Winterthur, Stadthaus: RAVEL, BURKHARD, SCHUMANN; 22.01.2024
Heinz Holliger am Pult des Musikkollegiums Winterthur ruft zusammen mit dem Geiger Sebastian Bohren Willy Burkhards Violinkonzert und Schumanns Fantasie für Violine und Orchester in Erinnerung
Werke:
Maurice Ravel: LE TOMBEAU DE COUPERIN | Uraufführung der Klavierfassung: 11. April 1919 in Paris, die Orchesterfassung wurde am 28. Februar 1920 uraufgeführt | Willy Burkhard: KONZERT FÜR VIOLINE UND ORCHESTER Nr. 2, op. 69 | Uraufführung: 26. Januar 1945 in Zürich mit Steffi Geyer, Leitung Paul Sacher| Robert Schumann: Fantasie für Violine und Orchester a-Moll, op. 131 | Uraufführung: 27.10.1854 in Düsseldorf mit Joseph Joachim, unter der Leitung des Komponisten | Robert Schumann: Sinfonie Nr. 4 d-Moll, op. 120 | Uraufführung (revidierte Fassung): 3. März 1853 in Düsseldorf | Das Musikkollegium Winterthur gastiert mit diesem Programm am 23.1. in Brugg, am 24.1. in Schaffhausen und am 25.1. in Chur
Kritik:
Viel neu Entdecktes und Beglückendes nahm man nach diesem Konzert mit auf den Heimweg. An erster Stelle steht die Begegnung mit dem beseelenden Violinkonzert von Willy Burkhard, welches der Solist des Abends, der Geiger Sebastian Bohren, das Musikkollegium Winterthur und der Dirigent Heinz Holliger mit einer beispiellosen Selbstverständlichkeit aufführten, als würde es zum Kernrepertoire der Konzertliteratur gehören. Und nach dem Anhören dieser Interpretation muss man definitiv konstatieren, dass es zumindest ins erweiterte Kernrepertoire der Violinkonzerte aufgenommen werden sollte. Burkhards Kompositionsstil ist von einer beinahe mystischen Schönheit geprägt. Obwohl in keiner Dur- oder Molltonart fixiert, hat man doch immer das Gefühl, dass die Kompositionsweise eine Art tonales Zentrum hat, schwebend changierende, chromatische Harmonien, sanft, ohne brachiale Effekte, dafür mit einem berückenden Fluss. Mit einem glissierenden Arpeggio des Orchesters beginnt das Werk und schon setzt die Solovioline ein mit behenden Sechzehntelfiguren. Sebastian Bohren verströmt mit seinem Instrument einen betörend leuchtenden Klang, meistert die vielen Doppelgriffe in der Folge mit souveräner Sicherheit der Intonation. Durch den intensiven Einsatz der Harfe, welcher oft in spannende Dialoge mit der Solovioline mündet, könnte man fast von einem Doppelkonzert für Violine und Harfe sprechen. Manchmal lockt die Harfe mit einem Accelerandomotiv die Violine aus der Reserve, dann wieder hat die Violine den Lead. Sehr prominent mischt auch die Klarinette in diesem Konzertieren mit. Zwischendurch schimmern verschattet tänzerische Weisen durch, dann wieder bestimmen einige rasante, fordernde Passagen den Verlauf. Sebastian Bohren spielt gegen Ende eine wunderbar saubere Kadenz, bevor dieses Juwel eines Konzerts voller Ruhe und Wärme beinahe celestial endet. Immerhin darf man konstatieren, dass dieses Konzert Willy Burkhards seit seiner Uraufführung in Zürich nach 1959 und 1997 bereits zum dritten Mal in Winterthur aufgeführt wird. Chapeau! (Willy Burkhard war übrigens nicht verwandt mit dem Operetten-, Niederdorfoper- und Zäller-Wiehnachtkomponisten Paul Burkhard, der elf Jahre jünger war als Willy Burkhard.)
Eine weitere Entdeckung folgte nach der Pause: Der aus Winterthur stammende Geiger Sebastian Bohren spielte auch noch Schumanns selten im Konzert zu erlebende Vorstudie zu seinem späten Violinkonzert, die Fantasie für Violine und Orchester op. 131. Nach der romantischen Einleitung folgte der Solist mit einer wunderbar ergreifend gespielten, traumverlorenen Elegie der Solovioline. Wunderbar umspielte er dann das vom Orchester wieder aufgenommene Eingangsthema. eine verhalten fröhliche Stimmung setzte ein. Sebastian Bohren glänzte mit der Agilität seines Spiels, Heinz Holliger und das Musikkollegium Winterthur trumpften mit aufbrausender Attacke und gegen das Ende hin mit beschwingten Jubelpassagen auf. Davor liess natürlich noch die virtuose Kadenz des Solisten aufhorchen. Ein kurzes, sehr konzentriert gehaltenes Werk mit dankbaren Aufgaben für den Solisten!
Entdeckung Nummer drei an diesem Abend waren die beiden vom Schweizer Hornisten Jean-François Taillard orchstrierten Sätze Fugue und Toccata, welche Ravel aus seinem Klavierwerk LE TOMBEAU DE COUPERIN nicht für seine Orchestersuite orchestriert hatte. So kam man zu Beginn des Konzerts nun in den Genuss aller sechs Sätze des ursprünglichen Klavierwerks in der Orchesterversion. Heinz Holliger sorgte für prägnante Akzente und ein wunderbares Fliessen der Musik, brachte die farbenreiche Orchestrierungskunst Ravels und Taillards wunderbar durchhörbar zum Klingen. Das war luftig, mit gerde der richtigen Dosierung an dramatischen Steigerungen, nie überbordend, klar strukturiert, auch federnd, zum Beispiel in der Forlane, oder sanft wiegend wie eine Berceuse, im Menuett. Ganz fantastisch erklangen die prominent hervorgehobenen Passagen einzelner Holzbläser, welche mit warmem Streicherklang wechselten. Die beiden neu instrumentierten Stücke am Ende wirkten deliziös und fein ziseliert (Fugue), die Toccata vermochte mitzureissen mit ihrem marschartigen, herben Duktus und dem präzisen Wechselspiel zwischen Bläsern und Streichern.
Pures, beseelendes Glück folgte dann am Ende mit Schumanns vierter Sinfonie: Das prägnante, leicht leidende Thema der Einleitung machte bald dem vorwärts orientierten, lebhafteren Teil des ersten der vier pausenlos ineinanderfliessenden Sätze Platz. Mit forderndem Elan wusste Heinz Holliger die markanten Sforzati zu setzen, kitzelte die aus der Tiefe aufsteigenden Sechzehntelläufe in der Durchführung aus den tiefen Streichern. Die auf den herrlich strahlenden Schluss des ersten Satzes folgende Romanze versank nie in überdehnte Larmoyanz, das Flirrende, das Melancholische (Oboe und Cello) wurde mit ruhiger Herangehensweise zum Klingen gebracht. Sehr bestimmt akzentuierten Holliger und das behende mitgehende Musikkollegium Winterthur das kämpferische Scherzo mit seinem schön kontrastierenden, anmutigen Trio, auf welches nochmals das energiegeladene Scherzo-Motiv folgte. Die fahle Orchesterüberleitung zum Finalsatz lud zum konzentrierten Zuhören ein. Der Jubel stieg nur zögerlich aus den Orchesterstimmen hoch, bevor die Fanfare frei hervorbrach. Holliger vermochte die Klangballungen in diesem Schlussatz wunderbar auszutarieren. die Blechbläser des Musikkollegiums brillierten mit herrlich erhebendem Klang. Die beiden erschütternden "Schicksalsakkorde" im Fortissimo führten zur Jubelcoda und diese zu begeistertem Applaus im Stadthaus Winterthur. In Brugg, Schaffhausen und Chur gibt's in den kommenden Tagen noch Gelegenheiten, dieses beglückende und beseelende Konzert zu erleben.
Werke:
LE TOMBEAU DE COUPERIN wurde zwischen 1914 und 1919 von Maurice Ravel (1875-1937) als Suite von sechs Stücken für Klavier solo geschrieben. 1919 wählte Ravel vier Stücke daraus aus und orchestrierte sie als Orchestersuite. Mit seiner Komposition ehrte Ravel die grossen Komponisten Frankreichs aus der Zeit des Barocks, wie Couperin oder Rameau. Der ruhig voranschreitende Charakter des Werks kontrastiert mit den tumultösen Kriegserfahrungen des Komponisten. Jeder Satz ist einem gefallenen Freund gewidmet, die Toccata z.B. Dem Musikwissenschaftler Joseph de Marliave, dessen Witwe, Marguerite Long, die Klavierfassung zur Uraufführung brachte.
Der Schweizer Hornist Jean-François Taillard orchestrierte vor wenigen Jahren auch noch die restlichen zwei der ursprünglich sechs Klavierstücke Ravels. Die bringen nun Heinz Holliger und das Musikkollegium Winterthur in diesem Konzert ebenfalls zur Aufführung, so dass Ravels LE TOMBEAU DE COUPERIN in voller Länge erklingen wird.
“Willy Burkhard (1900-1955) wurde in Leubringen bei Biel geboren. Zuerst am Seminar Muristalden bei Bern Ausbildung als Lehrer, anschliessend musikalische Studien bei E. Graf in Bern, bei S. Karg-Elert und R. Teichmüller in Leipzig, bei W. Courvoisier in München sowie bei M. d''Ollone in Paris. 1928 Berufung als Theorielehrer ans Berner Konservatorium. Daneben Leitung mehrerer Chöre und kleiner Orchester in Bern. Nach 1933 infolge eines Lungenleidens Aufenthalte in Montana und Davos bis zur endgültigen Übersiedlung nach Zürich. Hier von 1942 an Wirken als Lehrer für Theorie und Komposition am Konservatorium. Willy Burkhard gehört zweifellos zu den wesentlichen und wegweisenden Komponistenpersönlichkeiten der schweizerischen Musik unseres Jahrhunderts. Sowohl durch sein Werk, insbesondere als Erneuerer auf dem Gebiet der Kirchenmusik, als auch durch seine Lehrtätigkeit hat er nachhaltig auf die Zukunft eingewirkt. Zu seinen Schülern zählen u.a. Giuseppe G. Englert, Klaus Huber, Rudolf Kelterborn, Ernst Pfiffner, Armin Schibler und Ernst Widmer.” (Quelle: Willy Burkhard Gesellschaft)
Willy Burkhards Kompositionsstil lässt sich nicht einer eindeutigen “Schule” zuordnen. Bernhard Billeter umschreibt Burkhards Kompositionsweise auf der Webseite der Willy Burkhard Gesellschaft mit diesen Worten: “Nach der frühen Verwendung subjektiver und spätromantischer Ausdrucksformen orientierte er sich ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre an den Idealen der Singbewegung und benutzte dabei auch neobarocke Gestaltungsmerkmale. Doch pflegte er durchaus einen eigenständigen Stil, mit einem etwas spröden und von bitonaler Konstruktion her bestimmten Klang. Im späteren Schaffen wird eine Ausweitung der stilistischen Mittel spürbar, bei der vor allem der Melodik eine wichtige Rolle zukommt. An die Stelle der linearen Polyphonie unter Verwendung stark emanzipierter Dissonanzen tritt in den Werken der letzten Jahre eine Musik, ider das Zusammenspiel der Linien immer mehr an Geschmeidigkeit, Rundung und Fülle gewann. Diese Entwicklung, derer sich der Komponist durchaus bewusst war, ist jedoch nicht als Rückschritt aufzufassen. Dass sich Burkhard sehr wohl mit zeitgenössischen Strömungen auseinandergesetzt hat, zeigt unter anderem sein letztes Werk, die Six Préludes für Klavier, in denen er mit Zwölftonreihen experimentierte … Die einzige Oper DIE SCHWARZE SPINNE nach der Vorlage von Jeremias Gotthelf, ist eine zwischen Oratorium, Oper und Legendenspiel schwankende eigenständige Auseinandersetzung mit der Gattung. Eine große Bedeutung in Burkhards Schaffen kommt seiner lebenslangen tiefen Religiosität zu, deren Wurzeln in die Zeit am evangelischen Seminar Muristalden zurückreichen. Ein beredtes Zeugnis dafür legt das bedeutende Oratorium “Das Gesicht Jesaja”s ab. Doch trotz der großen Menge geistlicher Vokal- und Orgelwerke gelingt es nicht, ihn in die Kirchenmusikbewegung einzubinden. Denn die christliche Religiosität verband sich bei ihm auch mit Vorstellungen über die mystische Vereinigung mit der Natur, die in den Zyklen der Jahres- und Tageszeiten (Oratorium "Das Jahr", Kantaten “Das ewige Brausen” sowie “Der Sonntag”) beinahe pantheistische Züge annehmen. Charakteristisch an Burkhards Werken ist, dass sie nicht subjektives Bekenntnis des Künstlers sein wollen, sondern allgemeinverbindlicher Ausdruck, bei dem die Musik ihre Eigenständigkeit behält.”
Das Violinkonzert op 69 entstand 1943. Es wurde einige Male aufgeführt, auch eingespielt. Das wunderschöne Konzert geriet aber in den letzten beiden Jahrzehnten leider etwas in Vergessenheit. Eine Wiederbegegnung wird die Repertoirefähigkeit dieses aussergewöhnlichen Werks zur Diskussion stellen.
Robert Schumanns (1810-1856) Violin- und auch das Cellokonzert leiden etwas darunter, dass sie im Schatten des brillanten Klavierkonzerts stehen und deshalb oftmals als etwas “sperrig” daherkommen. Das Violinkonzert war ja bekanntlich das letzte Orchestewerk aus Schumanns Feder, bevor er sich selbst in die Nervenheilanstalt Endingen einwies und dort dann auch viel zu früh aus dem Leben schied. Die Fantasie für Violine und Orchester war quasi als Studie zu dem vom Geiger Joseph Joachim von Schumann gewünschten Violinkonzert. Dieses knapp 15 Minuten dauernde, brillante Konzertstück ist ein entzückendes, wohl wegen seiner Kürze viel zu selten in den Konzertprogrammen auftauchendes, Werk.
Das Violinkonzert wurde übrigens etwa zur gleichen Zeit fertig, Clara und Robert gingen noch auf eine Konzertreise nach Holland, danach machte sich die psychische Erkrankung Roberts immer stärker bemerkbar und so konnte er das Violinkonzert nicht mehr revidieren. Clara Schumann und Joachim kamen überein, das Werk nach Schumanns Tod nicht zu publizieren. Joachims Sohn erbte den Nachlass seines Vaters und verkaufte die Partitur an die Preussische Staatsbibliothek. Im Rahmen einer nationalsozialistischen Veranstaltung wurde das Konzert dann unter dem Patronat von Joseph Goebbels vom den Nazis nahestehenden Karl Böhm mit den Berliner Philharmonikern uraufgeführt. Solist war Georg Kulenkampff.
Robert Schumann (1810-1856) war der grosse Förderer des jungnen Brahms. Seine d-Moll Sinfonie skizzierte er bereits kurz nach der FRÜHLINGSSINFONIE, seiner ersten des Genres 1841 und legte sie seiner Frau Clara auf den Geburtstagstisch. Die Uraufführung unter Ferdinand David (als "Symphonische Phantasie" bezeichnet) erfolgte bereits im Dezember des selben Jahres, war aber nicht erfolgreich. Das Werk blieb 10 Jahre lang liegen, bevor Schumann es gründlich revidierte, den tiefen Streichern und dem Blech gewichtigere Aufgaben zuteilte und so den leicht dämonischen Charakter der Sinfonie unterstrich. Unter Schumanns Leitung erfolgten dann am 3. März 1853 eine Voraufführung in Düsseldorf und die grosse, stürmisch gefeierte Premiere am Niederrheinischen Musikfest am 15. Mai 1854. Die Sinfonie mit ihren vier pausenlos ineinandergreifenden Sätzen ist ganz im Geist von Beethoven "aus dem Dunkel ins Licht" gestaltet, beginnt mit lastender Schwere im ersten, wartet mit melancholischer Schwermut im zweiten, kämpferischer Energie im dritten und Siegeszuversicht im letzten Satz auf.