Zürich, Opernhaus: SIMON BOCCANEGRA, 27.09.2024
Wiederaufnahme der Produktion von 2020 mit George Petean (anstelle des erkrankten Christian Gerhaher) in der Titelrolle
Melodramma in einem Prolog und drei Akten | Musik: Giuseppe Verdi | Text: Francesco Maria Piave und Arrigo Boito | Uraufführung: 12. März 1857 im Teatro La Fenice,Venedig, zweite Fassung 24. März 1881 im Teatro alla Scala, Mailand | Aufführung in Zürich: 27.9. | 4.10. | 13.10. | 19.10. | 25.10.2024
Kritik:
Einmal mehr stellte sich heraus, dass ein Live-Erlebnis einer Opernaufführung durch keine technisch noch so raffiniert gemachte TV-Übertragung zu ersetzen ist. So auch bei diesem Zürcher SIMON BOCCANEGRA, einer Produktion, die zu Corona Zeiten nur dank einer TV-Ausstrahlung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden konnte. Wie man weiter unten lesen kann, hatte ich die damalige Premiere am TV nicht nur positiv besprochen. Doch nach dem überwältigenden Erlebnis letzten Freitag anlässlich der Wiederaufnahme knapp vier Jahre später, kann ich nur lobende Worte für die Produktion von Andreas Homoki im raffinierten Bühnenbild von Christian Schmidt finden. Wie sich da die Bühnenelemente der Wandteile auf der Drehbühne mit ihren gigantischen Türen immer wieder zu neuen Labyrinthen, bedrohlichen Zimmerfluchten der Auswegslosigkeit und zu symbolträchtigen Seelenräumen formen, das ist schon meisterhaft gemacht. (Erinnert auch an die später entstanden Zusammenarbeit der beiden beim RING DES NIBELUNGEN, aber hier meines Erachtens weitaus stringenter ausgeführt). Der Sprung von 25 Jahren zwischen dem ersten und dem zweiten Akt wird im Bühnenbild ganz dezent angedeutet: Die Türpaneele sind nun nicht mehr aus gestrichenem Holz, sonder aus milchigem Glas, ein Art Déco Leuchter hängt über der Sitzgruppe im Empfangszimmer des Dogen. Zur stimmigen Ausstattung (Christian Schmidt zeichnete auch für die Kostüme verantwortlich) kommt die genaue Charakterzeichnung der Sänger in der Personenführung von Andreas Homoki, unterstützt durch das Lichtdesign von Franck Evin. Homoki verzichtet auf jegliche Sichten auf Natur (das oft besungene Meer) oder die Stadt Genua. Die Inszenierung ist ganz nach innen, in die seelischen Befindlichkeiten, gerichtet und damit passend zur Musik Verdis, welche bereits in der Einleitung mit den fahl und düster klingenden, tiefen Instrumenten die Stimmung prägnant evoziert. Dass der Chor der Oper Zürich (einstudiert durch Janko Kastelic), der coronabedingt bei der Premiere aus dem Off gesungen hatte, immer noch aus dem Off singt, stört überhaupt nicht, im Gegenteil, er stellt in der Lesart Homokis innere Stimmen der Protagonisten dar, verbunden mit Erinnerungsfetzen. Die Koordination mit dem die Aufführung mit plastisch formender Hand leitenden und der Partitur eine breite Palette an stimmungsvollen Farben entlockenden Paolo Arrivabeni am Pult der wunderbar spielenden Philharmonia Zürich klappt hervorragend.
Sängerisch konnte das Ensemble mit grossen, wunderbar geführten Stimmen auftrumpfen. George Petean, der für den erkrankten Christian Gerhaher eingesprungen war, stellte einen in all seinen Höhen und Tiefen zutiefst berührenden Boccanegra dar. Das war schlicht eine Wucht! Sein mit traumhafter Sicherheit geführter Bariton wurde den enormen Ansprüchen, welche die Titelrolle stellt, weit mehr als nur gerecht, das war eine Sternstunde des intelligenten, ausdrucksstarken Verdi-Gesangs! Jennifer Rowley hatte die Rolle der Amelia bereits vor vier Jahren in der TV-Premiere gesungen. Nachdem sie die Klippen der Auftrittsarie mit zarter Stimmführung (abgesehen von ein paar etwas verwaschenen Phrasen) grossartig gemeistert hatte, entwickelte sie sich im Verlauf der Oper dann zu einem stark gestaltenden Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Omer Kobiljak liess seinen wunderbar timbrierten Tenor bereits bei seinem ersten Einsatz im Off strahlen. Er sang einen ganz starken Gabriele Adorno. Es ist ein Glück, diesen Sänger am Haus zu haben. Dank Petean, Rowley und Kobiljak wurden die Einzelszenen, die Terzette und die Duette dieser drei Protagonisten zu unter die Haut gehenden Showstoppern. Christof Fischesser (er war auch vor vier Jahren bereits dabei gewesen) war ein überaus imposanter Fiesco, der seinen herrlich strömenden Bass ab und an mit einer kleinen Prise leicht aufgerauter Tongebung würzte und so den vielschichtigen Charakter Fiescos dem Publikum eindringlich nahe brachte. Den heimtückisch intrigierenden Paolo Albiani sang nun der Bass-Bariton Andrew Moore, für mich DIE Entdeckung des Abends. Ihm gelang ein überaus packendes Porträt dieses schwarzen Charakters. Neben der überragend gestaltenden stimmlichen Leistung beeindruckte er auch mit einer fesselnden Bühnenpräsenz. Brent Michael Smiths klangstarker Bass war schlicht perfekt in der Rolle Pietros, dieses Mannes aus dem Volk, der sich mit Albiani verbündet hatte. Langer und enthusiastischer Applaus des Publikums im ausverkauften Haus, das eine der düstersten Opern Verdis in einer hochklassigen szenischen und musikalischen Interpretation erleben durfte.
Inhalt:
Genua im 14. Jahrhundert
Prolog
Jacopo Fiesco weigert sich, seine Tochter Maria dem Plebejer Bocanegra zur Frau zu geben und sperrt sie im Haus ein, obwohl sie bereits ein Kind von Boccanegra hat. Doch Maria stirbt. Fiesco verschweigt Boccanegra ihren Tod. Die Aussöhnung der beiden scheitert, weil Boccanegra Fiesco dessen Enkelin nicht zur Erziehung überlassen kann, da sie angeblich entführt worden sei. Boccanegra dringt in Fiescos Haus ein und findet seine tote Geliebte. Erschüttert kommt er aus dem Haus, während ihn das Volk jubelnd als neuen Dogen begrüsst.
Erster bis dritter Akt:
Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen. Amelia Grimaldi (die verschollen geglaubte Tochter Boccanegras) ist verliebt in den Patrizier Gabriele Adorno. Boccanegra jedoch will seinen Kanzler Paolo Albiani mit Amelia verloben. Er entdeckt ein Amulett ihrer Mutter und erkennt in ihr seine Tochter, worauf er Paolos Werbung schroff zurückweist. Paolo ist beleidigt und schwört Rache.
Eine erregte Menge strömt in den Senatssaal, und verlangt Sühne für einen Getreuen Paolos, der von Gabriele Adorno getötet wurde. Amelia kann die Situation entschärfen und berichtet, dass sich der Anstifter ihrer Entführung noch im Saal befinde. Paolo wird gezwungen, die Übeltäter (also sich selbst) zu verfluchen.
Paolo schüttet Gift in den Becher des Dogen Boccanegra und versucht, Fiesco und Adorno zum Aufstand gegen den Dogen zu überreden. Fiesco lehnt ab, Adorno hingegen erklärt sich bereit, den vermeintlichen Nebenbuhler zu töten.
Der Doge trinkt das Gift und schläft ein. Adorno will Boccanegra erdolchen, wird aber im letzten Moment von Amelia daran gehindert. Er erfährt, dass Boccanegra nicht sein Rivale, sondern der Vater seiner Geliebten ist.
Adorno schlägt sich auf die Seite der Plebejer und hilft mit, den Aufstand der Patrizier niederzuschlagen.
Simon Boccanegra liegt im Sterben. Er versöhnt sich mit Fiesco und eröffnet ihm, dass Amelia seine Enkelin ist. Boccanegra segnet sterbend seine Tochter und Adorno, den er zu seinem Nachfolger bestimmt.
Werk:
SIMON BOCCANEGRA markiert einen entscheidenden Schritt auf Verdis Weg zum musikalischen Drama. Arienformen werden aus dramaturgischen Gründen aufgebrochen, das Arioso als musikalisch angereichertes Rezitativ wird zum Zentrum des musikalischen Ausdrucks, gerade in der Partie des Boccanegra, mit dem Verdi eine weitere seiner berührenden Vaterfiguren (Rigoletto, Miller, Nabucco, Philipp II, Georges Germont) geschaffen hat. Gleichzeitig gelingt Verdi mit der musikalischen Schilderung des ligurischen Meeres, in dessen Anblick die Protagonisten seiner Oper immer Trost zu finden scheinen, “eins der größten Beispiele von Landschaftsmalerei oder Naturlaut, die man in der Geschichte der Oper finden kann.” [Luigi Dallapiccola]
24 Jahre nach der durchgefallenen Uraufführung dieser Oper im Jahre 1857 in Venedig machte sich Verdi mit dem Librettisten und Komponisten Arrigo Boito an eine Überarbeitung des Werks, der Titelfigur schenkt er eines der schönsten Concertati der gesamten Verdi-Literatur: “Plebe! Patrizi! Popolo!” – “Plebejer! Patrizier! Volk!” Boccanegras verzweifelter Schrei nach Frieden – die Bitte eines verzweifelten Vaters nach Eintracht unter entzweiten Geschwistern, welcher in ein unglaublich packendes Finale mündet.
Somit gehört SIMON BOCCANEGRA stilistisch zu den interessantesten Schöpfungen Verdis, da die vorwiegend in düsteren Farben gehaltene Komposition auf Belcanto Seligkeit verzichtet, zugunsten eines „modernen“ Operndramas.
Musikalische Höhepunkte:
Il lacerato spirito, Arie des Fiesco Prolog
Come in quest’ora bruna, Arie der Amelia, Akt I
Vieni a me , Duett Fiesco(Andrea)-Adorno, Akt I
Plebe! Patirzi! Popolo!, Monolog des Boccanegra und Concertato, Finale Akt I
Sento avvampar nell’anima, Arie des Adorno, Akt II
Suo padre sei tu, Terzett Boccanegra, Amelia, Adorno, Finale Akt II
Von mir besuchte Aufführungen von SIMON BOCCANEGRA in Zürich in den letzten Jahrzehnten;
1975 :ML: Nello Santi, Insz.: Vaclav Kaslic; mit Antigone Sgourda, Normann Mittelmann, Bonaldo Giaiotti, Bruno Prevedi, Joszef Dene
1995: ML: Nello Santi, Insz.: Marco Arturo Marelli; mit Elena Prokina, Juan Pons, Ruggiero Raimondi, Vincenzo La Scola, Roland Hermann
2002: ML: Marcello Viotti, Insz.: Marelli; mit Barbara Frittoli, José van Dam, Roberto Scandiuzzi, Fabio Sartori, Cheyne Davidson
2009 ML: Carlo Rizzi, Insz.: Giancarlo de Monaco; mit Isabel Rey, Leo Nucci, Roberto Scandiuzzi, Fabio Sartori, Massimo Cavalletti