Frankfurt, Oper: LE VIN HERBÉ, 14.07.2023
Weltliches Oratorium | Musik: Frank Martin | Textquelle: „Roman de Tristan et Iseut“ von Joseph Bédier | Uraufführung: 28.3.1942 in Zürich (konzertant), 1948 in Salzburg (szenisch) | Aufführungen in Frankfurt: 7.7. | 10.7. | 14.7. | 19.7.2023
Kritik:
ARCHITEKTONISCHER WURF
Dieser gigantische, in der Mitte leicht geknickte Setzkasten mit seinen 32 mannshohen Fächern, den Karoly Risz für diese Produktion von LE VIN HERBÉ entworfen hatte, ist ein überwältigender Hingucker. Zwar ist die Produktion während der Corona Pandemie entstanden, es musste auf rigide Abstandsregeln auch auf der Bühne geachtet werden (was der Setzkasten gewährleistet hätte) - zur szenischen Aufführung kam es trotzdem nicht, weil die Regierung im Panikmodus dann die Theater schloss. Erst am 7. Juli 2023 konnte die szenische Frankfurter Erstaufführung stattfinden, gestern war nun die dritte Aufführung zu erleben. Orest Tichonov hatte die szenische Leitung der Neueinstudierung dieser Produktion übernommen, deren Regie Tilmann Köhler konzipiert hatte. Um es kurz zu machen: Es ist ein grandioser Abend geworden - intensiv und stimmig und ein wunderbares, äuserst feinfühliges und konzentriertes Plädoyer für dieses weltliche Oratorium des Schweizer Komponisten Frank Martin.
Wenn man den Zuschauersaal betritt, ist die Bühne bereits offen, man blickt auf diesen viestöckigen Setzkasten. Der WOW-Effekt stellt sich aber erst ein, wenn zu den ersten zarten Tönen das Licht im Saal ausgeht, die Scheinwerfer die Bühne erhellen und die 32 Sänger*innen hinter den schwarzen Vorhängen der Fächer hervortreten. Zustimmendes, veblüfftes Raunen im Saal. Danach aber während der nächsten pausenlosen 110 Minuten nur noch konzentrierte Stille. Tilman Köhler hat eine genaue Choreografie entworfen, wann welcher Sänger welches dieser Fächer betritt, immer wieder bleiben Fächer (gerade für die solistisch perfomenden Sänge*innen) leer, was zu interessanten geometrischen Aufstellungen führt. In die Fläche vor dem Kasten dürfen sich nur das Liebespaar Tristan und Iseut la Blonde sowie König Marc und Branghien begeben. Alle andern (Iseut aux Mains Blanches, Kaherdin, die Mutter von Iseut la Blonde und Herzog Hoël verharren an wechselndn Positionen im Setzkasten, was zu eindringlichen Wechseln in der Perspektive führt. Die Sänger*innen sind mehrheitlich schwarz gekleidet, Iseut la Blonde aber in einer wunderbaren weissen Robe und Tristan zwar mit schwarzer Hose, aber mit weissem Hemd und weissen Schuhen - die Verbindung der beiden Liebenden in unschuldigem Weiss, unschuldig wie ihre Liebe. Manchmal werden dezent farbige Akzente in den Kostümen von Susanne Uhl gesetzt, so im zweiten Teil des Oratoriums, der im Wald von Morois spielt. Da tragen die weiter oben platzierten Chorsänger*innen dunkelgrüne Schultertücher, die in den untern Reihen rotbraune, ein stilisierter Wald also. Verletzungen und blutige Träume werden mit roten Tüchern zurückhaltend markiert. Viele Requisiten braucht es nicht: Das Schwert des Königs, die Flasche mit dem Zaubertrank und die Becher, aus denen der fatale Liebstrank getrunken wird. An ausweglosen Stellen werden Notenblätter zerrissen und sanft wie Schneeflocken fallen gelassen - alles ist mit dermaßen bestechender Ruhe und so immenser Einfühlsamkeit dargestellt, dass Martins sehr eigene, madrigalartige Musik ihre Sogwirkung entfalten kann.
"EINE SAGA VON LIEBE UND TOD" (F.Martin)
Die Musik Martins, der trotz aller modernistischer Strömungen seiner Zeit an der Tonalität festhielt, zieht einen sofort in ihren Bann. Das Orchester besteht aus zwei Violinen (Ingo de Haas und Gutrun Hausmann), zwei Violen (Wolf Attula und Martin Lauer), zwei Celli (Mikhail Nemtsov und Sabine Krams), einem Kontrabass (Bruno Suys) und dem Klavier, das von André Dolabella gespielt wurde. Diese wunderbaren Musiker*innen evozierten unter der feinsinnig austarierenden Leitung von Takeshi Moriuchi einen transparenten Klangteppich, eine Grundierung von Stimmungen, welche von den 32 Sänger*innen auf der Bühne aufgenommen, weiter gesponnen und transportiert wurden. Die 24 Mitglieder des Chores der Oper Frankfurt (einstudiert von Tilman Michael) klangen fantastisch in ihren mitfühlenden Kommentaren und Erzählungen, nie zu laut oder zu vordergründig. Juanita Lascarro als Iseut la Blonde und Rodrigo Porras Garulo als Tristan verfügten genau über das Maß an Wärme und Leidenschaft, das Martin sich von den Sängern für seine Version des Tristan-Stoffes wünschte. (Bewundernswert wie Rodrigo Porras Garulo den Wechsel von seinem Sunnyboy-Pinkerton am Vorabend zum unschuldig und qualvoll Liebenden Tristan gestern Abend schaffte; was für ein talentierter, großartiger Sänger und Darsteller!) Clara Kim war eine Branghien voller Intensität, Cláudia Ribas gab der Mutter Iseuts eindringliches Profil und Kihwan Sim verlieh der menschlichen Größe König Marcs mit seinem profunden Bassbariton das entsprechende Gewicht. Theo Lebow sang mit klarer, heller Tenorstimme den Vertrauten Kaherdin, seine Schwester Iseut aux Mains Blanches, die zweite Frau Tristans, die er nur heiratete, um Iseut la Blonde vergessen zu können (was natürlich nie gelingt), ist zwar die "Böse", weil sie durch ihre Lüge über die Farbe der Segel Tristans Sterben beschleunigt, doch ist sie auch Opfer. Cecilia Hall malte mit Stimme und Gestik ein differenziertes Porträt dieser Betrogenen. Jarrett Porter ließ als ihr Vater, Herzog Hoël, mit einnehmend timbriertem Bariton aufhorchen.
Nach den erschütternden Rufen TRISTAN EST MORT und der ergreifenden Schilderung von Isoldes Tod durch den Chor schreitet Isolde zum auf der Bühne liegenden Tristan. Beide reichen sich keusch die Hand, zwischen ihnen steht das Schwert des Königs Marc. Das Licht (Jan Hartmann) wird fahl, obwohl der Chor im Epilog Trost für alle Leiden der Liebenden ankündigt.
Wie schreibt doch Kerstin Schüssler-Bach so treffend im (wie immer hier in Frankfurt ausgezeichneten) Programmheft: "Wagner hat kein Monopol auf einen Sagenstoff, der in Frankreich mindestens so intensiv gelesen wurde wie in Deutschland."
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass man sich selbst ein (Hör-)Bild machen sollte. Viele Gelegenheiten dazu hat man leider nicht mehr.
Werk:
Der Schweizer Komponist Frank Martin (1890-1974) beschrieb seinen Kompositionsstil als 'style chromatique'. Aus Leitmotiven entwickelte er eine Klangsprache, welche auch über komplexe Schichtungen und Reihen hinweg doch eine atmosphärische Schlichtheit bewahrt und tonal grundiert bleibt. Ursprünglich entstand das Werk als etwa halbstündige Auftragskomposition für den Züricher Madrigalchor. Martin erweiterte das Oratorium ab 1940 zu einer abendfüllenden Fassung, indem er zwei weitere Kapitel aus dem Roman von Bédier sowie einen Prolog und einen chorischen Epilog hinzufügte. Textlich und musikalisch rückt Martin weit von Wagners schwülstiger und ausufernder Todessehnsucht und Verklärung ab, indem er in der schlichten, untheatralischen Erzählweise und der sparsamen, kammermusikalischen Komposition für ein zwölfstimmiges Vokalensemble (begleitet von sieben Streichern und Klavier) bewusst einen quasi madrigalen Gegenpunkt zu Wagners Musiksprache setzte. Die Singstimmen werden ganz im Stile von Debussys PÉLLEAS ET MÉLISANDE sehr nahe am Duktus der Sprache eingesetzt, ausdrucksstark rezitierend, mit wunderschön herausgearbeiteten, affektbetonten ariosen Aufschwüngen.
Inhalt:
Isolde wird von Tristan über das Meer nach Cornwall gebracht, wo sie König Marke ehelichen soll. Isoldes Mutter gibt der Begleiterin Brangäne einen Trank mit, sie soll diesen dem Paar in der Hochzeitsnacht kredenzen. Isolde hasst Tristan, da er ihren Verlobten Morold erschlug. Während eines Zwischenhalts bleiben Tristan und Isolde allein auf dem Schiff zurück. Ein Kind reicht ihnen aus Versehen Brangänens Trank. Brangäne warnt das Paar, dass es sich um einen Liebes- und Todestrank gehandelt habe. Tristan und Isolde verfallen einander in unermesslicher Liebe.
Isolde wird Markes Gemahlin. Dieser hat jedoch erfahren, dass seine Frau Tristan liebt. Tristan und Isolde flüchten in den Wald von Morois. Marke spürt die Flüchtigen auf, entdeckt aber, dass beide züchtig waren, denn Tristans Schwert liegt zwischen ihren Lagern. Als Beweis seiner Gnade tauscht Marke das Schwert aus und legt seines zwischen die Liebenden. Die beiden Liebenden sind von unterschiedlichen Gewissenbissen geplagt. Isolde kehrt an Markes Hof zurück.
Zwei Jahre später: Tristan ist ohne Nachricht von Isolde. Er nimmt das Angebot des Herzogs Hoel an, Isolde die Weisshändige (Achtung, nicht „seine“ Isolde!) zu ehelichen. Während eine Kampfes wird Tristan tödlich verwundet. Er sehnt sich danach, Isolde, die Blonde (die Richtige!) noch einmal zu sehen. Sein Freund Kaherdin solle alles in die Wege leiten für ein Wiedersehen und ein weisses Segel hissen, wenn Isolde nahe. Die andere Isolde hat das Gespräch belauscht. Isoldes Schiff naht, doch ein Sturm bringt es beinahe zum Kentern. Isolde wünscht, in den Armen Tristans zu sterben. Kahedrin hisst das weisse Segel, doch Isolde die Weisshändige berichtet Tristan, ein Schiff mit schwarzem Segel nahe. Tristan stirbt. Isolde die Blonde ist gelandet. Sie schickt die andere Isolde weg und stirbt an Tristans Seite.
Legende des Brombeerstrauchs: In der Nacht wuchs ein Brombeerstrauch aus Tristans Grab und senkte sich in Isoldes Grab. Dreimal wurde der Strauch geschnitten, immer wieder wuchs er von neuem ins Grab der Isolde. König Marke verbietet, den Strauch je wieder zu schneiden.
Epilog: Für alle, die lieben. Mögen sie darin Trost finden gegen alle Leiden der Liebe.