Berlin, Deutsche Oper: LUCREZIA BORGIA, 27.04.2013
Melodramma in einem Prolog und zwei Akten | Musik: Gaetano Donizetti | Libretto: Felice Romani nach Victor Hugo | Uraufführung: 126. Dezember 1833 in Mailand | Aufführungen in Berlin: 27.4. | 1.5.2013
Kritik:
Nach diesem (eine Viertelstunde lang bejubelten) Abend in der Deutschen Oper Berlin überrascht es nicht, dass LUCREZIA BORGIA einst zu den beliebtesten Werken Donizettis gehörte. Die Oper bietet das, was das Herz der Melomanen erfreut: Melodien, welche Gefühle in leicht zugänglicher Art und Weise transportieren. Herz und Ohr erfreuen sich an Trinkliedern, Freundschafts- und Racheschwüren, leichtes Schaudern stellt sich ein bei irregeleiteten mütterlichen Ränken und vergeblichen Rettungsversuchen, Nervenkitzel in Erwartung fulminanter Koloraturen und durchdringender Spitzentöne der Protagonistin. All dies (und noch mehr) wurde dem begeisterten Publikum in der ausverkauften Deutschen Oper Berlin in einer konzertanten Aufführung von Donizettis melodramma geboten. Wobei „konzertant“ eigentlich nicht ganz korrekt ist, denn lediglich einige Comprimari hatten Notenständer vor sich stehen. Die Protagonisten sangen frei, nutzten den ihnen zur Verfügung stehenden Raum links des Dirigenten gekonnt für ihre Interaktionen und Rollengestaltungen und legten damit den Grundstein für eine dramatisch packende Interpretation, schlüssiger als mancher Regieansatz, den man in letzter Zeit gesehen hatte. Anlass für dieses Belcanto-Fest war natürlich einer der raren Auftritte von Edita Gruberova. Die Sängerin, welche sich ihre Rollen und Auftritte so klug auswählt, ihre Kräfte so überragend zu disponieren weiss wie kaum eine andere, enttäuschte auch an diesem Abend ihre zahlreichen Fans nicht: Da sind sie immer wieder, die Töne, die aus dem Nichts heraus zu ungeahnter Stärke anschwellen, die Läufe, welche überaus scharf gezeichnet durch den Raum schwirren, die kleinen Fiorituren im pianissimo gehaucht und doch bis in die hintersten Reihen hörbar, die schier unendlich lang gehaltenen Töne (das As im Prolog, während Gennaros Freunde über ihre Infamie lästern), die wie Giftpfeile in den Saal geschmetterten Attacken im Verzweiflungs-Finale und die fulminanten hohen Schlusstöne, welche sie mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit über Orchester, Chor und Sängerkollegen strahlen lässt. Es ist hoch spannend anzuhören, wie sie z.B. im ersten Akt die Koloraturen als Bezirzungsversuche einsetzt, um ihren Mann zur Gnade gegenüber Gennaro zu überreden oder nach deren Scheitern ihm gestählte Läufe als Drohungen um die Ohren schmettert. Sicher kann auch bei ihr mal ein Triller fahler klingen als vielleicht intendiert, doch dank ihrer stupenden Technik vermag sie auch brenzligsten Situationen durch gekonnte Schattierungen eine dramaturgisch sinnige Wendung zu verleihen. Schlicht einmalig und zutiefst glaubwürdig ist sie in ihrer Rollengestaltung: Da ist die innere Zerrissenheit der von Donizetti/Romani skizzierten Renaissancefürstin eindringlich spürbar, das Schwanken zwischen verletztem, nach Rache dürstendem Stolz und verzweifelter Mutterliebe. Diese Liebe konzentriert sich auf ihren illegitimen Sohn Gennaro, dem Pavol Breslik seine wunderschön hell timbrierte Tenorstimme leiht. Er gestaltet seine Empfindungen mit subtil abgestimmter Dynamik, wirkt auch in schmachtenden Kantilenen (im Terzett im ersten Akt) nie weinerlich. Sein Tenor zeichnet sich durch eine solide geerdete Substanz und eine vornehme Geschmeidigkeit aus. (Schade hat man ihm die z.B. von Alfredo Kraus in die Oper eingefügte Arie T´amo qual s´ama un angelo gestrichen.) Sehr rührend bezeugt er seine Männerfreundschaft mit Orsini, welchem Jana Kurucová mit ihrem herrlich ausdrucksstarken Mezzosopran eindrückliches Profil verleiht. Mit exquisiter Tongebung berichtet sie (er) von ihrer gemeinsamen Vergangenheit Nella fatal di Rimini, warnt ihn eindringlich vor der Borgia und stimmt auf dem Fest der Prinzessin Negroni das kunstvolle, begeisternd virtuos gestaltete Brindisi an. Als Lucrezias Ehemann Alfonso d´Este lässt Alex Esposito seinen markanten Bassbariton mit bedrohlicher Schwärze in rachsüchtiger Ekstase funkeln. An der Cabaletta nach seiner Rachearie konnte man sich gar nicht satt hören – das müssen schöne Zeiten gewesen sein, als es noch „bis“ gab, hier wäre eine Wiederholung angebracht gewesen!
Donizettis LUCREZIA BORGIA ist in mehr als einem Punkt keine Dutzendware: Nicht nur das Fehlen eines eigentlichen Liebespaares hebt dieses Werk von anderen ab, nein, auch die Rollen der Comprimari sind erheblich aufgewertet. Die Spione und Gegenspione des Herzogs und seiner Gemahlin und die Saufkumpane und Söldnerkumpel Gennaros erhalten sehr prominente und gewichtige Auftritte. Alvaro Zambrano mit seinem schön timbrierten Tenor als Rustighello, Simon Pauly als hinterhältiger, spöttischer Gubetta oder der Bass von Tobias Kehrer als Astolfo (und eine Stimme aus der Ferne) lassen z.B. aufhorchen. Andriy Yurkevych leitet das Orchester der Deutschen Oper Berlin: Neben einigen wirklich spannend gestalteten Übergängen, feinfühligem Ausloten von Stimmungsschwankungen, effektvollen Szenenschlüssen und routinierten Abstimmungen mit der Protagonistin wirkt vieles auch ein wenig gar pauschal gestaltet. Markant (und manchmal etwas gar polternd laut) singt der Männerchor der Deutschen Oper Berlin, die Damen hatten nur zwei kurze Auftritte.
Insgesamt ein durch und durch beglückender Abend, der Lust auf mehr Donizetti macht!
Inhalt: Anlässlich eines Karnevalsfestes in Venedig verguckt sich der junge Gennaro in eine schöne Unbekannte, welche ihn ihrerseits schon liebevoll betrachtet hatte, als er kurz eingenickt war (sie glaubt in ihm ihren illegitimen Sohn gefunden zu haben). Gennaro erzählt der Schönen von seiner Mutter, die er nie kennen lernen durfte. Gennaros Freunde jedoch erkennen in der Unbekannten die gefürchtete Lucrezia Borgia und beginnen, all ihre Untaten aufzuzählen.
In Ferrara verdächtigt Don Alfonso d'Este, der Gemahl Lucrezias, seine Gemahlin einer Liebschaft mit dem jungen Gennaro. Er plant dessen Ermordung. Gennaro bricht aus dem Wappen der Borgias das „B“ heraus, übrig bleibt „ORGIA“. Gennaro wird verhaftet – Lucrezia verlangt die Hinrichtung des Frevlers, ohne zu wissen, wer der Täter ist. Als sie ihren Fehler entdeckt, ist es zu spät für Reue. Alfonso nötigt sie, Gennaro den vergifteten Wein zu reichen. Sie jedoch steckt ihm schnell noch ein Gegengift zu.
Die Fürstin Negroni hat zu einem Fest geladen. Lucrezia hat – als Rache für die Schmach in Venedig – den Wein der Festgäste vergiftet. Doch wiederum hat sie einen Fehler gemacht, denn unter den Gästen befindet sich auch Gennaro, welcher ihren Rat zur Flucht aus Ferrara nicht befolgt hat. Endlich offenbahrt ihm Lucrezia, dass sie in Wahrheit seine Mutter ist und fleht ihn an, das Gegengift zu trinken. Gennaro möchte jedoch auch seine Freunde retten, doch dazu reicht die Dosis nicht aus. Er verzichtet auf das Gegengift und stirbt in den Armen seiner Mutter. Sie bricht zusammen.
Werk:
Hugos Drama basiert auf dem schrecklichen (und inkorrekten) Mythos von Lucrezia Borgia, der ausserehelichen Tochter des Papstes Alexander VI. Von ihrem Vater wurde die hübsche junge Frau als Instrument der Intrige und der Politik missbraucht. Dreimal wurde sie in politisch motivierte Ehen gezwungen, um die Macht des Borgia-Clans zu festigen. Dadurch war ihr Ruf dahin, sie galt als versierte Giftmischerin, welche ihre Ehemänner zur Strecke brachte.Sie starb jedoch hoch geehrt als Fürstin von Ferrara.
LUCREZIA BORGIA war die vierzigste Oper des Vielschreibers Donizetti, kurz nach ELISIR D'AMORE und zwei Jahre vor LUCIA DI LAMMERMOOR entstanden. Die Titelfigur ist eine typische Vertreterin der romantischen Oper: Ihrem Sohn in rührender Liebe zugetan, doch in Intrigen und verfehlten Aktionen gefangen. Die Oper lebt von repräsentativen höfischen Szenen, innigen Duetten und fulminanten Verzweiflungsarien, eine veritable Belkanto-Oper mit effektvollen Nummern für die Solisten. Historische Wahrheit und psychologische Folgerichtigkeit sind nebensächlich. Im 19. Jahrhundert erfreute sich LUCREZIA BORGIA grosser Popularität, wurde aus Gründen der Zensur (und Einsprachen Victor Hugos) jedoch oft auch unter anderen Titeln aufgeführt. Heute setzt man die Oper oft als dankbares Vehikel für grosse Sängerinnen auf den Spielplan: Joan Sutherland, Monserrat Caballé, Leyla Gencer, Mariella Devia und Edita Gruberova verhalfen der Oper in den vergangenen Jahrzehnten zu erhöhter Aufmerksamkeit.
Musikalische Höhepunkte:
Come'è bello, Lucrezia, Prolog
Di pscatore, Gennaro, Prolog
Vieni: la mia vendetta, Alfonso, Akt I
Guai si ti sfugge un moto, Terzett Gennaro-Alfonso-Lucrezia, Akt I
Bevi e fuggi, Finale Akt I
Il segreto d'esser felice, Brindisi, Orsini, Akt II
Era desso il figlio mio, Finalszene Lucrezia, Akt II