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Basel: CHOWANSCHTSCHINA, 22.10.2015

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Chowanschtschina

Copyright: Simon Hellström, mit freundlicher Genehmigung Theater Basel

Oper in fünf Akten | Musik: Modest Mussorgski | Libretto: Wladimir Stassow | Uraufführung (Fassung Rimski-Korsakow) 21. Februar 1886 in St.Petersburg, Fassung Schostakowitsch: 25. November 196o in Leningrad | Aufführungen in Basel: 22.10. | 25.10. | 31.10. | 2.11. | 4.11. | 6.11. | 8.11. | 14.11. | 24.11. |26.11. | 3.12. | 6.12. | 12.12.2015

Kritik:

Geradezu unheimlich aktuell ist sie, die Oper CHOWANSCHTSCHINA (Die Affäre Chowanski) von Modest Mussorgski – und das Theater Basel hat das Werk mit packender und tief bewegender Eindringlichkeit zur Aufführung gebracht.

Der renommierte Musikkritiker Joachim Kaiser hat einmal gesagt, dass es einfacher sei, einen Verriss zu schreiben als eine Aufführung uneingeschränkt zu loben, da das Vokabular des Lobes arg beschränkt sei und schnell abgedroschen wirke. Ich will es dennoch wagen, denn an dieser Produktion finde ich weder szenisch noch musikalisch irgendeinen Anhaltspunkt, um das verdiente Lob für sämtliche Beteiligten einzuschränken.

Beginnen wir bei der zentralen „Gestalt“ der Oper, dem Chor: Was der Chor und der Extrachor des Theaters Basel an diesem Abend leisten, ist schlichtweg grandios (Einstudierung: Henryk Polus). Welch phänomenaler, differenzierter, bei aller Massierung stets transparenter Gesamtklang ist da zu vernehmen. Die Melancholie, der Fatalismus finden ebenso intensiven Ausdruck wie die Brutalität der Strelitzen, die Entrüstung der Frauen, die religiöse Verzückung und Opferbereitschaft der Altgläubigen. Aus dem Orchestergraben klingen Mussorgskis visionäre Ideen in der farbenreichen Instrumentierung von Dmitri Schostakowitsch (Mussorgski hatte die Oper unvollendet hinterlassen) und mit dem von Diaghilew in Auftrag gegebenen Finale von Igor Strawinsky. Kirill Karabits und dem Sinfonieorchester Basel gelingt eine wunderbar plastische Umsetzung, weiche, sanfte und versöhnliche Klänge (nur schon der „Sonnenaufgang“ des Vorspiels ist traumhaft schön), wechseln mit hämisch brutalen und „schrägen“ Passagen, eine reichhaltige Palette an Farben und immer wieder aufschimmernde solistische Glanzleistungen einzelner Instrumente (z.B. der Flöte) oder Instrumentengruppen (Trompeten, Posaunen) bereichern die musikalische Ausdruckskraft dieser Partitur, die immer wieder mit ihrer grossen Tiefe begeistert! Auf der Bühne steht ein Ensemble an herausragenden Stimmen zur Verfügung, das keine Wünsche offen lässt. Beginnen wir mit den Bässen: Sowohl Vladimir Matorin als Iwan Chowanski als auch Dmitry Ulyanov als Dossifei vermögen mit ihren unterschiedlich gefärbten, souverän strömenden und kraftvollen Stimmen zu begeistern. Matorin klingt (genau wie die Rolle es erfordert) etwas rauer, bärbeissiger, spöttischer. Ulyanov ist der gefährliche Demagoge, sein schwarzer Bass klingt autoritär, wuchtig, wenn er sich in seinen Zorn steigert und stets fantastisch gut abgestützt. Dmitry Golovnin gestaltet den Fürsten Golizyn mit seinem gut fokussierten Tenor, welcher eine Fülle an Ausdrucksnuancen bereithält. Er kann schneidend sarkastisch sein, aber auch ängstlich besorgt (den Jagdhunden!) von seiner Liebe zur Zarewna und zu seiner Mutter berichtend. Rolf Romei gibt den Frauenverführer Andrei Chowanski mit grossartig ausgeglichenem Timbre, manchmal geradezu „parsifalscher“ Naivität und Unbekümmertheit in Gesang und Darstellung, so z.B. sein ungläubiges Staunen im Schlussakt, wenn er unvermittelt und unfreiwillig Teil des kollektiven Selbstmordes der Altgläubigen wird. Ein eindrückliches Porträt liefert auch eine weitere langjährige Stütze des Basler Ensembles, Karl-Heinz Brandt als Schreiber, ein devoter und anpassungsfähiger Gehilfe der Mächtigen, der sich jedoch nicht zu schade dafür ist, zwischendurch auch etwas Leichenfledderei zu veranstalten. Aufhorchen lässt der junge kanadische Tenor Nathan Haller als Kuska mit seinem Lied im dritten Akt, das die aufgebrachten Frauen auf der Bühne beruhigt und die Zuhörer im Saal begeistert. Hier kündigt sich ein vielversprechendes Talent an. Begeisternd auch der lyrische Bariton von Pavel Yankovsky als Bojar Schaklowity. Eine wunderbar weich fliessende, hervorragend phrasierende Stimme mit warmer, einnehmender Farbe. Könnte es sein, dass Mussorgskis Sympathien (obwohl er die Perspektiven in dieser Oper ständig wechselt) bei ihm lagen? Jedenfalls waren Schaklowitys Anrufung Gottes und seine Bitte um einen starken Führer dritten Akt von ergreifender Intensität.

Eine starke Frau prägt diese Oper: Marfa. Sie tritt in jedem Akt auf, zieht die Aufmerksamkeit der Männer auf der Bühne und des Publikums magisch an. Jordanka Milkova ist eine überaus attraktive Erscheinung und besitzt einen wunderbar erotisch warm und samten leuchtenden Mezzosopran. Sie bewegt sich mit der Hinterhältigkeit einer Schlange, verführerisch meistens, doch welch biestiges Miststück kann sie auch sein, um ihre nicht sehr hehren Ziele zu verfolgen. So der Mord an ihrem Schützling und ihrer Rivalin um die Liebe Andreis, Emma, (sehr gut gesungen von Betsy Horne) oder die Intrige gegen die Hüterin des „Grals“ der Altgläubigen, Susanna (mit hellem, leicht ansprechendem Sopran wunderbar gesungen von Bryony Dwyer).

Dem Inszenierungsteam (Regie: Vasily Barkhatov, Bühne: Zinovy Margolin, Kostüme: Olga Shaishmelashvili) ist eine grossartige, symbolträchtige, aber nicht damit überladene Produktion gelungen, die viel Raum für eigene Assoziationen lässt. Die grossen tableauartigen Szenen, welche Mussorgski geschaffen hatte, werden in und um einen Bahnhof verlegt, in eine Zeit, die durchaus unsere unmittelbare Gegenwart sein könnte. Obwohl eine solche Produktion natürlich eine lange Vorlaufzeit hat, wurde und wird sie von der aktuellen Flüchtlingskrise auf eben geradezu unheimliche Art eingeholt. Die heimatlosen Menschen im überfüllten Wartesaal mit ihren Koffern, ihren Kinder- und Einkaufswagen, über Gleise stolpernd, hoffend, bangend – das geht unter die Haut. Auf dem Zwischenvorhang gibt es ruckelige Handkamera-Aufnahmen und roh zusammengeschnittene Standbilder von verschneiten, zugewucherten Gleisen, die ins Nichts führen (Video: Yury Yarushnikov). Sehr gut gelungen und stimmungsvoll auch die Projektionen der Morgenstimmungen zur Ouvertüre aus der Weite des Reiches, das sich über elf Zeitzonen erstreckt. Der Regisseur hat es trotz des episodenhaften Charakters und der wechselnden Perspektiven der Oper ausgezeichnet verstanden, eine stringente Linie hineinzubringen und die politischen Dimensionen und die Intentionen der Protagonisten genau herauszuarbeiten, die unheilvollen, fatalen und zerbrechlichen Allianzen von (Para) – Militärs und Kirche, die Pokerspiele um Macht und Einfluss, den Aufstieg und Fall der Demagogen und natürlich den düsteren Schlussakt (in der eindringlichen Strawinsky-Fassung) mit dieser unbegreiflichen „Heilig-Blut“ Verzückung der Altgläubigen, welche dann im kollektiven Vergiftungstod (einer Art Zwangskommunion) auf den Gleisen endet.

Verdiente Anerkennung (von Jubel zu sprechen, wäre angesichts der Tragik und Aktualität der Handlung unangemessen) seitens des Premierenpublikums für alle Beteiligten!

Inhalt:

Russland gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Das Land steckt in einer Regierungskrise, verschärft durch eine Spaltung innerhalb der Kirche. Der Strelize Fürst Iwan Chowanski plant eine Verschwörung gegen Zar Peter. Iwan streitet sich auch mit seinem Sohn Andrei, welcher Emma, ein Mädchen aus der deutschen Vorstadt, bedrängt. Iwan will nämlich Emma für sich haben. Die Altgläubige Marfa beschützt Emma. Dossifei, der Führer der Altgläubigen, kann den Streit zwischen Vater und Sohn Chowanski schlichten.

Fürst Golizyn ist der Liebhaber der Zarewna Sofia. Er trifft sich mit Iwan Chowanski und Dossifei, um die Verschwörung gegen den Zaren Peter zu planen. Marfa prophezeit ihm als Wahrsagerin seinen baldigen Untergang. Er will sie deshalb ermorden lassen. Chowansi und Golizyn streiten sich, sie kommen nicht zu einem gemeinsamen Aktionsplan. Marfa wurde von den Truppen des Zaren Peter vor Golizyns Anschlag auf ihr Leben gerettet. Der Bojar Schaklowity, auch er ein Liebhaber der Zarewna, berichtet, dass der Hof von Chowanskis Verschwörungsplänen weiss. Marfa wird von Altgläubigen angegriffen, da sie ihre Liebe zu Andrei Chowanski verurteilen. Dossifei nimmt Marfa in Schutz. Schaklowity ist bei der Zarewna. Er hofft auf eine Alleinherrschaft. Unterdessen randalieren betrunkene Strelizen. Die Leibgarde des zaren Peter nähert sich. Chowanski befiehlt seinen Strelizen, keinen Widerstand zu leisten. Chowanski befindet sich in einem Zustand der ständigen Angst. Eine Einladung bei der Zarewna erweist sich als fatal, es ist die Botschaft seines Todes. Golizyn wird in die Verbannung geschickt. Die altgläubigen sollen auf Anordnung der Regierung vernichtet werden. Dossifei ordnet für seine Glaubensgemeinschaft die kollektive Selbstverbrennung an. Marfa berichtet Andrei Chowanski vom Tod seines Vaters. Erst glaubt ihr Andrei nicht und bezichtigt sie als Lügnerin. Doch als er die Glockenschläge, welche die Hinrichtungen der Verschwörer ankündigen, hört, schenkt er Marfa Glauben und ist bereit, ihr überall hin zu folgen. Dass Zar Peter die Strelizen im letzten Moment begnadigt, bekommt er nicht mehr mit. Zusammen mit Marfa, Dossifei und den anderen Altgläubigen wählt er den Feuertod.

Werk:

Modest Mussorgski (1839-1881) gehörte zusammen mit Balakirew, Cui, Borodin und Rimski-Korsakow zum so genannten „Mächtigen Häuflein“,  einer Gruppe, welche sich intensiv über Kunst, Philosophie und Politik austauschte und den akademischen Professionalismus sowie die Verwestlichung in der Kunst- und Kulturszene ablehnte (z.B. Tschaikowskis Arbeiten). Schon früh erlernte Mussorgski das Klavierspiel und wurde von Balakirew in der formalen Musiklehre unterrichtet. Seine Oper BORIS GODUNOW schliesslich wurde nach vielen anfänglichen Schwierigkeiten 1874 uraufgeführt. Mussorgski begann zu dieser Zeit aber auch immer häufiger extensiv zu trinken und erste Anzeichen der Demenz traten bei ihm auf. Viele seiner Werke blieben unvollständig und wurden von Freunden nach seinem Tod orchestriert oder vollendet, so auch die grosse Chor-Oper CHOWANSCHTSCHINA. In diesem Werk schildert Mussorgski in einer gewaltigen, kraftvollen musikalischen Sprache das Leiden des russischen Volkes unter den Intrigen und Machtpokerspielen der Politiker und Kirchenfürsten. Strawinsky fügte dem Werk eine neue Version des Finales hinzu und Schostakowitsch instrumentierte die Oper neu. In dieser Fassung (und nicht in der Rimski-Korsakow Fassung) wird das Werk heutzutage meistens aufgeführt.

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