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Genf, Grand Théâtre: KHOVANTCHINA; 25.03.2025

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Chowanschtschina

copyright: Carole Parodi, mit freundlicher Genehmigung Grand Théâtre de Genève

Nach KRIEG UND FRIEDEN und LADY MACBETH VON MZENSK inszeniert Calixto Bieito nun zum dritten Mal eine russische Oper am GTG: KHOVANTCHINA

Oper in fünf Akten | Musik: Modest Mussorgski | Libretto: nach einer Idee von Wladimir Stassow vom Komponisten | Uraufführung (Fassung Rimski-Korsakow) 21. Februar 1886 in St.Petersburg, Fassung Schostakowitsch: 25. November 1960 in Leningrad | Aufführungen in Genf: 25.3. | 28.3. | 30.3. | 1.4. und 3.4.2025

Kritik: 

Mussorgskys KHOVANTCHINA hat es in sich, ist von geradezu brennender Aktualität. So sieht es auch der verantwortliche Regisseur dieser überwältigenden Neuproduktion am Grand Théâtre de Genève, Calixto Bieito. Universelle politische Themenkreise sind es, die in dieser Oper verhandelt werden. Dafür stehen die Auseinandersetzungen im Russland des 17. Jahrhunderts und das Drama, welches die russische Bevölkerung immer wieder erleiden musste, wenn sich die politischen Kräfte gegeneinander stellten, nur symbolisch. Wie Calixto Bieito im Programmheft richtig anmerkt, geht es um universelle Themen wie Fanatismus, Hass und Radikalismus. Kommt uns das bekannt vor? Auch die unrühmliche Stellung, welche die religiösen Führer einnehmen, wird in der Oper durch die Radikalität der Altgläubigen geradezu schwerpunktmässig abgehandelt. Es sind also Themen, die uns alle – und gerade in diesen unsicheren Zeiten, in denen wir im Hier und Jetzt leben – angehen, angehen müssen, wenn wir unserer Freiheit behalten und verteidigen wollen. Bieito sieht die Handlung als einen Zug, der durch die Geschichte fährt. Und tatsächlich kommt dieser Zug (wenigstens ein Triebwagen) auf die Bühne (erst nur mit geheimnisvoll und unheimlich irrlichternden Frontscheinwerfern) und stellt ein zentrales Element des gigantischen, eindringlichen Bühnenbildes dar, das Rebecca Ringst zusammen mit dem Lichtdesigner Michael Bauer und der Videospezialistin Sarah Derendinger entworfen hatte. Natürlich denkt man bei der Konnexion Zug-Russland zuerst an den plombierten Wagen, mit welchem Lenin im April 1917 von der Schweiz aus quer durch Nordeuropa nach Petrograd gefahren ist. Eisenbahnwagen brachten auch Menschen in Konzentrationslager und in die Gulags in Sibirien, dienten als Gaskammern. Auch in dieser Produktion werden die Strelizen, diese Angehörigen der Palastgarde, welche einen Staat im Staat bildeten, in einer unter die Haut gehenden Szene im Eisenbahnwagon vergast. Die Bühne Rebecca Ringsts besteht aus einem 280 qm grossen Halbrund aus dekonstruierbaren und mobilen gigantischen LED Wänden. Auf diesen Wänden wechseln sich eindringliche Bilder, Graffiti, kyrillische Chatverläufe mit IP-Adressen usw. ab. Requisiten braucht es wenige, mal eine Badewanne für Ivan Khovanski, in welcher er dann auch Chaklovity ermordet wird (man hat sofort das Bild von Marats Ermordung in der Badewanne vor Augen), einen Bürostuhl für den Schreiber, einige Reisekoffer für die Altgläubigen. Die Bilder sind von eindrücklicher, suggestiver Kraft, lassen Raum für eigene Assoziationen – und erdrücken oder erschlagen mit ihrer Bildgewalt erstaunlicherweise den Fluss der Musik, die hochspannenden musikalischen Dialoge und Ariosi in keiner Art und Weise. Dafür sorgen neben dem ausgezeichneten Ensemble und der tief ins Herz dringenden Wucht der ausladenden chorischen Passagen durch den Chœur du Grand Théâtre de Genève und die Maîtrise du Conservatoire populaire de Genève (Einstudierung: Mark Biggins) das wunderbar differenziert aufspielende Orchestre de la Suisse Romande unter der Leitung von Alejo Pérez. Pérez lässt zusammen mit dem Orchestre de la Suisse Romande wunderbar lyrische Passagen aus dem Graben aufsteigen (die Morgendämmerung des Beginns ist etwas vom Schönsten, das Mussorgsky komponiert hatte, und Pérez bleibt dem Stück nichts an Eindringlichkeit schuldig – Bieito lässt dazu erstarrte Menschen mit Koffern in einer modernistischen Bahnhofshalle stehen. WOW!) Dabei gelingt dem Dirigenten das Kunststück, dass die Musik nicht in kitschiger Schönheit ertrinkt, sondern in uneitler Schlichtheit ihre berührende Wirkung entfalten kann. Für diese Produktion hat man die Fassung von Schostakowitsch gewählt, welche dieser in den 1950er Jahren auf der Basis des Klavierauszugs und der fragmentarischen Notierungen Mussorgskys erarbeitet hatte. In den Danses persanes im vierten Akt hört man deutlich die Hand Schostakowitschs mit den jazzigen Anklängen. Während des drei dreiviertel Stunden dauernden Abends (inklusive einer Pause) herrscht stets ein wunderbar austariertes Gleichgewicht zwischen Graben und Bühne, so dass weder Chor noch Solist*innen zu forcieren brauchen. Und was für Solist*innen da zu hören sind, ausnahmslos von allererster Güte, sowohl gesanglich als auch darstellerisch! KHOVANTCHINA ist logischerweise mit vielen Männerstimmen besetzt (schliesslich sind und waren es im Lauf der Geschichte ja vor allem Männer, die politisch intrigieren, hassen, morden, radikalisieren, fanatisieren), aber KHOVANTCHINA enthält auch drei Rollen für Frauen, eine davon ist gar die (heimliche) Hauptrolle in dieser Oper: Die zu den altgläubigen gehörende Marfa, die ehemalige Geliebte des Prinzen Andreï Khovanski. Raehann Bryce-Davis glänzt mit einen Rollendebüt der Extraklasse. Was sind denn das für herrliche Töne? Die gehen direkt ins Herz, rütteln auf, man leidet mit. Von zartesten Piani bis zu fast vulgären Ausbrüchen der Verzweiflung ist da die gesamte stimmliche Ausdrucksbandbreite abgedeckt. In manchen Passagen erinnert sie an eine Amneris, dann wieder klingt sie geheimnisvoll und unheimlich wie Azucena oder introvertiert leidend. Dazu ist sie ein regelrechtes Bühnentier, ein Ausbund an leidenschaftlicher Energie. Ekaterina Bakanova tritt als Emma leider nur im ersten Akt auf, singt die Rolle der von den beiden Khovanskis begehrten junge Frau mit anrührender Schönheit. Einen fulminanten Auftritt legt Liene Kinča als altgläubige (und mit leidenschaftlichen lesbischen Gefühlen für Marfa ringenden) Susanna hin. Was für eine eindringliche, charaktervolle Stimme ist da zu hören. Dmitry Ulyanov singt einen bassgewaltigen, agilen Ivan Khovanski, gekonnt unsympathisch in seiner paramilitärischen schwarzen Uniform mit Kampfsiefeln und Schnellfeuerwaffe. Sein Sohn, Prinz Andreï Khovanski wird durch die eindrückliche Gestaltung der Partie durch den Tenor Arnold Rutkowski schon beinahe zu einem Sympathieträger. Vor allem am Ende, wo er von Marfa erwürgt wird, bevor die Altgläubigen gemeinsam in den Flammentod gehen (hier wird das von Strawinski komponierte Finale gespielt und eindringlich bebildert: Die Altgläubigen stossen den Eisenbahnwagon in kollektiver Anstrengung in den giftigen Nebel des Grauens). Gegenspieler der Khovanskis sind vor allem der radikale Altgläubige und sektiererischer Verführer seiner Anhänger, Dossifej, der Bojar Chakovity und der sich dem Westen annähern wollende Prinz Galitsine. Taras Shtonda stattet den Kirchenfürsten Dossifej mit lockend balsamischen Basstönen aus, kann aber auch wuchtig dreinhauen. Vladislav Sulimsky singt einen fantastisch durchtriebenen Chaklovity, ausgestattet mit einem biegsamen Bariton lauert das Böse unter der Anzugsfassade (ist die auffallend rote Krawatte, welche ihm der Kostümdesigner Ingo Krügler angezogen hat, Zufall?) Dmitry Golovnin gestaltet mit weichem, hellem, ebenmässig geführten Tenor die etwas amorph intrigierende Figur des Prinzen Galitsine. Eine wichtige Rolle nimmt auch Michael J. Scott als Schreiberling (Scribe) ein: Umtriebiger, in der Nase popelnder Nerd mit durchdringendem Tenor. Und noch ein Tenor vermag auf sich aufmerksam zu machen: Emanuel Tomljenović agiert wie ein schmetterlingshaftes Faktotum, tuntig, aber immer präsent als Kouzka. Er bringt etwas – oft makaberen – Humor in das düstere Geschehen. In den kleineren Rollen bringen Rémi Garin (Gesandter Galitsines, Herold), Vladimir Kazakov (erster Strelize), Mark Kurmanbayev (zweiter Strelize) und Igor Gnidli (Vorsonofiev) weitere spannende Farben ins gewaltsame Ränkespiel. Wie sagt doch der brüllende russische Bär auf einer der Projektionen? „On ne peut pas faire d'omelette sans casser des œufs“ !

Fazit: Sollte man auf keinen Fall verpassen, erstens weil die Oper grossartig ist und nicht allzu oft auf den Bühnen erscheint und zweitens, weil diese bildgewaltige und musikalisch auf höchstem Niveau dargebotene Produktion einen hochspannenden, intensiven und nachdenklich stimmenden Opernabend ermöglicht.

Inhalt:

Russland gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Das Land steckt in einer Regierungskrise, verschärft durch eine Spaltung innerhalb der Kirche. Der Strelize Fürst Iwan Chowanski plant eine Verschwörung gegen Zar Peter. Iwan streitet sich auch mit seinem Sohn Andrei, welcher Emma, ein Mädchen aus der deutschen Vorstadt, bedrängt. Iwan will nämlich Emma für sich haben. Die Altgläubige Marfa beschützt Emma. Dossifei, der Führer der Altgläubigen, kann den Streit zwischen Vater und Sohn Chowanski schlichten.

Fürst Golizyn ist der Liebhaber der Zarewna Sofia. Er trifft sich mit Iwan Chowanski und Dossifei, um die Verschwörung gegen den Zaren Peter zu planen. Marfa prophezeit ihm als Wahrsagerin seinen baldigen Untergang. Er will sie deshalb ermorden lassen. Chowansi und Golizyn streiten sich, sie kommen nicht zu einem gemeinsamen Aktionsplan. Marfa wurde von den Truppen des Zaren Peter vor Golizyns Anschlag auf ihr Leben gerettet. Der Bojar Schaklowity, auch er ein Liebhaber der Zarewna, berichtet, dass der Hof von Chowanskis Verschwörungsplänen weiss. Marfa wird von Altgläubigen angegriffen, da sie ihre Liebe zu Andrei Chowanski verurteilen. Dossifei nimmt Marfa in Schutz. Schaklowity ist bei der Zarewna. Er hofft auf eine Alleinherrschaft. Unterdessen randalieren betrunkene Strelizen. Die Leibgarde des Zaren Peter nähert sich. Chowanski befiehlt seinen Strelizen, keinen Widerstand zu leisten. Chowanski befindet sich in einem Zustand der ständigen Angst. Eine Einladung bei der Zarewna erweist sich als fatal, es ist die Botschaft seines Todes. Golizyn wird in die Verbannung geschickt. Die Altgläubigen sollen auf Anordnung der Regierung vernichtet werden. Dossifei ordnet für seine Glaubensgemeinschaft die kollektive Selbstverbrennung an. Marfa berichtet Andrei Chowanski vom Tod seines Vaters. Erst glaubt ihr Andrei nicht und bezichtigt sie als Lügnerin. Doch als er die Glockenschläge, welche die Hinrichtungen der Verschwörer ankündigen hört, schenkt er Marfa Glauben und ist bereit, ihr überall hin zu folgen. Dass Zar Peter die Strelizen im letzten Moment begnadigt, bekommt er nicht mehr mit. Zusammen mit Marfa, Dossifei und den anderen Altgläubigen wählt er den Feuertod.

Werk:

Modest Mussorgski (1839-1881) gehörte zusammen mit Balakirew, Cui, Borodin und Rimski-Korsakow zum so genannten „Mächtigen Häuflein“,  einer Gruppe, welche sich intensiv über Kunst, Philosophie und Politik austauschte und den akademischen Professionalismus sowie die Verwestlichung in der Kunst- und Kulturszene ablehnte (z.B. Tschaikowskis Arbeiten). Schon früh erlernte Mussorgski das Klavierspiel und wurde von Balakirew in der formalen Musiklehre unterrichtet. Seine Oper BORIS GODUNOW schliesslich wurde nach vielen anfänglichen Schwierigkeiten 1874 uraufgeführt. Mussorgski begann zu dieser Zeit aber auch immer häufiger exzessiv zu trinken und erste Anzeichen der Demenz traten bei ihm auf. Viele seiner Werke blieben unvollständig und wurden von Freunden nach seinem Tod orchestriert oder vollendet, so auch die grosse Chor-Oper CHOWANSCHTSCHINA. In diesem Werk schildert Mussorgski in einer gewaltigen, kraftvollen musikalischen Sprache das Leiden des russischen Volkes unter den Intrigen und Machtpokerspielen der Politiker und Kirchenfürsten. Strawinsky fügte dem Werk eine neue Version des Finales hinzu und Schostakowitsch instrumentierte die Oper neu. In dieser Fassung (und nicht in der Rimski-Korsakow Fassung) wird das Werk heutzutage meistens aufgeführt.

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