Hamburg: LES TROYENS, 28.01.2017
Grosse Oper in fünf Akten | Musik: Hector Berlioz | Libretto: vom Komponisten, nach Vergils AENEIS | Uraufführung: 4. November 1863 in Paris (nur die Akte III – V, Die Trojaner in Karthago), Erste Aufführung des gesamten Werks: 5./6. Dezember 1890 in Karlsruhe | Aufführungen dieser Wiederaufnahme in Hamburg: 28.1. | 2.2. | 5.2. | 10.2. | 14.2.2017
Kritik:
Berlioz’ Oper LES TROYENS wird selten aufgeführt, zu selten. Die Webseite operabase.com listet für die laufende Spielzeit z.B. nur Aufführungen in Chicago, Hamburg und die bevorstehende Premiere in Frankfurt auf. Eine Aufführung dieses Monumentalwerks mit einer Aufführungsdauer von dreieinhalb bis fünfeinhalb Stunden (je nach der Anzahl Striche) birgt deshalb auch Risiken – vor allem wenn eine Sängerin einer Hauptpartie kurzfristig ausfällt. So geschehen gestern Abend in Hamburg, wo Cathrine Naglestad die Cassandre wegen einer Rückenverletzung absagen musste. Weltweit haben vielleicht ein Dutzend noch aktive Sängerinnen diese anspruchsvolle Partie schon einmal verkörpert – die Staatsoper Hamburg hat sie alle angefragt, doch keine konnte oder wollte. Nun erwies es sich als großes Glück, dass eben am 19. Februar an der Oper Frankfurt LES TROYENS Premiere feiern wird. Die Sängerin dieser Produktion, Tanja Ariane Baumgartner, zog nun also ihr Debüt vor, sprang verdienstvollerweise in Hamburg ein und rettete so die Vorstellung. Und wie! Ihr bernsteinfarbener Mezzosopran leuchtete und funkelte mit bestechender Intensität, fulminante Spitzen krönten die unheilschwangeren Prophezeiungen der vergeblich mahnenden Seherin. Zwar sang sie verständlicherweise noch von der Seite und mit dem Klavierauszug auf dem Pult und Julia Franz spielte die Rolle auf der Bühne. Aber das störte überhaupt nicht, es führte gar zu einem sehr interessanten Effekt, die Wahrsagerin Cassandre erhielt so quasi durch die Verdoppelung der Partie übernatürliches Gewicht.
Eine Wucht ist auch das Bühnenbild von Olaf Altmann: Massive, holzvertäfelte Seitenmauern, hinten abgeschlossen durch eine riesige Klappe, welche sich um eine horizontale Mittelachse öffnen und schließen kann. Die Bühne betont das Klaustrophobische der in der eigenen Stadt gefangenen Trojaner. Starke Lichteffekte, der Verzicht auf Requisiten und unnötigen Aktionismus zentrieren die Aufmerksamkeit auf das Drama. Man könnte Michael Thalheimers Personenführung statisch nennen, ja, aber eine Statik mit unerhörter Kraft. Bis in die kleinsten Rollen (auch die stummen) ist die Oper herausragend besetzt. Und der Chor der Staatsoper Hamburg, dem in diesem Werk eine tragende Rolle wie eben in einer griechischen Tragödie zukommt, vor allem im ersten Teil, singt gewaltig – klangschön und dynamisch ausgesprochen differenziert (Einstudierung: Eberhard Friedrich). Torsten Kerl meistert die diffizile, fast heldentenorale Partie des Énée mit kultivierter Stimmgebung, ohne jegliches Forcieren, wunderbarer Stütze. Eine imponierende Leistung. Sehr gut gestalten auch der Chorèbe von Kartal Karagedik, ebenso der Pantée von Seth Carico, der Iopas von Markus Nykänen und der Ascagne von Heather Engebretson ihre Partien. Geradezu unheimlich erschütternd inszeniert ist das Finale dieses ersten Teils in Troja: Cassandre weiß von Énées Auftrag, den er durch Hektors blutüberströmten Schatten (ausgezeichnet Bruno Vargas) erhalten hat: Die Flucht nach Italien, die Gründung eines neuen Imperiums – Rom. Cassandre drängt nun alle Frauen zum kollektiven Selbstmord um der Entehrung und der Schändung durch die schwarz uniformierten Usurpatoren zu entgehen. Michaela Barth zeichnet verantwortlich für die Kostüme, welche eine nicht allzu ferne Vergangenheit evozieren, die Kriegs- und Nachkriegsjahre um 1945. Die Frauen erinnern an Bilder von Trümmerfrauen und Kriegswitwen, zerlumpte Vertriebene, Heimatlose. Die Männer dieser Frauen, die trojanischen „Helden“ haben sich nun also quasi als Kriegsflüchtlinge mit ihrem diffusen Auftrag (und dem trojanischen Schatz) auf die Flucht übers Mittelmeer gemacht, suchen und finden in einem reichen Land Asyl bei einer mächtigen Frau, die einst ebenfalls ein Flüchtling war (Didon in Karthago). Zum Glück tappte der Regisseur Michael Thalheimer nicht in diese Falle, sondern vertraut ganz der Intelligenz des Publikums, die Aktualitätsbezüge selbst herzustellen. Das Einheitsbühnenbild bleibt das Gleiche, anstelle von Blut wird nun einfach Regen über die große Klappe der imposanten Rückwand gegossen. Hier hätte man sich auch eine andere Lösung vorstellen können, ein etwas lichteres Ambiente für die drei Akte in Karthago. Ganz fantastisch singt Elena Zhidkova die Didon: Welch eine magische, leuchtende und strahlkräftige Stimme – da wird praktisch jede Note zu einem Ereignis, jede Phrase mit tiefer Empfindsamkeit und Verletzlichkeit gefüllt. Und verletzt wird sie ja dann auch durch den „Flüchtling“ Énée, der ihre Liebe gewinnt und sie dann doch schmählich und irgendwie feige verlässt, nur weil er den Stimmen der verstorbenen Helden folgen „muss“, welche ihm immer wieder „Italie!“ zuflüstern. Wunderbar singt auch die in ein strenges graues Deux pièces gekleidetete Katja Pieweck als Didons etwas matronenhafte Schwester Anna. Die Zwiegesänge der beiden gehören ebenfalls zu den Höhepunkten des Abends, genauso wie die Arie des Hylas zu Beginn des fünften Aktes. Bernard Richter stellt eine regelrechte Luxusbesetzung für diesen kurzen - aber wunderschönen - Auftritt dar. Als Narbal überzeugt Vladimir Baykov mit seiner warmen Stimme.
LES TROYENS ist aber nicht nur eine große Herausforderung für die Sängerinnen, die Sänger und den Chor, das Werk stellt auch enorme Ansprüche an das Orchester und den Dirigenten. Mit Kent Nagano steht ein Spezialist der französischen Musik am Pult des mit enormer Klangkultur spielenden Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Die Transparenz des Gesamtklangs, das Lautmalerische von Berlioz’ magischer Instrumentationskunst, die feinen Verästelungen in den Holzbläserpassagen, die sauberen Einsätze der Hörner, der evozierte „Raumklang“, das alles gelingt den Ausführenden im Graben hervorragend und so wird LES TROYENS zu einem Erlebnis, dem man gerne öfter auf den Bühnen begegnen würde. Gespielt wird eine Strichfassung, welche mit Pause ungefähr drei Stunden und 45 Minuten dauert. Eingerichtet wurde sie vom Komponisten Pascal Dusapin.
Empfehlung: Nicht verpassen – im Gegensatz zur Elbphilharmonie sind für die Staatsoper Karten erhältlich!
Inhalt:
Die Oper kann man in zwei Teile unterteilen. Der erste Teil behandelt die Einnahme Trojas (Akte I und II), der zweite zeigt die Trojaner in Karthago (Akte III-V).
Erster Teil:
Die Trojaner freuen sich, dass die Belagerung der Stadt durch die Griechen endlich zu Ende ist. Nach der (vermeintlichen) Flucht der Belagerer, entdecken sie auf dem Schlachtfeld ein riesiges hölzernes Pferd, sie halten es für ein Opfergabe an Pallas Athene. Die Seherin Cassandre hingegen warnt die Trojaner und sieht den Untergang Trojas nahen. Die Prophetin wurde einst von Apollo mit dem Fluch bestraft, dass nie mehr jemand ihren Weissagungen Glauben schenken werde. Selbst ihr Verlobter Chorèbe glaubt ihr nicht. Währenddessen trauern Andromaque und Astyanax um den gefallenen trojanischen Helden Hector. Der trojanische Held Énée berichtet, dass Laocoon von zwei Schlangen verschlungen worden sei, als er versuchte, das hölzerne Pferd der Griechen anzuzünden. Trotzdem schleppt das Volk das Pferd in die Stadt und lässt sich selbst durch eigenartige Geräusche aus dem Innern des Holzpferdes nicht aufhalten. Énée wird durch Lärm aufgeschreckt. Er sieht den Geist Hectors, der ihn zur Flucht mahnt. Er soll in Italien eine Stadt gründen, um von da aus ein neues Weltreich zu schaffen. Nachdem die List der Griechen mit dem hölzernen Pferd aufgegangen ist, beginnen die Kämpfe in der Stadt. König Priamus fällt, die Stadt steht in Flammen. Énée, sein Sohn Ascagne und Chorèbe stürzen sich in die Schlacht. Die trojanischen Frauen beten im Palast. Cassandre führt die Frauen zum Freitod, da sie nicht in griechischer Gefangenschaft entehrt werden wollen. Énée kann mit dem Schatz von Troja entkommen.
Zweiter Teil:
In Karthago ist Königin Didon in Schwierigkeiten. Ihr fruchtbares Reich an der Küste Afrikas wird durch die Nubier unter Iarbas bedroht. Die verkleideten Trojaner geben sich zu erkennen und Énée bietet Didon seine Hilfe im Kampf gegen die Nubier an. Didon ist von dem Helden aus Troja mehr als angetan. Nach der erfolgreichen Schlacht kehrt die Idylle in Karthago wieder ein (diverse Pantomimen folgen: Königliche Jagd, Unterschlupf in einer Höhle, Satyre, Nymphen, Ballett der Sklaven). Der Minister Narbal sorgt sich über Didons Vernachlässigung der königlichen Pflichten, die Schwester der Königin, Anna, zerstreut seine Sorgen. Didon und Énée steigern sich in ein ekstatisches Liebesduett (Nuit d'ivresse). Merkur erscheint und deutet in einem Strahl des Mondes Richtung Italien.
Vom Hafen her erklingt das Lied des Matrosen Hylas. Die trojanischen Anführer sind beunruhigt über das lange Verweilen der Flotte in Karthago, zumal Schatten gefallener Helden erscheinen und dreimal das Wort ITALIEN rufen. Sie mahnen zum Aufbruch. Énée ist sich bewusst, dass er die Annehmlichkeit in Karthago beenden muss. Didon ist enttäuscht und verbittert, fühlt sich um ihr Glück betrogen. Nachdem die Abreise der Trojaner nicht aufgehalten werden konnte, befiehlt Didon, einen Scheiterhaufen zu errichten. Darin verbrennt sie alle Geschenke Énées. In einer Vision sieht sie Hannibal aufsteigen und ihre Schmach an den Nachkommen der Trojaner rächen. Sie ersticht sich mit dem eigenen Schwert. Sie erkennt in einer weiteren Vision sterbend noch, wie auch Karthago untergehen wird, sieht das römische Kapitol aufscheinen. Das Volk von Karthago schwört ewigen Hass auf das Geschlecht des Énée.
Werk:
Berlioz kam durch seinen Vater schon im Knabenalter mit Vergils Aeneis in Berührung. Die Faszination für diesen Stoff liess ihn nie mehr los. Obwohl er sich dessen bewusst war, dass eine Aufführung des Monumentalwerks wahrscheinlich schwierig durchzusetzen sei, machte er sich an die Komposition. An seinem Enthusiasmus hatte die Prinzessin von Sayn-Wittgenstein entscheidenden Anteil, da sie ihn immer wieder ermunterte weiterzumachen. Er widmete die Partitur nach deren Fertigstellung auch der Prinzessin Carolyn de Sayn-Wittgenstein (und dem göttlichen Vergil). Was Berlioz befürchtet hatte, trat ein. Die Opéra hatte nach dem Disaster mit Wagners TANNHÄUSER 1861 kein Geld und keinen Mut, um nochmals einen grossen Brocken zu stemmen. Mit Wagner hatte sich Berlioz dann eh verkracht, da dieser sich nicht begeistert von Berlioz' Textentwurf zu LES TROYENS gezeigt hatte. Trotz intensiven Lobbyierens (selbst bei Napoléon III.) kam es nicht zu einer Aufführung an der Opéra. Immerhin erklärte sich der Direktor des Théâtre Lyrique, Carvalho, bereit, den zweiten Teil DIE TROJANER IN KARTHAGO aufzuführen. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, das Werk wurde nach 21 Vorstellungen abgesetzt. Eine vollständige Aufführung seiner Oper konnte Berlioz nicht mehr erleben. Auch heute noch sind Aufführungen der ganzen Oper eher selten, und wenn, dann nur mit erheblichen Strichen. Dabei würde eine Aufführung kaum mehr als fünf Stunden betragen, was man z.B. bei den MEISTERSINGERN problemlos in Kauf nimmt.
Als grosser Bewunderer Glucks (ganz unbescheiden schrieb Berlioz an Prinzessin Carolyne: „Ich fühle es, wenn Gluck auf die Erde zurückkehren würde und dies hörte, würde er sagen: Das ist mein Sohn!“) ist der erste Teil ganz im Stil der Gluckschen Tragédie lyrique gehalten, der zweite hingegen eher im Stil der Grand opéra, mit grossen Ensembles, Balletten, Liebesszenen, Kulten. Im Mittelpunkt beider Teile steht eine Frauengestalt: Die reine Heldin Kassandra im ersten, die schöne Didon, mit all ihren Gefühlen und Leidenschaften, im zweiten Teil. Wie immer begeistern bei Berlioz die kunstvolle, reiche Instrumentierung, die Erhabenheit der Gesangslinien, der kluge, symmetrische Formenbau.