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Zürich: GUILLAUME TELL, 13.11.& 26.11.2010

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Guillaume Tell

©aller Bilder Suzanne Schwiertz

Oper in vier Akten |

Musik: Gioachino Rossini |

Libretto : Victor-Joseph Etienne de Jouy und Hippolyte Louis Florent Bis (nach dem Schauspiel von Schiller und dem Prosagedicht von Jean-Pierre Claris de Florian |

Uraufführung: 3. August 1829 in Paris |

Aufführungen in Zürich: 12.11. | 16.11. | 21.11. | 23.11. | 26.11. | 2.12 | 7.12.2010

Kritik:

Der Vorhang öffnet sich – Szenenapplaus (Postauto-Endhaltestelle, wunderschöner Panoramablick auf Innerschweizer Berglandschaft). Raunen im Publikum (ist er es wirklich?): Ein Alt-Bundesrat in Fleisch und Blut (ja, er ist es wirklich!) schiebt sein mit leeren Aktenordnern beladenes altmodisches Fahrrad auf die Bühne und bittet höflichst um einen Sitzplatz auf den roten Bänken des Verkehrsvereins – Lacher, wieder Applaus. Endlich kann Maestro Gianluigi Gelmetti den Taktstock heben, das Vorspiel (wohl eines der bekanntesten der gesamten Opernliteratur) kann beginnen. Zu den getragenen Klängen der Celli erreichen Betagte und Behinderte den Aussichtspunkt, doch die besten Plätze sind bereits besetzt. Das Gewitter kündigt sich an: Nun kommen die angeschlagenen Banker mit ihren Aktentaschen. Die Stürme an den Finanzmärkten haben ihnen arg zugesetzt. Zum Ranz-des -vaches, dem Kuhreigen, gesellen sich Menschen in traditionellen Trachten dazu, schweizerischen und aussereuropäischen, auch Nonnen sind dabei und eine Burkaträgerin. Doch schon setzt der Marsch ein, Abschrankungen werden aufgebaut, alle Fremden, die (Schein-)invaliden, die (Schein-)asylanten, die Alten und die Banker werden eingezäunt, von den tugendhaften Schweizern abgegrenzt, der Ausblick ins Bergparadies wird ihnen verwehrt – sie stellen eine Bedrohung der Schweizer Identität dar. So lässt Regisseur Adrian Marthaler den von Rossini vertonten Mythos um den Helden Tell beginnen – und das gut betuchte Premierenpublikum, welchem man gar nicht so viel Sinn für Selbstironie zugetraut hätte, jubelt. Doch schon erscheinen Schillers Verse zum Rütlischwur – allerdings in Frageform – auf dem Zwischenvorhang: Wollen wir sein ein einzig Volk … ? Welcher Art die Bedrohungen, wer die „fremden Vögte“ von heute sind, wird bald klar. Es sind die Kommissare der EU (Rodolphe), welche sogar mit einer Armee ins Urnerland einmarschieren und alles raffgierig beschlagnahmen, was sich die ach so fleissigen Schweizer im Verlauf der Geschichte erarbeitet haben: Die Toblerone, das Swiss Army Knife, den Käse, die Goldbarren … . Das können sich die Frauen und Mannen natürlich nicht bieten lassen. Flugs wird der Rütlischwur erneuert, der Apfelschuss schnell abgehandelt – und Gessler mit der Wunderwaffe (wahrscheinlich einer Laser- oder Elektroschocker-Armbrust) niedergestreckt. Marthaler gelingt damit das Kunststück, eng an der vorgegebenen Handlung zu bleiben – und trotzdem eine augenzwinkernde Distanz zu schaffen. Köstlich und doch scharfsinnig! Das wunderschöne Bühnenbild von Jörg Zielinski und die stimmigen, die Personen genau charakterisierenden Kostüme von Marcel Keller unterstreichen die klugen Intentionen des Regisseurs. Elfried Roller hat dazu eine ausgeklügelte Lichtgestaltung beigesteuert, welche die Berge mal tröstend, beschützend und warm, dann wieder eiskalt und abweisend erscheinen lässt.

Mit Maestro Gelemtti dirigierte ein Rossini-Spezialist erster Güte das Orchester der Oper Zürich. Nicht nur der Solocellist Massimiliano Martinelli (zum Dahinschmelzen) liess aufhorchen, auch an den anderen Pulten wurde präzise und mit hörbarer Lust musiziert: Zauberhafte Phrasen der Holzbläser, bedrohliche Paukenwirbel, grandiose Einwürfe des Blechs und zarte Streicherklänge evozierten Rossinis Bilderbuch-Schweiz. So schön, dass der Komponist manchmal selbst über die Bühne spazierte, sich am Klang seiner eigenen Musik erfreute und die Darsteller vor ihm - dankbar für die wunderbaren Kantilenen, welche er ihnen in die geläufigen Gurgeln komponiert hatte - den Kopf neigten.

Michele Pertusi war in jeder Beziehung ein überragender Tell: Sein warmer, einnehmender Bariton vermochte mühelos Zuversicht und Unerschütterlichkeit zu verbreiten, seine natürliche Darstellung des „Helden“ hatte etwas überaus Gewinnendes an sich. Selbst die „Hodler-Pose“ beherrschte er perfekt. Wiebke Lehmkuhl sang seine Gemahlin Hedwige mit dermassen berührender Intensität, dass man sich gewünscht hätte, Rossini hätte für sie mehr als das Terzett und das kurze Gebet nach ihrem Beinahe-Suizid im vierten Akt komponiert. Martina Janková musste nicht in einer Hosenrolle auftreten: Sie bereicherte mit ihren Glockentönen als burschikoses Mädchen Jemmy die Ensembles. (Schade, dass man nicht den Mut gehabt hatte, die Arie der (des) Jemmy, welche Rossini eventuell für den dritten Akt vorgesehen hatte, erstmals in einer Aufführung zu spielen. Frau Janková hätte sie bestimmt mit Bravour gemeistert.) Auf der Seite der Eidgenossen durfte man sich noch an Pavel Daniluk (der alte Melchthal), Reinhard Mayr (Walter Fürst), Domenico Menini (Ruodi) und George Humphreys (als blutüberströmtem Leuthold) erfreuen. Der gegnerischen Seite gaben Alfred Muff (eher grobschlächtig singend) als Gessler und vor allem der herrlich schmierig agierende Andreas Winkler als Rodolphe Gewicht. Und zwischen diesen beiden Welten das Liebespaar Mathilde von Habsburg und Arnold von Melchthal: Eva Mei und Antonino Siragusa debüttierten in ihren anspruchsvollen Partien. Frau Mei sang ihre bekannte Romanze Sombre forêt im zweiten Akt mit grosser Anmut und Leichtigkeit und verlieh ihrem bebenden Herzen bewegenden Ausdruck im anschliessenden Duett mit ihrem Geliebten. Weniger gut gelang ihr die dramatischere Arie des dritten Aktes, die Leichtigkeit wich einer Anspannung, welche sich in verhärteten Koloraturen manifestierte. In jeder Lage mühelos und alle überstrahlend sang Antonino Siragusa den Arnold: Welch eine Technik, welch eine Phrasierungskunst. Die Verzierungen und die an- und abschwellenden Töne bruchlos vom Atem getragen mit einer scheinbar schwerelosen Leichtigkeit ausgeführt und natürlich alles bis in höchste Regionen mit überaus raumfüllender Bruststimme vorgetragen (die voix mixte, welche Rossini und seinen Zeitgenossen eigentlich vorschwebte, scheint nicht mehr gefragt zu sein). Macht aber nichts, sein Gesang war begeisternd!

Einen nicht unerheblichen Anteil am überwältigenden Eindruck, welchen der Abend hinterliess, hatte der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor der Oper Zürich: Vom packend gestalteten Bund der Männer auf dem Rütli bis zum erhebenden Schlussgesang, welcher aus dem Zuschauerraum erklang. Auf der Bühne war für die Mannen und Frauen nämlich kein Platz mehr: Nachdem vor der Schlussapotheose nochmals der Text von Schiller (diesmal ohne Fragezeichen) erschienen war, hob sich der Zwischenvorhang und man sah die kleine Schweiz kalt, verlassen und einsam dahintreiben, während im Hintergrund Europa als Sternenhimmel leuchtete. Wollen wir wirklich um den Preis dieser Einsamkeit gegen die ach so bösen fremden Vögte kämpfen?

Nachtrag: Aufführung vom 26.11.2010

Der positive Eindruck der Premiere hat sich weitest gehend bestätigt, einige sängerische Leistungen sind sogar noch besser geworden. So vermochte zum Beispiel Eva Mei diesmal auch in der Arie des dritten Aktes zu überzeugen, die Koloraturen perlten wie an Silberfäden festgemacht. Das grosse Duett mit Arnold im zweiten Akt war ein Traum. Antonino Siragusa war wiederum in grandioser Form, bestach durch Sicherheit, perfekte Phrasierung und die Weite seines dynamischen Ausdrucksspektrums. Domenico Meninis Arie des Ruedi geriet viel besser als in der Premiere, Reinhard Mayrs sonor gesungener Walter Fürst war beeindruckend. Das Terzett Mayr, Siragusa, Pertusi (wiederum überragend als Tell, genauso wie die weiblichen Personen seiner Familie, Wiebke Lehmkuhl und Martina Jonková) war einer der vielen Höhepunkte dieser Aufführung - welche auch ohne den Auftritt des Alt-Bundesrats begeisterte. Da durfte man angesichts des hinreissenden Gesamteindrucks auch über einige Patzer im Orchester grosszügig hinwegsehen.

Fazit:

Mit augenzwinkernder Ironie in Szene gesetzt – und musikalisch ein Hochgenuss! Nicht verpassen!

Inhalt:

Arnold von Melchthal liebt die habsburgische Prinzessin Mathilde. Tell will ihn überzeugen, sich am Aufstand gegen die Habsburger anzuschliessen. Tell rettet Leuthold, der einen österreichischen Soldaten wegen der Schändung seiner Tochter erschlagen hat, vor seinen Verfolgern. Die Östereicher zünden aus Wut über den entkommenen Leuthold Häuser an.

Arnold ist zerrissen zwischen Liebe und Vaterland. Doch da der alte Melchthal von Gesslers Schergen erschlagen wurde, schliesst sich Arnold den Aufständischen von Uri, Schwyz und Unterwalden an. Diese beschliessen den Bund gegen die Fremdherrschaft. (Rütlischwur)

Das Volk muss Gesslers Hut die Reverenz erweisen. Tel weigert sich. Als Strafe muss Tell einen Apfel, welcher auf das Haupt seines Sohnes Jemmy gelegt wird, treffen. Zwar gelingt der Schuss, doch Tell wird trotzdem verhaftet, da er Gessler provoziert. Mathilde nimmt Jemmy in Obhut.

Arnold setzt sich an die Spitze der Aufständischen. Mathilde bringt Jemmy seiner Mutter Hedwige zurück. Jemmy zündet das Haus seines Vaters an und gibt damit das Zeichen zum offenen Aufstand. Tell kann sich im Sturm vom Schiff retten, welches ihn ins Gefängnis nach Altorf hätte bringen sollen. Jemmy überreicht dem Vater dessen Waffe. Damit erschiesst Tell den Landvogt Gessler. Die Burg der Besatzer wird gestürmt; ein Lob auf die Freiheit beschliesst die Oper.

Werk:
Rossini hatte innerhalb von 20 Jahren 38 Opern geschrieben. Als er sich an sein letztes Werk für die Bühne, den TELL, machte, fühlte sich der Vielschreiber wohl ein wenig ausgebrannt, war jedoch beeindruckt von einer Aufführung von Aubers LA MUETTE DE PORTICI. Deshalb wollte er der Welt noch beweisen, dass auch er, der Meister der seelenlosen Koloraturen und Rouladen, imstande war, eine Grand opéra zu schreiben. Obwohl das Publikum die Oper zunächst eher zurückhaltend aufnahm, waren die Kritiker und Musikerkollegen vom TELL begeistert. Rossini spürte aber auch, dass nun eine neue Zeit des Musiktheaters anbrechen sollte, der er mit seinem Stil nicht mehr gewachsen war. Obwohl er noch 40 Jahre lebte, schrieb er keine Oper mehr, widmete sich seinen Kochkünsten und der gelegentlichen Komposition von Sakral- oder Kammermusik. Mit dem TELL allerdings gelang ihm zum Abschluss seiner erfolgreichen Karriere als Opernkomponist ein wirklich grosser Wurf, diese Oper ist Rossinis reifstes Opus. Das Werk dauert ungekürzt mindestens fünf Stunden, enthält, wie es damals für die Opéra zwingend war, eine Ballettmusik (allerdings von herausragender Qualität), umfangreiche Chorszenen und eine Fülle von musikalischen Einfällen, welche jedoch nie Selbstzweck sind (wie manchmal in seinen früheren Werken), sondern stets im Dienste der dramaturgischen Entwicklung der Handlung und der Charakterisierung der Personen stehen.

Musikalische Höhepunkte:

Ouvertüre

Où vas tu, Duett Tell-Arnold, Akt I

Dieu de bonté, Finale Akt I

Sombre forêt, Romanze der Mathilde, Akt II

Quand l'Helvétie, Terzett Tell-Arnold-Walter, und anschliessendes Finale (Rütlischwur)

Akt II

Pour notre amour, Arie der Mathilde, Akt III

Sois immobile, Tell Akt III (Apfelschuss)

Ne m'abandonne pas...Asile héréditaire, Szene und Arie des Arnold, Akt IV

Tout change et grandit en ces lieux, das ergreifende Finale, Musik von überirdischer Schönheit!

 

Informationen und Karten



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