Zürich: LE COMTE ORY, 16.01.2022
Oper in zwei Akten | Musik: Gioachino Rossini | Libretto: Eugène Scribe und Charles-Gaspard Delestre-Poirson |
Uraufführung: 20. August 1828 in Paris | Letzte Aufführungen dieser Wiederaufnahme in Zürich: 14.1. | 16.1. | 20.1.2022
Kurzkritik
Wenn ich meine Rezension der Premiere von Rossinis zweitletzter Oper LE COMTE ORY von vor fast genau elf Jahren durchlese, kann ich es kaum fassen, dass ich damals so begeistert war. Natürlich bin ich älter geworden (hoffentlich auch reifer ... ), finde eventuell nach zwei Jahren Pandemie und #metoo Debatte auch nicht mehr alles Boulevard - und Zotenhafte lustig, habe mehr Lust auf wirkliche Ausgrabungen aus dem reichhaltigen Fundus der Operngeschichte. Denn dieses Konglomerat oder Pasticcio aus früheren Werken Rossinis überzeugt mich nicht (mehr). Dafür können die Ausführenden selbstredend nichts, sie gaben ihr Bestes. Zugegebenermassen musste ich im Verlauf des Abends auch ein paarmal schmunzeln, doch so richtig lustig ist sie eigentlich nicht, die Geschichte über den übergriffigen, dauergeilen Grafen Ory, der Frauen jeden Alters reihenweise flachlegt, und am selbst Ende genasführt wird, vermag höchstens ein müdes Lächeln auszulösen. Musikalisch weist das Werk neben pointierten rossinischen Perlen doch auch einige Längen auf. Trotz der wirklich einfallsreichen und stimmigen Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier im herrlich detailverliebten Bühnenbild von Christian Fenouillat, welche für diese Wiederaufnahmenserie sorgfältig neu einstudiert wurde und mit grosser Spielfreude des Ensembles und des Chores aufwartete, vermochte die Aufführung nur streckenweise zu fesseln.
Wie gesagt, die Ausführenden auf der Bühne und im Graben machten nichts falsch: Mit gekonnt platzierten Akzenten, mechanischer Räderwerkmusik, subtilen accelerandi und organischen crescendi setzte die Philharmonia Zürich unter der schwungvollen Leitung von Victorien Vanoosten Rossinis Partitur um. Von der ursprünglichen Premierenbesetzung sind Liliana Nikiteanu als umwerfend komische Ragonde und Rebeca Olvera als mit herrlichen Koloraturen und wunderschönen Spitzentönen auftrumpfender Page Isolier übrig geblieben. Oliver Widmer als Orys Gehilfe Raimbaud war ebenfalls bereits 2011 mit dabei. Neu besetzt sind Graf Ory, die Gräfin Adèle und der Gouverneur. Edgardo Rocha glänzte als Ory mit fantastischer szenischer und stimmlicher Präsenz, blieb der hohen Tessitura dieser tenore di grazia Partie nichts an Geschmeidigkeit und Höhensicherheit schuldig. Klasse! Auch Brenda Rae als Adèle glänzte mit stupenden Koloraturketten, agiler Stimmführung, vorgetäuschter Schwermut und herrlichem Spiel. Man muss in dieser Oper zwar relativ lange auf den Auftritt der weiblichen Hauptfigur warten, doch dieser Auftritt (eher eine Anfahrt) im 2CV hatte es in sich. Andrew Moore stattete den Gouverneur mit wendigem Bass aus, seine grosse Arie im ersten Akt ein Hochgenuss. Vortrefflich gelang das a cappella concertato des gesamten Ensembles im ersten Akt.
Es ist verständlich, dass man die 2011 so erfolgreiche Produktion ab und zu wiederaufnimmt. Die bis ins letzte Detail in Kostümen und Bühne genau die Nachkriegsjahre in einer französischen Kleinstadt zeichnende Inszenierung ist schon sehenswert. Mit einer Neuproduktion des Werks kann man aber getrost wieder mindestens 30 Jahre ins Land ziehen lassen (so lange dauerte es von der Produktion aus der Ära Drese bis zu der Premiere von 2011, die in die letzte Spielzeit Pereiras fiel). Es warten unzählige weitere Schätze (auch komische Opern), die es aus den weit über 100'000 komponierten Bünenwerken zu heben gilt.
Die nächste Rossini-Premiere steht übrigens bald bevor, am 6. März wird L'ITALIANA IN ALGERI präsentiert, erneut eine Opera buffa aus der Feder des Vielschreibers Rossini. Zudem wird auch IL TURCO IN ITALIA im Februar wieder aufgenommen. Die Liebhaber der komischen Opern Rossinis werden also (zu?) sehr verwöhnt.
Werk:
LE COMTE ORY ist Rossinis vorletzte Oper. Danach folgte nur noch der GUILLAUME TELL. Auch LE COMTE ORY wurde für Paris komponiert, da Rossini in dieser Zeit Direktor des Théâtre Italien in der französischen Hauptstadt war. Allerdings erlebte der COMTE ORY seine Uraufführung in der Opéra, und dies bedeutete neben dem Verzicht auf gesprochenen Dialog durchkomponierte Szenen, d.h. die Verschmelzung von Rezitativen mit Einzelnummern zu musikalischen Grossformen. Die Rolle des Grafen Ory gehört zu den Paraderollen von Rossini-Tenören, welche jedoch über eine extreme Leichtigkeit in der Höhe und eine saubere Intervall-Sprungtechnik ohne schleifendes Mogeln verfügen müssen. Von Juan Diego Flórez zum Beispiel liegen bravouröse Einspielungen auf CD und DVD vor.
Rossini (wie auch Händel) war ein Meister im Recyclieren eigener Musik. Grosse Teile des COMTE ORY entnahm er seiner Festtoper IL VIAGGIO A REIMS. Für den zweiten Akt allerdings komponierte er viele Nummern neu, und die gehören zu seinen schönsten Einfällen. Raffinierte Orchestrierung und subtile Ironie prägen die Partitur.
In Zürich wird nun, 30 Jahre nach der letzten Produktion, auf Originalinstrumenten gespielt (Orchester LA SCINTILLA) und die Neuedition des Bärenreiter-Verlags benutzt, welche auf dem Aufführungsmaterial der Uraufführung basiert und die zahlreichen Veränderungen und Verfälschungen der Aufführungspraxis der vergangenen 180 Jahre korrigiert.
Inhalt:
Der wollüstige Graf Ory will von der kriegsbedingten Abwesenheit vieler Ehemänner im Land profitieren, verkleidet sich als Eremit und als Nonne, um sich so an die Frauen, welche ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, heranzumachen, wird aber immer wieder enttarnt und muss schliesslich von dannen ziehen, ohne zum Ziel gelangt zu sein.
Musikalische Höhepunkte:
Kavatine der Adele: En proie de la tristesse, Akt I
Finale Akt I
Trinkgelage der vermeintlichen Nonnen, das in religiöse Gesänge umschlägt, Akt II
Terzett Ory-Isolier-Adele: À la faveur de cette nuit obscure, Akt II