St.Gallen: LUCREZIA BORGIA, 14.03.2015
Melodramma in einem Prolog und zwei Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Felice Romani nach Victor Hugo | Uraufführung: 126. Dezember 1833 in Mailand | Aufführungen in St.Gallen: 14.3. | 20.3. | 22.3. | 12.4. | 14.4. | 22.4. | 31.5. | 2.6. | 6.6.2015
Kritik:
Donizettis LUCREZIA BORGIA ist bedauerlicherweise viel zu selten auf den Opernbühnen anzutreffen, obwohl diese Oper den Komponisten auf dem Höhepunkt seiner Kunst zeigt. Das Werk besticht mit einer spannungsgeladenen Handlung, einer für die Zeit differenziert ausgestalteten Charakterisierung der Personen und natürlich mit Donizetttis nie versagendem melodischen Einfallsreichtum. Das Theater St.Gallen hat mit dieser Aufführung einen szenischen Wiederbelebungsversuch gewagt – und gewonnen!
Die Regie wurde dem aufstrebenden Regiestar Tobias Kratzer (er wird den nächsten TANNHÄUSER in Bayreuth inszenieren) anvertraut, der vor vier Jahren mit ANNA BOLENA (ebenfalls einer Donizetti Oper) für grosse Beachtung sorgte. Wie damals in Luzern überzeugt Kratzer auch diesmal mit einer genauen Analyse des Beziehungsgeflechts. Rainer Sellmaier (Bühne und Kostüme) hat ihm dazu einen drehbaren, modernistisch eingerichteten Bungalow auf die Bühne des Theaters St.Gallen gestellt. Durch grössere und kleinere Fenster erhalten wir, die Zuschauer, und auch die Personen auf der Bühne voyeuristische Einblicke in den Haushalt und das (nicht nur vermeintlich) orgiastische Treiben des Paares Lucrezia Borgia und ihres vierten Gemahls Alfonso. Der Schauplatz wechselt also nicht von Venedig nach Ferrara, sondern alles spielt sich im und um das Haus des mächtigen Paares ab. Auch die finale Szene (Ball im Palast der Principessa Negroni) findet im Bungalow statt. Die Gruppe um Gennaro verschafft sich gewaltsam Zutritt, amüsiert sich über die Überbleibsel der vorangegangenen Orgie (Unterwäsche und gebrauchte Kondome) und delektiert sich fatalerweise ausgiebig am vergifteten Wein.
Dass Lucrezia in dieser Luxus-Designer-Festung unglücklich ist, wird bereits während des kurzen orchestralen Vorspiels mit wenigen, subtilen Gesten angedeutet: Sie schminkt sich vor dem Badezimmerspiegel, der Gemahl Alfonso schaut ständig auf die Uhr, drängt sie und fordert sie unmissverständlich auf, beim anschliessenden Empfang die perfekte, strahlende Gastgeberin zu mimen. Durch die Verlegung der Handlung in die Gegenwart, erhält die Oper einen Touch von DALLAS oder DYNASTY, aber das schadet dem Werk überhaupt nicht, denn solche Serien bedienen genau wie die Schauerdramen der italienischen Romantik eine leicht lüsterne Sensationsgier des Publikums, heute wie damals. Kratzer gelingt es ausgezeichnet, die psychische Verfassung der Protagonisten zu erfassen und offenzulegen. Hervorragend auch, wie er die Comprimari in das Geschehen einbettet und ihre wichtigen Rollen sorgfältig herausarbeitet: Die lebenslustigen, trinkfesten und verleumderisch Lucrezia verspottenden Gefährten Gennaros (sie waren mit Nik Kevin Koch, David Maze, Jordan Shanahan und Derek Taylor allesamt vortrefflich besetzt). Die Spione Lucrezias (Levente Páll als Astolfo und Wade Kernot als Gubetta) überzeugten genauso wie der hinterhältige Scherge des Herzogs, Rustighello, welcher von Dean Power mit ausgezeichnet fokussiertem Tenor gesungen wurde. Tobias Kratzer hat einzig mit der Umwandlung der Hosenrolle des Orsini in eine auf Lucrezia eifersüchtige Freundin Gennaros meiner Meinung nach einen Fehler begannen. Gerade das Herausarbeiten der vielschichtigen (und auch mit einer leicht erotischen Komponente) aufgeladenen Männerfreundschaft zwischen Orsini und Gennaro wäre für einen Regisseur von Kratzers Fähigkeiten doch eine interessante Herausforderung gewesen. Schade um die vertane Chance. Zumal mit der herb timbrierten Mezzosospranstimme und dem schauspielerischen Talent von Allyson McHardy diese Konstellation bestimmt zu einem spannenden Ergebnis geführt hätte. Frau McHardy sang diese dankbare Rolle mit grossem Enthusiasmus. Bewegend in seiner (hier eben ihrer) Schilderung der gemeinsamen Vergangenheit im Prolog (Nella fatal di Rimini), im seine (ihre) Liebe beteuernden Duett und dem von unheimlichen Totenglocken unterbrochenen Brindisi im zweiten Akt. Ausgezeichnet verlief das Rollendebüt von Anicio Zorzi Giustiniani als Gennaro: Er verkörperte glaubhaft den blendend aussehenden adoleszenten Jungspund, schwankend zwischen Rebellion, Abenteuerlust, hoch emotionaler Sehnsucht nach seiner unbekannten Mutter, erwachender sexueller Begierde und unbeschwerter Freude an Streichen. (Die Aktion mit der Farbspraydose an der Betonmauer des Bungalows, wo er und seine Freunde aus BORGIA ORGIA machen und das Wort noch mit Penissen „verzieren“). Seinen hellen und ebenmässig timbrierten Tenor setzte er stilsicher, unforciert und sehr schön phrasierend ein.
In den Rollen des einander gegenseitig misstrauenden Ehepaars Lucrezia-Alfonso durfte man Katia Pellegrino und Paolo Gavanelli erleben. Gavanelli gab den selbstgefälligen, steinreichen und hinterfotzigen Unternehmer mit grosser, auch mal herrlich effektvoll protzender Entfaltung seiner warmen und satten Stimme. Katia Pellegrino gelang ein differenziert gestaltetes Porträt der Titelrolle. Mit zarten, liebevollen Tönen besang sie den wiedergefundenen, im Corbusier-Sessel schlafenden Sohn Gennaro, ganz die liebende Mutter, welche einen Fehler aus der Vergangenheit wieder gutmachen will. Mit kontrollierter Fulminanz (im hochklassigen Duett mit Gavanelli im ersten Akt: Raunen im Publikum - Lucrezia redet mit gewaltiger Eindringlichkeit auf Alfonso ein, er greift zur Zeitung und löscht kurz darauf die Nachttischlampe - herrlich aus dem Leben gegriffen!!!)) drückte sie ihre bedrohliche Abscheu vor dem Gemahl aus, mit ergreifender Klage, wunderbaren Piani und imponierender Virtuosität musste sie von ihrem sterbenden Sohn (im unberührten Kinderzimmer) Abschied nehmen und realisieren, dass ihre Welt als Frau und Mutter in Trümmern liegt.
Pietro Rizzo führte mit sicherem Gespür für passende Tempi und die Möglichkeiten der Sängerinnen und Sänger durch den Abend, entlockte dem Sinfonieorchester St.Gallen manch sauber herausgearbeitete und schön klingende Kantilene. Der Chor (und hier vor allem der Herrenchor des Theaters St.Gallen, Einstudierung Michael Vogel) bewältigte seinen Auftritt als Bomberjacken-, Kampfstiefel-, Baseballschlägertrupp mit rhythmischer Prägnanz.
Fazit: Ein eindrückliches Theatererlebnis, nicht nur (aber auch) für Melomanen!
Inhalt: Anlässlich eines Karnevalsfestes in Venedig verguckt sich der junge Gennaro in eine schöne Unbekannte, welche ihn ihrerseits schon liebevoll betrachtet hatte, als er kurz eingenickt war (sie glaubt in ihm ihren illegitimen Sohn gefunden zu haben). Gennaro erzählt der Schönen von seiner Mutter, die er nie kennen lernen durfte. Gennaros Freunde jedoch erkennen in der Unbekannten die gefürchtete Lucrezia Borgia und beginnen, all ihre Untaten aufzuzählen.
In Ferrara verdächtigt Don Alfonso d'Este, der Gemahl Lucrezias, seine Gemahlin einer Liebschaft mit dem jungen Gennaro. Er plant dessen Ermordung. Gennaro bricht aus dem Wappen der Borgias das „B“ heraus, übrig bleibt „ORGIA“. Gennaro wird verhaftet – Lucrezia verlangt die Hinrichtung des Frevlers, ohne zu wissen, wer der Täter ist. Als sie ihren Fehler entdeckt, ist es zu spät für Reue. Alfonso nötigt sie, Gennaro den vergifteten Wein zu reichen. Sie jedoch steckt ihm schnell noch ein Gegengift zu.
Die Fürstin Negroni hat zu einem Fest geladen. Lucrezia hat – als Rache für die Schmach in Venedig – den Wein der Festgäste vergiftet. Doch wiederum hat sie einen Fehler gemacht, denn unter den Gästen befindet sich auch Gennaro, welcher ihren Rat zur Flucht aus Ferrara nicht befolgt hat. Endlich offenbahrt ihm Lucrezia, dass sie in Wahrheit seine Mutter ist und fleht ihn an, das Gegengift zu trinken. Gennaro möchte jedoch auch seine Freunde retten, doch dazu reicht die Dosis nicht aus. Er verzichtet auf das Gegengift und stirbt in den Armen seiner Mutter. Sie bricht zusammen.
Werk:
Hugos Drama basiert auf dem schrecklichen (und inkorrekten) Mythos von Lucrezia Borgia, der ausserehelichen Tochter des Papstes Alexander VI. Von ihrem Vater wurde die hübsche junge Frau als Instrument der Intrige und der Politik missbraucht. Dreimal wurde sie in politisch motivierte Ehen gezwungen, um die Macht des Borgia-Clans zu festigen. Dadurch war ihr Ruf dahin, sie galt als versierte Giftmischerin, welche ihre Ehemänner zur Strecke brachte.Sie starb jedoch hoch geehrt als Fürstin von Ferrara.
LUCREZIA BORGIA war die vierzigste Oper des Vielschreibers Donizetti, kurz nach ELISIR D'AMORE und zwei Jahre vor LUCIA DI LAMMERMOOR entstanden. Die Titelfigur ist eine typische Vertreterin der romantischen Oper: Ihrem Sohn in rührender Liebe zugetan, doch in Intrigen und verfehlten Aktionen gefangen. Die Oper lebt von repräsentativen höfischen Szenen, innigen Duetten und fulminanten Verzweiflungsarien, eine veritable Belkanto-Oper mit effektvollen Nummern für die Solisten. Historische Wahrheit und psychologische Folgerichtigkeit sind nebensächlich. Im 19. Jahrhundert erfreute sich LUCREZIA BORGIA grosser Popularität, wurde aus Gründen der Zensur (und Einsprachen Victor Hugos) jedoch oft auch unter anderen Titeln aufgeführt. Heute setzt man die Oper oft als dankbares Vehikel für grosse Sängerinnen auf den Spielplan: Joan Sutherland, Monserrat Caballé, Leyla Gencer, Mariella Devia und Edita Gruberova verhalfen der Oper in den vergangenen Jahrzehnten zu erhöhter Aufmerksamkeit.
Musikalische Höhepunkte:
Come'è bello, Lucrezia, Prolog
Di pscatore, Gennaro, Prolog
Vieni: la mia vendetta, Alfonso, Akt I
Guai si ti sfugge un moto, Terzett Gennaro-Alfonso-Lucrezia, Akt I
Bevi e fuggi, Finale Akt I
Il segreto d'esser felice, Brindisi, Orsini, Akt II
Era desso il figlio mio, Finalszene Lucrezia, Akt II