Zürich: SIMON BOCCANEGRA, 06.12.2020, TV-Premiere
Melodramma in einem Prolog und drei Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Text : Francesco Maria Piave und Arrigo Boito |
Uraufführung: 12. März 1857 im Teatro La Fenice,Venedig, zweite Fassung 24. März 1881 im Teatro alla Scala, Mailand | Aufführung in Zürich: 6.12.2020 und, falls es die Pandemielage zulässt: 3.1. | 8.1. | 12.1.2021
Kritik (der Fernsehübertragung)
Ui, ui, ui – da hat sich der Sänger der Titelrolle im Pauseninterview auf ARTE TV aber auf ganz explosives Terrain vorgewagt mit seiner Kritik am heutigen Regietheater. Der Bariton Christian Gerhaher bewegt sich lieber auf Konzertpodien als auf Opernbühnen, doch seine eher seltenen Auftritte auf ebendiesen werden stets umjubelt, so z.B. sein Wozzeck in Bergs gleichnamiger Oper in Zürich. Von Verdi hat er bisher nur den Posa interpretiert. Im Interview also bekundet er sinngemäss seine Mühe mit Verlegungen der Handlung in die heutige Zeit, empfindet die immergleichen Requisiten, Ideen und Attitüden, die schimmernenden grauen Anzüge und die Springerstiefel als unerträgliche Wiederholungen von Allgemeinplätzen und als viel biederer und muffiger, als das, was diese Art von Inszenierungen zu kritisieren versuchen. Und all dies äussert er im Foyer des Hauses eines Intendanten, der selbst auch gerne und oft in eigenen Inszenierungen oder solchen von anderen Regisseuren ebendiese schimmernden Anzüge, die schmucklosen Wände und die gigantischen Türen, die ins Nichts führen, auf sich immerzu drehenden Bühnen präsentiert. So auch bei dieser Premiere von Verdis SIMON BOCCANEGRA. Intendant und Regisseur Andreas Homoki liess sich vom Ausstatter Christian Schmidt eine monumentale, labyrinthartige Zimmerflucht auf die Drehbühne bauen, welche nahtlose Szenenübergänge und klaustrophobische Momente ermöglicht, ein Entrinnen der Figuren aus dem Intrigen- und politischen Machtgefüge verunmöglicht und somit einmal mehr jegliche Natur ausschliesst, die grosse Oper zu einem Kammerspiel macht. Um dies alles näher an unser Wahrnemungsvermögen zu rücken, hat Homoki die Geschehnisse (welche vom Prolog in die drei Akte der Oper einen Zeitsprung von 25 Jahren vollziehen) auf die Zeit von 1895 und ca. 1920 verlegt. Dazwischen liegt also der erste Weltkrieg, welcher wohl der Gesellschaft den grössten Umbruch in der politischen Welt des Abendlandes bescherte, weg von den patriarchalen, monarchischen Strukturen hin zu „Volksrepubliken“. Und da schimmern bei Homoki/Schmidt in der Regentschaft Boccanegras dann durchaus populistische und faschistoid angehauchte Aspekte durch, mit Uniformen und Reitstiefeln, in denen sich Gerhaher sichtlich unwohl fühlte. Pandemiebedingt war es ein Wunder, dass die Premiere überhaupt stattfinden konnte, wenn auch nur mit 50 weit auseinander sitzenden Zuschauern im Saal, dafür (hoffentlich) Millionen vor den Bildschirmen zu Hause, denn der Sender ARTE TV übertrug die Premiere live, und die Produktion ist für weitere zwei Monate in der Mediathek des Senders kostenfrei abrufbar. Das bereits während der kurzen Öffnungsphase des Opernhauses Zürich im September erprobte Spielmodell hat sich auch bei dieser TV-Übertragung bestens bewährt. Orchester und Chor sitzen mit genügend Abstand voneinander im Probensaal am Kreuzplatz und deren Musizieren wird mit ausgeklügelter Glasfasertechnik ins Haus am See übertragen. Soweit ich dies am Bildschirm sitzend (mit BOSE Soundbar) beurteilen konnte, war vor allem der differenzierte Klang der Philharmonie Zürich unter der hervorragenden Leitung von Fabio Luisi ganz ausgezeichnet. Der Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Janko Kastelic) klang manchmal etwas belegt und dumpf, was aber der Gesamtleistung keinen Abbruch tat. Natürlich vermisste man ihn in dieser Oper (in der das Volk doch eine grosse Rolle spielt) ganz besonders (nur einige maskierte Statisten durften die Bühne betreten). Andererseits passte diese Konstellation ganz gut in die kammerspielartige Anlage der Inszenierung. So nahm man den Chor als innere Stimmen des Gewissens, einer Utopie, eines Versagens wahr. Die Fernsehregie lag in den Händen von Michael Beyer. Sie brachte dem Zuschauer die konfliktbeladene politische und individuelle Handlung ausgezeichnet nahe, was natürlich auch an der sehr guten Personenführung Homikis und den exzellenten Sängerdarsteller*innen lag. Christian Gerhaher bewältigte ein herausragendes Rollendebüt als vom Korsaren zum Dogen (wider Willen) aufsteigender Simon Boccanegra. Sein weicher, wunderbar kontrolliert und gerundet sitzender Bariton passte perfekt für die von Verdi so differenziert angelegte Titelfigur. Mit überwältigender Eindringlichkeit gestaltete er die lange Sterbeszene. Zu vokalen Höhepunkten gerieten seine Begegnungen mit dem Widersacher Fiesco, der von Christof Fischesser mit schwarzem, profundem Bass gesungen wurde. Auch er zeigte eine sehr subtile Interpretation, die Versöhnung der beiden Kontrahenten am Ende geriet ausgesprochen glaubwürdig. Eine wahre Entdeckung war Jennifer Rowley als Amelia Grimaldi: Obwohl szenisch ihre diffizile Auftrittsarie (vor dem Bootsskelett im Wohnzimmer) atmosphärisch verschenkt war, holte sie mit ihren engelgleichen Tönen, der sanft flirrenden Gestaltung und den verträumt schwebenden Phrasen alles aus dieser Arie raus, die zu den eigenwilligsten und zugleich stimmungsvollsten aus Verdis Schaffen gehört (welch ein Gegensatz zur sehr diesseitigen Interpretation vom Maria Agresta in der Verdi Gala an diesem Haus vor zweieinhalb Monaten). Wunderschön gestaltete Jennifer Rowley ihr Duett mit dem von Otar Jorjikia gesungenen Geliebten Gabriele Adorno. Die beiden stellten ein vokales Traumpaar dar, bereicherten das wunderbare Concertato am Ende des ersten Aktes mit ihren makellosen Stimmen. Otar Jorjikia sang einen wunderbar klar und unforciert klingenden Adorno und umschiffte auch die im späteren Verlauf des Abends kurzzeitigen Heiserkeiten gekonnt. Nicholas Brownlee gestaltete einen gekonnt schmierigen Intriganten Paolo Albiani, trumpfte mit gebotener bass-baritonaler Rauheit auf. In den Nebenrollen überzeugten Brent Michael Smith (Pietro), Siena Licht Miller (Magd Amelias) und Savelii Andreev (Hauptmann der Armbrustschützen).
Fazit: Das Opernhaus Zürich würde mit dem auf herausragender digitaler Technik beruhenden Spielkonzept grosse Oper in Corona-Zeiten möglich machen, leider darf das nach dem erfolgreichen Start im September seit zwei Monaten nicht mehr mit Publikum ablaufen. So war man ausgeprochen dankbar, dass diese Premiere nun stattfinden konnte. Man kann nur hoffen, dass im neuen Jahr wieder ein Live-Erlebnis möglich sein wird.
Von mir besuchte Aufführungen von SIMON BOCCANEGRA in Zürich in den letzten Jahrzehnten;
1975 :ML: Nello Santi, Insz.: Vaclav Kaslic; mit Antigone Sgourda, Normann Mittelmann, Bonaldo Giaiotti, Bruno Prevedi, Joszef Dene
1995: ML: Nello Santi, Insz.: Marco Arturo Marelli; mit Elena Prokina, Juan Pons, Ruggiero Raimondi, Vincenzo La Scola, Roland Hermann
2002: ML: Marcello Viotti, Insz.: Marelli; mit Barbara Frittoli, José van Dam, Roberto Scandiuzzi, Fabio Sartori, Cheyne Davidson
2009 ML: Carlo Rizzi, Insz.: Giancarlo de Monaco; mit Isabel Rey, Leo Nucci, Roberto Scandiuzzi, Fabio Sartori, Massimo Cavalletti
Inhalt:
Genua im 14. Jahrhundert
Prolog
Jacopo Fiesco weigert sich, seine Tochter Maria dem Plebejer Bocanegra zur Frau zu geben und sperrt sie im Haus ein, obwohl sie bereits ein Kind von Boccanegra hat. Doch Maria stirbt. Fiesco verschweigt Boccanegra ihren Tod. Die Aussöhnung der beiden scheitert, weil Boccanegra Fiesco dessen Enkelin nicht zur Erziehung überlassen kann, da sie angeblich entführt worden sei. Boccanegra dringt in Fiescos Haus ein und findet seine tote Geliebte. Erschüttert kommt er aus dem Haus, während ihn das Volk jubelnd als neuen Dogen begrüsst.
Erster bis dritter Akt:
Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen. Amelia Grimaldi (die verschollen geglaubte Tochter Boccanegras) ist verliebt in den Patrizier Gabriele Adorno. Boccanegra jedoch will seinen Kanzler Paolo Albiani mit Amelia verloben. Er entdeckt ein Amulett ihrer Mutter und erkennt in ihr seine Tochter, worauf er Paolos Werbung schroff zurückweist. Paolo ist beleidigt und schwört Rache.
Eine erregte Menge strömt in den Senatssaal, und verlangt Sühne für einen Getreuen Paolos, der von Gabriele Adorno getötet wurde. Amelia kann die Situation entschärfen und berichtet, dass sich der Anstifter ihrer Entführung noch im Saal befinde. Paolo wird gezwungen, die Übeltäter (also sich selbst) zu verfluchen.
Paolo schüttet Gift in den Becher des Dogen Boccanegra und versucht, Fiesco und Adorno zum Aufstand gegen den Dogen zu überreden. Fiesco lehnt ab, Adorno hingegen erklärt sich bereit, den vermeintlichen Nebenbuhler zu töten.
Der Doge trinkt das Gift und schläft ein. Adorno will Boccanegra erdolchen, wird aber im letzten Moment von Amelia daran gehindert. Er erfährt, dass Boccanegra nicht sein Rivale, sondern der Vater seiner Geliebten ist.
Adorno schlägt sich auf die Seite der Plebejer und hilft mit, den Aufstand der Patrizier niederzuschlagen.
Simon Boccanegra liegt im Sterben. Er versöhnt sich mit Fiesco und eröffnet ihm, dass Amelia seine Enkelin ist. Boccanegra segnet sterbend seine Tochter und Adorno, den er zu seinem Nachfolger bestimmt.
Werk:
SIMON BOCCANEGRA markiert einen entscheidenden Schritt auf Verdis Weg zum musikalischen Drama. Arienformen werden aus dramaturgischen Gründen aufgebrochen, das Arioso als musikalisch angereichertes Rezitativ wird zum Zentrum des musikalischen Ausdrucks, gerade in der Partie des Boccanegra, mit dem Verdi eine weitere seiner berührenden Vaterfiguren (Rigoletto, Miller, Nabucco, Philipp II, Georges Germont) geschaffen hat. Gleichzeitig gelingt Verdi mit der musikalischen Schilderung des ligurischen Meeres, in dessen Anblick die Protagonisten seiner Oper immer Trost zu finden scheinen, “eins der größten Beispiele von Landschaftsmalerei oder Naturlaut, die man in der Geschichte der Oper finden kann.” [Luigi Dallapiccola]
24 Jahre nach der durchgefallenen Uraufführung dieser Oper im Jahre 1857 in Venedig machte sich Verdi mit dem Librettisten und Komponisten Arrigo Boito an eine Überarbeitung des Werks, der Titelfigur schenkt er eines der schönsten Concertati der gesamten Verdi-Literatur: “Plebe! Patrizi! Popolo!” – “Plebejer! Patrizier! Volk!” Boccanegras verzweifelter Schrei nach Frieden – die Bitte eines verzweifelten Vaters nach Eintracht unter entzweiten Geschwistern, welcher in ein unglaublich packendes Finale mündet.
Somit gehört SIMON BOCCANEGRA stilistisch zu den interessantesten Schöpfungen Verdis, da die vorwiegend in düsteren Farben gehaltene Komposition auf Belcanto Seligkeit verzichtet, zugunsten eines „modernen“ Operndramas.
Musikalische Höhepunkte:
Il lacerato spirito, Arie des Fiesco Prolog
Come in quest’ora bruna, Arie der Amelia, Akt I
Vieni a me , Duett Fiesco(Andrea)-Adorno, Akt I
Plebe! Patirzi! Popolo!, Monolog des Boccanegra und Concertato, Finale Akt I
Sento avvampar nell’anima, Arie des Adorno, Akt II
Suo padre sei tu, Terzett Boccanegra, Amelia, Adorno, Finale Akt II