Berlin, Philharmonie: DUKAS, BARTÓK, DEBUSSY, 21.10.2022
Paul Dukas: POLYEUCTE, Ouvertüre zu Corneilles Tragödie | Uraufführung: 23. Januar 1892 in Paris | Béla Bartók: Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 | Uraufführung: 23. März 1939 in Amsterdam | Claude Debussy: LA DAMOISELLE ÉLUE, Kantate | Uraufführung: 8. April 1893 in Paris | Paul Dukas: DER ZAUBERLEHRLING | Uraufführung: 18. Mai 1897 in Paris | Dieses Konzert in der Philharmonie Berlin: 20. , 21.. und 22.Oktober 2022
Kritik:
Was für ein klug und interessant zusammengestelltes Konzertprogramm jenseits der ausgetretenen Pfade der drei grossen B (Beethoven, Brahms, Bruckner) präsentierten der französische Dirigent François-Xavier Roth und die Berliner Philharmoniker an diesem Abend! Zwei Werke von Paul Dukas, ein weniger bekanntes (Polyeucte) und sein populärstes (L'Apprenti sorcier), ein Frühwerk von Debussy und Béla Bartóks meisterhaftes 2. Violinkonzert.
Eröffnet wurde der Abend mit Dukas' Polyeucte-Ouvertüre. Darin ist natürlich der Respekt des jungen Komponisten Dukas vor den Werken Richard Wagners durchaus zu hören, aber auch eine eigenständige und auf seinem kulturellen Hintergrund fussende Kompositionsweise, quasi ein französisch parfümierter Wagner. Aus einem simplen siebentönigen Motiv, das melancholisch-sehrend klingt, wird ein überaus einnehmender und in den Bann ziehender Klangkosmos entwickelt, der das Schicksal des armenischen Märtyrers Polyeucte in bezwingende Töne formt. (Donizetti mit POLIUTO und Gounod haben Racines Dramenvorlage übrigens als Opern vertont).
François-Xavier Roth disponierte die Instrumentalgruppen mit atemberaubender Finesse, und die Berliner Philharmoniker glänzten mit warmem Streicherklang, exzellenten Leistungen der Holzbläser, sauberem Blech. Aufwühlend mischte sich ein vom Englischhorn vorgestelltes Seitenthema ein, ein tänzerisch-verschattetes Motiv folgte, doch immer wieder drängte sich das sehrende Hauptthema dazwischen. Das alles wurde vom Dirigenten und dem Orchester mit ausgefeilter Prägnanz und Akkuratesse umgesetzt, so entstand ein in seiner Form und der Verarbeitung des Materials klangsüchtig machendes Meisterwerk - und man bedauerte zutiefst, dass Dukas dermassen selbstkritisch war, dass er viele seiner Kompositionen verbrannt hatte.
Das Zentrum des Konzerts bildete natürlich Bartóks 2. Violinkonzert, das mit gut 40 Minuten Spieldauer höchste Anforderungen an die Interpretin stellt. Die grandiose Geigerin Isabelle Faust führt dieses Werk schon lange in ihrem Repertoire (sie hat es auch unter der Leitung von Daniel Harding eingespielt), ist eine beredte Anwältin von Bartóks Schaffen. Ihr Geigenspiel war selbstredend von fantastischer, mitreissender Virtuosität. Doch dahinter steckte noch viel mehr. Es gelang ihr, ihr Instrument mit schlankem Klang "singen" zu lassen; das alles klang streckenweise fast ätherisch leicht, und doch fehlten auch die kraftvoll zupackenden Passagen nicht. Sie konnte beinahe spätromantischen Überschwang hörbar und doch auch die Nähe zur reibenden Atonalität fast körperlich spürbar machen. Mal melancholisch sinnierend und liedhafte Kantilenen auskostend, dann wieder zupackend in wilden Doppelgriffen attackierend und über fulminante Läufe galoppierend machte sie die inhärenten Stimmungswechsel zu einem Klangerelebnis der Extraklasse. Aufhorchen liessen auch ihre fein gesponnenen Triller und die Glissandi. Die Kadenz meisterte sie mit einer faszinierenden Selbstverständlichkeit. Ganz wunderbar interpretierten die Berliner Philharmoniker zusammen mit Isabelle Faust die beinahe mystisch klingenden Variationen im zweiten Satz, subtil leitete der Dirigent François-Xavier Roth den Grundrhythmus durch die Instrumentengruppen zum Schlagwerk, entrückte Schönheit evozierend, um dan zusammen mit Isabelle Faust zu einem energiegeladenen Schlusssatz zu gelangen, wo insbesondere das traumhafte Verschmelzen der Solovioline in der höchsten Lage mit dem Orchester atemberaubend gelang. Mit einer Zugabe (George Rochberg: Caprice Variations, No. 50. Fantasy), die alle faszinierenden Klangfacetten der Violine aufzeigte, bedankte sich Isabelle Faust für den Jubel des nicht restlos ausverkauften Saals. Lag es an dem Programm,liegt es an Corona-Panik oder an der zunehmenden Wirtschaftskrise, dass Konzertsäle und Opernhäuser und überhaupte Kulturinstitutionen im Moment allerorten Schwierigkeiten haben, ihre Plätze zu verkaufen?
Nach der Pause dann ein Jugendwerk Debussys, sein Poème lyrique LA DAMOISELLE ÉLUE. Darin ahnt man schon seine Meisterschaft, die er später mit PÉLLÉAS ET MÉLISANDE unter Beweis stellen sollte. Es ist ein ruhiges Werk, voller Klangzauber, es erfordert Konzentration beim Zuhören, um seiner Schönheiten bewusst zu werden. Die Musik ist sinnlich, ja schmachtend. Die Berliner Philharmoniker verfügen an den einzelnen Pulten über die Musiker, die dieser Sinnlichkeit gerecht werden können (man denke nur an Emmanuel Pahud, den Soloflötisten). So erklang das Werk gestern Abend fast in einem psychedelischen Rausch, sinnlich und doch fremd. Die beiden Solistinnen (die Sopranistin Anna Prohaska anstelle der erkrankten Julie Fuchs und die Mezzosopranistin Adèle Charvet) sowie die leuchtend rein intonierenden Damen des Rundfunkchors Berlin, einstudiert von Gijs Leenaars, trugen zu diesem berührenden Klangerlebnis entscheidend bei.
Klangmalerei vom Allerfeinsten bot der Abschluss des Konzerts mit dem einzigen "Hit" aus der Feder Dukas', seinem ZAUBERLEHRLING (L'Apprenti sorcier), nach Goethes Ballade. Dieses Stück wurde ja weltberühmt dadurch, dass Walt Disney es in seinem spektakulären Zeichentrickfilm FANTASIA kongenial umgesetzt hatte. Die Wiedergabe mit den herausragend präzise spielenden Berliner Philharmonikern unter dem federnd leitenden François-Xavier Roth geriet zu einem mitreissenden Erlebnis an erzählerischer Klangmagie!
Werke:
Nur wenige Kompositionen hat Paul Dukas (1865-1935) hinterlassen, was daran lag, dass Dukas ausgesprochen selbstkritisch war und viele seiner Kompositionen noch vor deren Veröffentlichung vernichtet hatte. Seine Werke waren zu Beginn von Wagner und Dukas' Zeitgenossen Debussy, d'Indy, Fauré und César Franck beeinflusst, doch fand er bald zu einem eigenen, sehr klaren Stil, der sich durch Präzision und überragende Instrumentationskunst auszeichnete. Diese Kunst kann man in seinem wohl populärsten Werk, L'APPRENTI SORCIER (DER ZAUBERLEHRLING), diesem fantastischen Scherzo für Orchester bewundern. Er hat darin auf unsterbliche Art Goethes hundert Jahre zuvor entstandene, gleichnamige Ballade vertont. Darin ruft ein Zauberlehrling in Abwesenheit des Meisters Geister herbei – und wird sie nicht mehr los, das Haus droht überschwemmt und fortgespült zu werden, bis in letzter Minute der Meister zurückkehrt und die Ordnung wieder herstellt. Walt Disney verwendete die Komposition für FANTASIA, Leopold Stokowski dirigierte. Mickey Mouse war darin der Lehrling. Sein verzweifelter, aussichtsloser Kampf gegen Besen und Wasser, perfekt abgestimmt auf Dukas' Programmmusik, bleibt unvergessen.
Die Ouvertüre POLYEUCTE zu Corneilles gleichnamiger Tragödie über einen armenischen Märtyrer im 3. Jh. zur Zeit der Christenverfolgung durch den römischen Kaiser Decius stellte am 23. Januar 1892 den ersten öffentlichen Auftritt des Komponisten dar. Publiziert wurde diese frühe Komposition Dukas' allerdings erst 1910.
Nachdem die Noten von Béla Bartóks (1881-1945) erstem Violinkonzert lange Zeit verschollen blieben und das Werk erst 13 Jahre nach Bartóks Tod uraufgeführt wurde, konnte der Komponist die Uraufführung (1939 in Amsterdam, mit Zoltán Székely als Solisten, Leitung Willem Mengelberg) seines zweiten Violinkonzerts ebenfalls nicht miterleben, da er sich bereits im amerikanischen Exil befand. Er hörte dieses 1937/38 entstandene Konzert nur ein einziges Mal, nämlich 1943 in der Carnegie Hall in New York. Bartók hätte eigentlich gerne eine reine Variation für Violine und Orchester komponiert, doch der Interpret und Widmungsträger der Uraufführung, Székely, beharrte auf der traditionellen dreisätzigen Form. Der erste Satz in einem (wenn auch verhaltenen) Marschtempo lebt von der Spannung des Tritonus-Abstandes H-F. In der Solokadenz verlangt Bartók gar Vierteltonschritte. Im zweiten Satz dann verwirklichte Bartók die Variationenidee. Der Finalsatz ist eine Rondo-Form mit dem umgekehrten Hauptthema des ersten Satzes.
Claude Debussy (1862-1918) war - wie Paul Dukas - ein Verehrer von Richard Wagners Werken. Seine weltliche Kantate LA DAMOISELLE ÉLUE für zwei Frauenstimmen, Frauenchor und Orchester war sein erstes öffentlich aufgeführtes Orchesterwerk. Als Anhänger des Symbolismus liess er sich zur Komposition von einem Gedicht von Dante Gabriel Rossetti inspirieren, einem exzentrischen britischen Maler und Dichter und Anhänger des sogenannten Präraffaelismus. Debussy widmete die Komposition Paul Dukas. Er bezeichnete sie als "ein kleines Oratorium mit einer mystischen, leicht heidnischen Note". Die Uraufführung war ein Erfolg, die Kritiken allerdings waren geteilt. Einige bewunderten die Schönheit und Zartheit der Partitur, in der auch die Gewagtheiten glücklich machten, andere bezeichneten die Kantate als dekadent.