diese stimmungsvolle, von Zartheit erfüllte Atmosphäre, mit überwältigender Klangschönheit. Man schwebt regelrecht in einer klanglichen Traumlandschaft, aus der man mit den rasanten Tanzrhythmen des dritten Satzes gerissen wird. Aufgewühlte Wildheit, in die sich nur wenige vertäumte Passagen einschleichen, leiten unter der Führung der von Vilde Frang virtuos gespielten Solovioline zum rasend flirrenden Orchestertutti. Grosser, begeisterter und verdienter Applaus für die Musiker*innen des Tonhalle-Orchesters Zürich, seinen Chefdirigenten Paavo Järvi und natürlich für die Geigerin Vilde Frang!
Nach der Pause folgte dann die fünfte Sinfonie des hierzulande immer noch unterschätzten dänischen Komponisten Carl Nielsen, der einer in seiner Modernität - gerade in seinen Sinfonien - wegweisenden Komponisten im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts war. Davon konnte man sich gestern Abend beim Anhören seiner unglaublich wirkungsvollen fünften Sinfonie überzeugen. Was für ein spannungsgeladenes Werk, das im ersten Satz mit dem ausgedehnten Einbezug des Schlagwerks überraschte und mitriss. Nur schon der Beginn mit seinem langen Bratschentremolo, aus dem sich die Kantilene der Fagotte erhob, liess aufhorchen. Man war gefangen in einer elektrisierenden Spannung und spürte (eben wie bei Hitchcock), dass etwas Aufrüttelndes geschehen wird. Und es kam dann in Form von markanten ostinatohaften Einwürfen des Holzes und des Schlagwerks (Pauke, Kleine Trommel, Tambourin), steigerte sich in einem unfassbaren Crescendo zu einer umwerfenden Klangballung und verklang mit der sich entfernenden Trommel ganz zart. Während dieses Crescendos, dieses Klangbads sondergleichen, fühlte man sich an Ravels BOLÉRO erinnert, der jedoch erst sechs Jahre nach der Sinfonie Nielsens entstanden war! Der zweite Satz war dann von einer pulsierenden Unruhe geprägt: Rasante Passagen der Streicher, unterbrochen von destruktiv dreinfahrende Pauken, verbreiteten eine unheimliche Stimmung. Fugierte Formen und liedhafte Kantilenen der Celli wurden unterbrochen von Orchestereinwürfen, die wie Peitschenhiebe klangen. Die gewaltige Sinfonie schloss mit einer strahlenden Coda. Paavo Järvi und das so unglaublich intensiv und klanglich austarierte spielende Tonhalle-Orchester Zürich liessen diese Sinfonie zum Erlebnis werden. Hoffentlich werden wir in Zukunft vermehrt Werke dieses aussergewöhnlichen Komponisten in Zürich erleben dürfen!
FREMDKÖRPER
Das Konzert wurde mit Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 eröffnet. Irgenwie passte sie nicht zu den beiden anderen Werken. Im Gegensatz zu Bartóks Violinkonzert und Nielsens Sinfonie, die beide der absoluten Musik verpflichtet sind, weist Beethovens Ouvertüre ein genau auf die Handlung der Oper FIDELIO fixiertes Programm auf. In der Grossbesetzung des Tonhalle-Orchesters wirkte sie für mich zu wuchtig, erreichte im Jubelschluss am Ende fast die Ausmasse einer brucknerschen Apotheose. Effektvoll, klar. Aber persönlich hätte ich mir ein weiteres Werk aus der hochinteressanten Musikszene der Zwischenkriegszeit gewünscht, eben jenseits der ausgetretenen Pfade: Korngold, Schreker, Krenek u.v.a.m. böten sich an.
Nichtsdestotrotz durfte man einen spannungsgeladenen Konzertabend erleben, mit zwei wichtigen Kompositionen, denen man - leider - nicht allzu oft in den Konzertsälen begegnet.
Werke:
Ludwig van Beethoven (1770-1827) hatte nur eine Oper geschrieben und diese war eine ziemliche Zangengeburt, bis sie so dastand, wie wir sie heute meist zu hören bekommen. Nicht weniger als vier Ouvertüren gibt es für diese Oper, welche zuerst unter dem Titel LEONORE ODER DER TRIUMPH DER EHELICHEN LIEBE aufgeführt wurde und erst in der letzten Fassung FIDELIO genannt wurde. Die sogenannte Leonoren Ouvertüre Nr. 3 war die Ouvertüre zur zweiten Fassung. Sie erklingt oftmals als sinfonisches Intermezzo in heutigen Aufführungen nach der Befreiung Florestans aus seinem Kerker durch seine in Männerkleidern inkognito im Gefängnis arbeitende Gattin Leonore, bevor dann das Finale mit der Huldigung der Gattenliebe einsetzt.
Nachdem die Noten von Béla Bartóks (1881-1945) erstem Violinkonzert lange Zeit verschollen blieben und das Werk erst 13 Jahre nach Bartóks Tod uraufgeführt wurde, konnte der Komponist die Uraufführung (1939 in Amsterdam, mit Zoltán Székely als Solisten, Leitung Willem Mengelberg) seines zweiten Violinkonzerts ebenfalls nicht miterleben, da er sich bereits im amerikanischen Exil befand. Er hörte dieses 1937/38 entstandene Konzert nur ein einziges Mal, nämlich 1943 in der Carnegie Hall in New York. Bartók hätte eigentlich gerne eine reine Variation für Violine und Orchester komponiert, doch der Interpret und Widmungsträger der Uraufführung, Székely, beharrte auf der traditionellen dreisätzigen Form. Der erste Satz in einem (wenn auch verhaltenen) Marschtempo lebt von der Spannung des Tritonus-Abstandes H-F. In der Solokadenz verlangt Bartók gar Vierteltonschritte. Im zweiten Satz dann verwirklichte Bartók die Variationenidee. Der Finalsatz ist eine Rondo-Form mit dem umgekehrten Hauptthema des ersten Satzes.
Die Werke des dänischen “Nationalkomponisten” Carl Nielsen (1865-1931) werden leider im Rest Europas nur sehr spärlich aufgeführt. Der Komponist schuf zwei grossartige Opern (MASKERADE und SAUL UND DAVID), sechs Sinfonien, ein Violin-, ein Flöten- und ein Klarinettenkonzert. Ouvertüren, Orchesterstücke, Klavier- und Orgelmusik, Lieder und Kammermusik. Nielsen stammte aus ganz ärmlichen Verhältnissen und konnte im Alter von 18 Jahren nur dank der Förderung eines linken Abgeordneten ins Kopenhagener Konservatorium eintreten. Unter Musikwissenschaftlern gilt Nielsen als einer der bedeutendsten und am weitesten musikalischen Entwicklungen vorgreifender Komponist nach der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Er besticht mit einer rhythmisch stark akzentuierten, polyphon-linearen und auch polytonalen Schreibweise. Für Nielsen stand jedoch nicht die Kompositionstechnik im Vordergrund, sondern deren Integration in die Kernaussage des jeweiligen Werks. Daneben schenkte er den Dänen aber auch eine Vielzahl neuer Volkslieder, die einen unverfälschten Volksliedton aufgreifen.
Seine fünfte Sinfonie, entstanden 1920-1922, ist nur zweisätzig gehalten, obwohl man bei genauerer Betrachtung darin auch vier Sätze erkennen könnte. Die beiden Sätze sind ungefähr gleich lang, der erste geprägt von eindringlichen, markanten, ja geradezu militanten Rhythmen. Dazwischen drängen sich Melismen der Holzbläser, zum Teil in extremen Lagen. Es entsteht ein chaotisch anmutender Kampf zwischen wilder Üppigkeit und ordnender Macht der Kultur. Im zweiten Satz lässt eine irrlichternde Fuge im Presto-Teil aufhorchen, die sich nach heftigem Dreinfahren der Pauken in grellem Kreischen der Klarinetten entlädt. Der Kampf zwischen “Gut und Böse” geht weiter, bis die Sinfonie in einer Coda, in der nochmals Melismen aus dem ersten Satz zitiert werden, in strahlendem E-Dur schliesst.