Berlin, Komische Oper: IL BARBIERE DI SIVIGLIA, 16.10.2016
Melodramma buffo in zwei Akten | Musik: Gioachino Rossini | Libretto: Cesare Sterbini | Uraufführung: 20. Februar 1816 in Rom | Vorstellungen in Berlin (Komische Oper): 9.10. | 13.10. | 16.10. | 19.10. | 28.10. | 5.11. | 26.11. | 4.12. | 16.12. | 26.12.2016 | 5.7. | 13.7.2017
Kritik:
Am Ende ist es wie immer: Schon beim Verlassen des Zuschauersaals zückt ein Großteil des Publikums (nicht nur die Jungen!) das Smartphone, ruft Nachrichten ab, twittert, chattet, schießt Selfies, schaut nach, ob irgendjemand auf das Fake-Profil bei Tinder oder Grindr angebissen hat, biegt um die Ecke in die Friedrichstraße, guckt vom Smartphone schnell hoch in die Schaufenster von ESCADA ... wie wenn nichts gewesen, wie wenn gerade diesem Publikum nicht eben während dreier Stunden ein nicht nur liebevoll gemeinter Spiegel vorgehalten worden wäre. Denn genau dies hat der neue Star am Regiehimmel, Kirill Serebrennikov, in der Komischen Oper Berlin mit Rossinis vor 200 Jahren entstandenem IL BARBIERE DI SIVIGLIA getan und damit wohl einen gewichtigen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte dieser Buffa geleistet. Serebrennikov (auch verantwortlich für die Ausstattung) untersuchte das Werk nach den Bezügen zu den heutigen Befindlichkeiten der Menschen – und wurde fündig. Da ist erst mal die Lust der Menschen am Verkleiden, an der Selbstdarstellung, am Hineinschlüpfen in neue (geschönte) Identitäten, wie wir sie tagtäglich erleben, wenn wir die Facebook-Profile unserer „Freunde“ ansehen, die Nachrichten auf Snapchat und Instagram verfolgen. Vor 200 Jahren hat man sich „Billets“ durch die Bediensteten zukommen lassen, heute versendet man Kurznachrichten über den Server. Und so taucht Serebrennikov ein in die Welt der digitalen Kommunikation, mit ihren Abkürzungen, ihren Emojis. Mit atemberaubender Virtuosität und gewaltigem, technisch perfekt inszeniertem Aufwand läuft das Spiel um die vermeintliche Liebe zwischen Rosina und Almaviva ab, die sich ja eigentlich kaum kennen, sich aber über die Social Media Plattformen nahe fühlen. Aber wehe, man nimmt ihnen ihr Spielzeug (Smartphone) weg, wie Figaro dies am Ende tut, – dann tippen und swipen die Finger hilflos ins Leere. Lange Zeit bleibt die Bühne geschlossen, das Orchester ist fast auf Bühnenhöhe hochgefahren, die Protagonisten agieren auf einem Steg rund um den Graben und vor der die ganze Bühne einehmenden Leinwand, auf welche Kurznachrichten, Tweets und Livestreams projiziert werden. Und da sind auch die Chat-Profile von Rosina und Lindoro (Almaviva) zu sehen: Er gibt sich als Absolvent einer Waldorfschule aus, sie hat das Motto gepostet „Gibt das Leben dir Zitronen, mach ne Limonade draus“. Beim Beziehungsstatus haben beide angemerkt: It’s complicated ... . Sein Ständchen singt Lindoro wie eine italienische Schnulze am Festival von San Remo (nachdem erst das falsche Playback eingespielt wurde, Donizettis „Una furtiva lagrima“ – herrlich). Das Orchester spielt in Alltagskleidern, der Dirigent (Antonello Manacorda) tritt in Jeans und Sneakers auf und versucht vergeblich, das Handy-Verbot bei den Musikern und den Sängern durchzusetzen. Ach, man könnte von so vielen umwerfend komisch und augenzwinkernd aktuell inszenierten Details berichten, den Auftritten des metrosexuellen Frisörs Figaro aus dem Rang heraus etwa, seinen drei äußerst agilen Alter Egos, alle mit modischem Männer-Dutt, der beleibten Hausangestellten Berta, deren Niesanfälle plausibel erklärt werden. Doch da sind dann auch noch die Personen, welche mit der Digitalisierung der Welt nicht Schritt halten können oder wollen: Bartolo und Basilio. Besonders bei Bartolo ist dem Regisseur eine liebevolle Zeichnung dieses Charakters gelungen: Bartolo ist bei ihm nicht einfach ein alter, notgeiler und geldgieriger Trottel, sondern ein Antiquitätenhändler, der die schönen, handgefertigten Kunstwerke hegt und pflegt. Wenn sich dann die weiße Projektionswand endlich hebt und das Orchester in den Graben sinkt, erhalten wir Einblick in Bartolos Welt der Vergangenheit, die jedoch dann schnell leergeräumt wird, wenn sich Almavivas „Soldaten“ einquartieren. Natürlich sind es nicht mehr Franzosen, welche Sevilla besetzen, sondern ein bunter Mix aus Kämpfern des aktuellen Konflikts im Nahen Osten. Ahnungslos und unbedarft wirft man sich in Kampfmonturen von Dschihad-Kämpfern, legt sich lange Bärte um oder kleidet sich mit palästinensischen und jüdischen Kopfbedeckungen. Die Nachrichtensendungen mit den Flüchtlingsströmen, dem Lager in Calais oder den überbelegten Turnhallen laufen zwar auf dem Bildschirm in Bartolos Wohnung, doch niemand schenkt ihnen Beachtung. Man hält sich lieber (wie Rosina das macht) ein REFUGEES WELCOME Plakat vor die Brust, weil es halt gerade so „in“ ist. Auch die Verleumdungsarie von Basilio bekommt durch die parallel laufenden Nachrichtenbilder einen nachdenklich stimmenden Beigeschmack. Als schließlich die Polizei und ein SEK anrücken, ist das natürlich wiederum eine Gelegenheit für Selfies – und die Hölle für Bartolo, der sich nun einem Pandämonium von Ledertunten, Schlachtern und Totenmasken gegenüber sieht. Das berühmte Finale I wird zu einer Art Schwarzer Messe, einer Halloween artigen Selbstinszenierung der Spass-Gesellschaft. Auch nach der Pause geht das Spiel mit der Lust an der Verkleidung fulminant weiter: Almaviva schleicht sich ja nun als Musiklehrer Don Alonso in Bartolos Haus. Zeit für Transgender, also Auftritt Conchita Wurst! Ein Paradebeispiel für Selbstinszenierung. Am Ende finden sich zwar Almaviva und Rosina. Doch diese Beziehung wird nicht halten, das ist klar, auch wenn Rosina beim Anblick der Geschenke Almavivas (Tüten mit GUCCI, CHANEL und ESCADA Aufschriften) in die Trance der Entzückung gerät. Zu stark beruht diese vermeintliche Liebe auf Oberflächlichkeit, falschen Identitäten, fun und inhaltsloser Selbstdarstellung. Am Ende sind sie dann alle schick und teuer gekleidet (selbst der Dirigent und das Orchester haben sich in Schale geworfen) – und doch wirken sie alle „billig“.
Dass der Abend so durch und durch stimmig wirkt, verdankt diese absolut sehenswerte Produktion auch und vor allem dem sich enthusiastisch und mit immenser Lust am Spiel auf das Konzept Serebrennikovs einlassenden Ensemble. Tansel Akzeybek als Graf Almaviva schlüpft gekonnt in seine vielen Rollen, vom Schnulzensänger Lindoro über den Dschihadisten zu Conchita Wurst und schließlich zum berühmten Startenor. Seine überaus angenehm gefärbte und sicher geführte Stimme verfügt auch über eine blendende, stupende Höhe. Philipp Meierhöfer zeichnet ein differenziertes und einnehmendes Porträt des am Schönen und Reinen festhaltenden Antiquars Bartolo. Nicole Chevalier ist eine ausgezeichnet agierende und koloraturgewandt singende Rosina. Dominik Köninger begeistert als wendiger, affektierter Frisör Figaro (mit seinen Doubles Michael Fernandez, Paul Gerritsen, Etienne Röder). Tareq Nazmi singt einen stimmgewaltigen Basilio. Julia Giebel ersingt sich mit der Berta-Arie einen ganz besonders verdienten Applaus und Denis Milo wertet den Fiorillo mit seiner großartigen Bühnenpräsenz enorm auf. Vor lauter Konzentration auf das visuell so amüsante, quirlige Geschehen, sollte man aber auch die Ohren öffnen für die wunderbar leichtfüßig und federnd interpretierte Partitur Rossinis, welche vom Orchester der Komischen Oper Berlin unter der Leitung von Antonello Manacorda mit Verve interpretiert wird.
Fazit: NICHT VERPASSEN!!!
Inhalt: (Rossinis BARBIERE zeigt die Vorgeschichte zur NOZZE DI FIGARO)
Graf Almaviva hat sich in das Mündel des Doktor Bartolo, Rosina, verguckt. Doch Bartolo bewacht Rosina wie seinen Augapfel, da er selbst die junge Schönheit heiraten möchte. Mit Hilfe des käuflichen Intriganten und Barbiers der Stadt, Figaro, gelingt es Almaviva, den trotteligen Doktor hereinzulegen, und Rosina zu ehelichen. (Dass diese Ehe dann nicht nur glücklich ist, erfährt man in Mozarts LE NOZZE DI FIGARO…)
Werk:
Rossinis Meisterwerk ist bei der Uraufführung NICHT durchgefallen, wie immer wieder gerne kolportiert wird, sondern es fiel einer Intrige zum Opfer: Anhänger des Komponisten Paisiello, welcher den Stoff ebenfalls vertont hatte, versuchten die Oper des jungen Rossini niederzuschreien, angestachelt auch durch die Intendanz eines konkurrierenden römischen Opernhauses. Bereits die zweite Aufführung wurde zu einem Riesenerfolg, seither ist die Wirkung dieser Königin unter den Buffo Opern weltweit ungebrochen. Rossini hat das Werk, wie es damals üblich war, unter grossem Zeitdruck fertig stellen müssen. Doch war es gang und gäbe für die Komponisten jener Zeit, Teile von Arien und Ouvertüren aus eigenen (und manchmal auch fremden) Werken zu übernehmen. So können beim BARBIERE Melodien aus mindestens sieben anderen Opern Rossinis gefunden werden, auch aus ernsten Opern, wie ELISABETTA, REGHINA D´INGHILTERRA (Ouvertüre).
Nichtsdestotrotz bereiten Rossinis melodischer Einfallsreichtum, sein musikalischer Witz und das untrügliche Gespür für bühnenwirksames Timing auch nach 200 Jahren noch immer ungetrübte Freude und Genuss.