Zum Hauptinhalt springen Skip to page footer

St.Gallen, Theater: GUILLAUME TELL; 12.05.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Guillaume Tell

Copyright aller Bilder: Edyta Dufaj, mit freundlicher Genehmigung Theater St.Gallen

Rossinis letzte Oper in einer Neuproduktion in St.Gallen

Oper in vier Akten | Musik: Gioachino Rossini | Libretto : Victor-Joseph Etienne de Jouy und Hippolyte Louis Florent Bis (nach dem Schauspiel von Schiller und dem Prosagedicht von Jean-Pierre Claris de Florian | Uraufführung: 3. August 1829 in Paris | Aufführungen in St.Gallen: 05.5.| 12.5. | 14. 5. | 17.5. | 26.5. | 2.6. | 6.6.2024

Kritik: 

Als ich mir die Pressebilder dieser Neuproduktin von Rossinis letzter Oper GUILLAUME TELL ansah, dachte ich: Oh wow, eine Grand Opéra, inszeniert im Stil einer Lichtinstallation à la Robert Wilson, das könnte interessant werden. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuss: Auf der leeren Bühne von Jamie Vartan sieht man vier Halbrahmen, oben offen, unten die Pfeiler gerundet, die Betonarchitektur des Theaters St.Gallen fortführend, der hintere Teil durch einen Gazevorhang abgetrennt. Vier Frauen sitzen auf dieser leeren Bühne; sie entpuppen sich als Tänzerinnen, welche die Stimmungen von Rossinis bekannter Wunschkonzert-Ouvertüre in ihrem Tanz aufnehmen. Eine Bitte an die lieben Regisseur*innen, Choreograf*innen und Intendant*innen: Wenn die "Bebilderungen" einer Ouvertüre keinen inhaltlichen Mehrwert (z. B. Vorgeschichte, Einblicke in psychische Verfassungen der Protagonist*innen etc.) bringen, dann lasst den Vorhang zur Ouvertüre lieber geschlossen. Denn der "Tanz" dieser vier Damen war nun wirklich von peinlicher Naivität, eine nichtssagende Verdoppelung der Emotionen, welche die Ouvertüre transportiert. Das hätte man sich und dem Publikum ersparen sollen. Im Verlauf des Abend treten diese vier Tänzerinnen immer wieder auf, oftmals zugegebenermassen poetisch bereichernd (so etwa als Gämsen - die habsburgischen Jäger hatten damit geprahlt, alle Waldtiere erlegt zu haben - in den Waldszenen und im Schlussbild, oder als blutüberströmte Opfer der habsburgischen roten Raubvögel, welche die leidenden Urner mit ihren gigantischen Schnäbeln vergewaltigt und malträtiert hatten, als archaisch maskierte Hutzelweiber, als Trägerinnen von Schiffsatrappen im Sturm auf dem Urnersee). Wenn der Gazevorhang nach der Ouvertüre sich dann hebt, gibt er den Blick auf die durch Leuchtröhren dargestellten Konturen eines Horizonts aus Berggipfeln frei (ich meinte, den Säntis zu erkennen). Das ist ausgezeichnet gemacht, reduced to the max, und doch stimmig und würde durch das Fehlen von Requisiten eigentlich eine grosse Spielfläche für den Chor abgeben. Leider wird der Chor oftmals ziemlich trottelig bewegt, gerade in der ländlichen Dreifachhochzeit ist das ein dermassen tapsiges, unbeholfenes Getrampel, dass man auf die Idee kommt, dem Regisseur Julien Chavaz sei es darum gegangen, die Folgen der jahrhundertelangen Inzucht in diesem abgeschiedenen Bergtal aufzuzeigen. Gelungener ist dann die Szene auf dem Platz in Altorf, wo die Bergler nicht einem Hut, sondern einem gigantischen, roten Greif die Referenz erweisen müssen. Gesler (ich übernehme die Schreibweise der Namen dem französischen Libretto) räkelt sich gelangweilt auf einem hohen roten Schiedsrichterstuhl, wie bei einem Tennismatch. Der Apfelschuss wird komplett pantomimisch stilisiert dargestellt, mit einem riesigen Pfeilbogen und einem tönernen Apfel, der Jemmy über den Kopf gestülpt wird. Wenn Tell dann trifft, gibt's keinen theatralischen Effekt. Sehr stimmig kommen die Sturmszene auf dem Urnersee mit dem Spiel der schwebenden Leuchtröhren und den stilisierten Bootsatrappen und die Schlussszene daher. Das Lichtdesign von Sinéad Wallace und Andreas Enzler überzeugt- es gibt fantastische Licht- und Schattenwürfe zu bestaunen, die Farbwechsel auf der Rückwand schaffen eindringliche Stimmungen, davon hätte man gerne noch mehr gesehen. Im Bewegungsvokabular gibt es einige eher belanglose Stereotypen oder gar lächerliche Verniedlichungen zu sehen, immer wieder gereckte Fäuste und die Bewaffnung mit dürren Holzstöckchen für die Eidgenossen auf dem Rütli. Durch die Mischung aus abstrakter Stilisierung und etwas tumbem Bewegungsvokabular kann keine emotionale Nähe zu den Protagonisten aufgebaut werden, man verfolgt die Handlung eher distanziert. Als ausgesprochen träf empfand ich die Kostümdramaturgie von Severine Besson: Gebrochene, pastellartige Weiss- und Beigetöne für die Bergler, blutiges Rot für die habsburgischen Besatzer.

Rossinis letzte Oper ist nicht nur - aber auch - eine grosse Choroper. Der Chor des Theaters St.Gallen und der Opernchor St.Gallen füllen ihre Rolle als gewichtiger Handlungsträger mit klanglicher Raffinesse und - wo nötig - unter die Haut gehender Durchschlagskraft aus. Das klingt alles überragend schön und mit Seele erfüllt. Der neue Chordirektor Filip Paluchowski hat grossartige Vorbereitungsarbeit geleistet - genauso wie der Dirigent Michael Balke mit dem Sinfonieorchester St. Gallen, welches Rossinis wunderbare Melodien mit differenzierter Dynamik und herrlichen Phrasen zum Erklingen bringt. Solocello und Flöte verdienen ganz besondere Erwähnung, aber auch das Blech spielt blitzsauber! Da findet unter Balkes sorgsamer Leitung das so typisch Federnde Rossinis genauso statt wie die auf Donizetti und Verdi vorausweisenden, dramatischen Zuspitzungen. Mit ausgezeichneten Stimmen sind die anspruchsvollen Rollen dieser grossen Oper besetzt: In der Titelpartie erlebt man Theodore Platt mit seinem weichen, wunderbar balsamisch klingenden Bariton, kein kriegerischer Superheld, eher ein fürsorglicher, Ruhe ausstrahlender Softie, der sich aber trotzdem (oder gerade eben) auf diese Weise Respekt erkämpft. Sein Sois immobile in der Apfelschusszene ist von überragender Schönheit. Mit Jonah Hoskins in der Rolle des Arnold Melcthal (ja, so wird der Name im Libretto geschrieben!) darf man in St.Gallen einen jungen Tenor erleben, von dem man bestimmt noch viel hören und lesen wird: Was für eine herausragend und stilsicher geführte Stimme, mit leuchtenden Spitzentönen. Sowohl für seine grosse Arie im vierten Akt Asile héréditaire als auch für die ausladenden Duette mit Mathilde und Tell verfügt er über den grossen Atem und die überlegene Phrasierungskunst, welche die Partie erfordert. Nur schon um diese beiden Sänger zu erleben lohnt sich der Ausflug nach St.Gallen. Dazu gesellt sich mit Athanasia Zöhner als Mathilde eine stimmstarke Sopranistin, welche mittels differenzierter Dynamik sowohl die diffizile Beziehung zu Melcthal auszuloten vermag, als auch ihrem energischen Einsatz für Jemmy und dem Aufstand gegen Gesler am Ende der Apfelschussszene das notwendige dramtische Gewicht zu verleihen im Stande ist. In den dramatischen Ausbrüchen mag sie für meinen Geschmack ab und an etwas zu metallisch klingen, aber sie bleibt stets sicher auf Linie, verfügt über zarte Piani, umflort von dezentem, angenehmem Vibrato. Ihre Auftrittsarie Sombre forêt zu Beginn des zweiten Aktes gelingt ihr vortrefflich. Verspielt und keck, mit wunderbar leuchtendem, hellem Sopran begeistert Kali Hardwick in der Hosenrolle als übermütiger Jemmy und bereichert auch mit glockenartigen Tönen die Ensembles. Grossen Eindruck macht der stimmstarke Christoph Sokolowski als Rodolphe, Geslers Mann fürs Grobe. Kristján Jóhannesson gibt einen kernig singenden, gekonnt sadistisch und menschenverachtend agierenden Gesler, der seine morbide Lust am Quälen hinter einer diabolischen Lässigkeit (sein "Dirigat" des Chors der gedemütigten Bergler!) versteckt. Sehr erfreut war man über die Rückkehr des ehemaligen Ensemblemitglieds Martin Summer ans Theater St. Gallen. Er verleiht dem kurzen Auftritt des alten Melcthal im ersten Akt bassgewaltiges Gewicht. Msimelelo Mbali singt einen warmstimmigen Walter Furst. Sarah Alexandra Hudarew ist als Tells Ehefrau Hedwige eine gute Besetzung. Aufhorchen lässt Riccardo Botta als Ruodi mit einer wunderbar höhensicheren Interpretation der zweistrophigen Ariette in der Eröffnungsszene. David Maze ist ein eindringlich gestaltender Leuthold und Andrzej Hutnik verleiht dem Jäger seinen sonoren Bass. 

Am Ende, nach dem aufwühlenden Sturm, sieht man zwar nicht die Gletscher, den ruhigen See und die Sonnenstrahlen, die durch die Wolken auf die befriedete Landschaft scheinen, doch Rossinis so überwältigende Klänge vermögen das alles akustisch zu evozieren: Wenn Tell anhebt mit Tout change et grandit dans ces lieux, das gesamte Ensemble (natürlich ohne Gesler und Rodolphe) einstimmt und mit tief zu Herzen gehender Emphase die neu gewonnene Freiheit begrüsst, dann preist man innerlich Rossini, den Schöpfer dieser gewaltigen Musik - und man weiss, weshalb man Oper liebt!

Inhalt:

Arnold von Melchthal liebt die habsburgische Prinzessin Mathilde. Tell will ihn überzeugen, sich am Aufstand gegen die Habsburger anzuschliessen. Tell rettet Leuthold, der einen österreichischen Soldaten wegen der Schändung seiner Tochter erschlagen hat, vor seinen Verfolgern. Die Östereicher zünden aus Wut über den entkommenen Leuthold Häuser an.

Arnold ist zerrissen zwischen Liebe und Vaterland. Doch da der alte Melchthal von Gesslers Schergen erschlagen wurde, schliesst sich Arnold den Aufständischen von Uri, Schwyz und Unterwalden an. Diese beschliessen den Bund gegen die Fremdherrschaft. (Rütlischwur)

Das Volk muss Gesslers Hut die Reverenz erweisen. Tel weigert sich. Als Strafe muss Tell einen Apfel, welcher auf das Haupt seines Sohnes Jemmy gelegt wird, treffen. Zwar gelingt der Schuss, doch Tell wird trotzdem verhaftet, da er Gessler provoziert. Mathilde nimmt Jemmy in Obhut.

Arnold setzt sich an die Spitze der Aufständischen. Mathilde bringt Jemmy seiner Mutter Hedwige zurück. Jemmy zündet das Haus seines Vaters an und gibt damit das Zeichen zum offenen Aufstand. Tell kann sich im Sturm vom Schiff retten, welches ihn ins Gefängnis nach Altorf hätte bringen sollen. Jemmy überreicht dem Vater dessen Waffe. Damit erschiesst Tell den Landvogt Gessler. Die Burg der Besatzer wird gestürmt; ein Lob auf die Freiheit beschliesst die Oper.

Werk:
Rossini hatte innerhalb von 20 Jahren 38 Opern geschrieben. Als er sich an sein letztes Werk für die Bühne, den TELL, machte, fühlte sich der Vielschreiber wohl ein wenig ausgebrannt, war jedoch beeindruckt von einer Aufführung von Aubers LA MUETTE DE PORTICI. Deshalb wollte er der Welt noch beweisen, dass auch er, der Meister der seelenlosen Koloraturen und Rouladen, imstande war, eine Grand opéra zu schreiben. Obwohl das Publikum die Oper zunächst eher zurückhaltend aufnahm, waren die Kritiker und Musikerkollegen vom TELL begeistert. Rossini spürte aber auch, dass nun eine neue Zeit des Musiktheaters anbrechen sollte, der er mit seinem Stil nicht mehr gewachsen war. Obwohl er noch 40 Jahre lebte, schrieb er keine Oper mehr, widmete sich seinen Kochkünsten und der gelegentlichen Komposition von Sakral- oder Kammermusik. Mit dem TELL allerdings gelang ihm zum Abschluss seiner erfolgreichen Karriere als Opernkomponist ein wirklich grosser Wurf, diese Oper ist Rossinis reifstes Opus. Das Werk dauert ungekürzt mindestens fünf Stunden, enthält, wie es damals für die Opéra zwingend war, eine Ballettmusik (allerdings von herausragender Qualität), umfangreiche Chorszenen und eine Fülle von musikalischen Einfällen, welche jedoch nie Selbstzweck sind (wie manchmal in seinen früheren Werken), sondern stets im Dienste der dramaturgischen Entwicklung der Handlung und der Charakterisierung der Personen stehen.

Musikalische Höhepunkte:

Ouvertüre

Où vas-tu, Duett Tell-Arnold, Akt I

Dieu de bonté, Finale Akt I

Sombre forêt, Romanze der Mathilde, Akt II

Quand l'Helvétie, Terzett Tell-Arnold-Walter, und anschliessendes Finale (Rütlischwur)

Akt II

Pour notre amour, Arie der Mathilde, Akt III

Sois immobile, Tell Akt III (Apfelschuss)

Ne m'abandonne pas...Asile héréditaire, Szene und Arie des Arnold, Akt IV

Tout change et grandit en ces lieux, das ergreifende Finale, Musik von überirdischer Schönheit!

Karten

Zurück