St.Gallen: IL BARBIERE DI SIVIGLIA, 14.05.2011
Melodramma buffo in zwei Akten | Musik: Gioachino Rossini | Libretto: Cesare Sterbini | Uraufführung: 20. Februar 1816 in Rom | Vorstellungen in St.Gallen: 14.5. | 22.5. | 24.5. | 29.5. | 3.6. | 7.6. | 11.6.2011 und Wiederaufnahme in der Saison 2011/2012
Kritik:
Da muss es ja zu- und hergehen auf und hinter der Bühne im Theater St.Gallen, wenn man dem Ausstatter Friedrich Eggert und dem Regisseur Aron Stiehl Glauben schenken darf. Sie haben nämlich die Betonarchitektur des Zuschauersaals auf die Bühne weitergezogen und lassen darin in schriller und umwerfend komischer Manier das turbulente, intrigante Spiel in der Schönheitsklinik des Dr. Berlusconi (äh Bartolo) präzise wie ein Schweizer Uhrwerk ablaufen. Mit Blick auf das Mittelmeer und eine Villa auf Sardinien (?). Das Personal der Oper jedenfalls ist so mit sich selbst beschäftigt, dass es die Katastrophen der Welt – mehrmaliger Untergang der TITANIC - gar nicht wahrnimmt.
Der Einstieg in diese oberflächlich-theatralische Welt ist im wahrsten Sinne des Wortes einer: Fiorello (vortrefflich gesungen von Marc Haag) lässt Almaviva und die mit peruanischen Ponchos verkleideten Strassenmusiker durch die Kanalisation in Bartolos Betonbunker einsteigen. Das lenkt zwar leider etwas von der vom Sinfonieorchester St.Gallen unter Stefan Klieme so spritzig und mit beeindruckender rhythmischer Artikulation gespielten Ouvertüre ab, doch sind die Zuschauer und Zuhörer ja heutzutage multitasking-fähig. [Wenn sie denn nicht alles, was sie so sehen auch noch für alle anderen hörbar kommentieren müssten … Dies sei aber nur mal so am Rande angemerkt ;-) ] Doch zum Glück ergaben sich im Verlaufe des kurzweiligen Abends dank der vorzüglichen Musizierfreude aus dem Graben noch viele Gelegenheiten, um festzustellen, dass Rossini den Nickname „Signor crescendo“ zu Recht trug.
Allzu viel über die spassigen Einfälle des Regisseurs und die spielfreudige Umsetzung durch das Ensemble sollte man nicht verraten – nur so viel: Die BesucherInnen können sich auf eine durch und durch intelligent-witzige, herrlich schräge Aufführung freuen, welche doch nie zum blossen Schenkel-klopfen-Klamauk ausartet. Die Inszenierung ist wirklich erfrischend komisch und mit subtilen Seitenhieben versehen!
Mit der Besetzung hat das Theater St.Gallen einmal mehr bewiesen, mit welch ausserordentlich spannenden Leistungen von Ensemblemitgliedern und (wenigen) Gästen auch ein kleineres Haus sein Publikum beglücken darf. Die viel (und oft zu Unrecht) beschworene „Tenorkrise“ scheint St.Gallen jedenfalls nicht zu kennen. Hier am Haus geben sich die attraktiven jungen Tenöre quasi die Klinke in die Hand: Nach Derek Taylor (z.B. Pinkerton, Alfred), Lawrence Brownlee (Elvino), Bruno Ribeiro (Des Grieux) und Filippo Adami (DILUVIO und in späteren Aufführungen auch Almaviva!) wurde nun Anicio Zorzi Giustiniani verpflichtet. Er faszinierte von Beginn weg mit der wunderbaren Geschmeidigkeit und Ausgeglichenheit seiner herrlich timbrierten Stimme, sowohl die Cavatina (Ecco, ridente) als auch die Canzona (Se il mio nome) im ersten Akt waren wunderbar einschmeichelnd intoniert. Er wusste als betrunkener Soldat und als Basilios Ebenbild als Musiklehrer zu gefallen, machte in der einfachen Kämpfermontur ebenso gute Figur wie in Jeans oder Galauniform. Wenn man ihm dann noch das leider auch hier in St.Gallen gestrichene Schlussrondo (Cessa di più resistere) gegönnt hätte, wäre das tenorale Vergnügen vollkommen gewesen. Nikolay Borchev zog gekonnt die Fäden als quirliger, ungeduldiger, weil viel beschäftigter, Starfriseur. Mit hellem, jugendlich weichem und wohlklingendem Bariton zog auch er die Sympathien auf sich und machte das schwuchtelig-schrille Outfit beinahe vergessen. Dank der Besetzung Rosinas mit einem Koloratursopran kam man in den Genuss von unzähligen, sauber ausgestalteten Verzierungen und der entsprechenden Würze der Ensembles: Petya Ivanova interpretierte dies alles mit hinreissender, funkelnder Brillanz. Sie wurde von Bartolo (Berlusconi) als Assistentin im Lolita-Look in seiner Schönheitsklinik gefangen gehalten und ging unbedarft und grobfahrlässig mit Botoxspritzen und Fettabsaugekammern den Kunden an die Physiognomie. Herrlich! Ihr Chef und Ziehvater wies eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit einem unsäglichen italienischen Ministerpräsidenten auf: Ensemblemitglied David Maze gelang als Dr. Bartolo ein sowohl darstellerisch als auch gesanglich hochklassiges Kabinettsstück, als dessen Höhepunkt die Arie A un dottor della mia sorte herausragte. Mit der Berta zeigte Katja Starke einmal mehr, welches Potential in ihr steckt. Leider musste sie bis zum Beginn des zweiten Aktes warten, bis sie ihre ausserordentlichen vokalen Qualitäten in einer kurzen Arie darbieten durfte. Ihre bezwingende Bühnenpräsenz hatte sie jedoch bereits im ersten Akt gezeigt. Dadurch, dass sie ein identisches Schulmädchen-Kostüm wie Rosina zu tragen hatte, wurde klar, dass auch Berta einmal Bartolos Liebchen gewesen war, nun aber der jüngeren Blondine weichen musste. So wurde der Suizidversuch (durch einen Griff in den Medikamentenschrank)nachvollziehbar. (Hoffentlich wird man Frau Starke bald einmal bedeutendere Partien als die ewigen Dienerinnen anvertrauen.) Federico Sacchi sang mit seinem wunderschönen Bass einen schon beinahe zu sympathische Basilio. Doch gerade durch die vermeintliche Sanftheit, mit welcher er das Lüftchen durch die Calunnia-Arie wehen liess, wurde das Fiese und Schmierige der Figur offenbar.
Abgerundet wurde diese spritzige Neuproduktion durch die effektvolle Lichtgestaltung von Guido Petzold sowie durch Mitglieder der Herrenchöre aus Winterthur und St.Gallen und die mit komischem Talent gesegneten StatistInnen.
Inhalt: (Rossinis BARBIERE zeigt die Vorgeschichte zur NOZZE DI FIGARO)
Graf Almaviva hat sich in das Mündel des Doktor Bartolo, Rosina, verguckt. Doch Bartolo bewacht Rosina wie seinen Augapfel, da er selbst die junge Schönheit heiraten möchte. Mit Hilfe des käuflichen Intriganten und Barbiers der Stadt, Figaro, gelingt es Almaviva, den trotteligen Doktor hereinzulegen, und Rosina zu ehelichen. (Dass diese Ehe dann nicht nur glücklich ist, erfährt man in Mozarts LE NOZZE DI FIGARO…)
Werk:
Rossinis Meisterwerk ist bei der Uraufführung NICHT durchgefallen, wie immer wieder gerne kolportiert wird, sondern es fiel einer Intrige zum Opfer: Anhänger des Komponisten Paisiello, welcher den Stoff ebenfalls vertont hatte, versuchten die Oper des jungen Rossini niederzuschreien, angestachelt auch durch die Intendanz eines konkurrierenden römischen Opernhauses. Bereits die zweite Aufführung wurde zu einem Riesenerfolg, seither ist die Wirkung dieser Königin unter den Buffo Opern weltweit ungebrochen. Rossini hat das Werk, wie es damals üblich war, unter grossem Zeitdruck fertig stellen müssen. Doch war es gang und gäbe für die Komponisten jener Zeit, Teile von Arien und Ouvertüren aus eigenen (und manchmal auch fremden) Werken zu übernehmen. So können beim BARBIERE Melodien aus mindestens sieben anderen Opern Rossinis gefunden werden, auch aus ernsten Opern, wie ELISABETTA, REGHINA D´INGHILTERRA (Ouvertüre).
Nichtsdestotrotz bereiten Rossinis melodischer Einfallsreichtum, sein musikalischer Witz und das untrügliche Gespür für bühnenwirksames Timing auch nach 200 Jahren noch immer ungetrübte Freude und Genuss.