Bielefeld: CARMEN, 11.02.2010
Musik: Georges Bizet
Text: Ludovic Halévy und Henri Meilhac, nach Prosper Merimée
Uraufführung: 3. März 1875 in Paris
Kurzkritik:
Woran mag es wohl gelegen haben, dass sich an diesem Abend nach den grossen Hits dieser Oper keine Hand zum Applaus rührte? Sowohl nach der Habanera und der Blumenarie als auch nach dem Kartenterzett blieb es im Publikum beinahe schon unheimlich still - abgesehen von sowieso die gesamte Vorstellung hindurch andauernden, erheblich störenden Hustern. An den durchaus passablen Leistungen der SängerInnen kann es nicht gelegen haben. Obwohl drei der vier ProtagonistInnen als leicht indisponiert angekündigt wurden (Carmen, Don José, Escamillo) sangen sie ihre Partien solide. Es lag wohl eher am einschläfernden Dirigat von Christian van den Berg-Bremer, dass dem Abend die richtige Stimmung und vor allem die rechte Spannung fehlte. Er vermochte es nicht, in den Bielefelder Philharmonikern die Glut von Bizets Partitur zum Lodern zu bringen. Das klang alles zwar schön musiziert, aber zu akademisch brav, ja stellenweise richtiggehend langweilig. Vielleicht hätte es dem Orchester gut getan, die feurige Ouvertüre spielen zu dürfen. Doch diese erklang fragmentartig von einer Jazzcombo aus dem Off gepielt. Dazu gesellte sich eine zu rätselhafte Regiearbeit von Helen Malkowsky. In einer hässlichen, nicht mehr benutzten ehemaligen Fabrikkantine trafen sich irre Gestalten und spielten CARMEN nach. Inspiriert eventuell von den Schatten der Vergangenheit, von dem, was sich vielleicht vor über 100 Jahren hier zugetragen hatte. So schwankte das Geschehen zwischen Kubricks SHINING und einer halluzinatorischen Irrenhaus- und Drogenentziehungsstationsatmosphäre und liess den unvorbereiteten Zuschauer im bedrückenden Einheitsbühnenbild mit seinen Assoziationen ziemlich alleine. Es blieb auch ein Rätsel, weshalb das Vorspiel zum dritten Akt irgendwann mal in diesem Akt gespielt wurde, nur nicht an der Stelle, an welcher es vorgesehen ist. Die Pantomime mit der Verbrennung von Josés Uniform durch Micaela und dem Korpulieren mit ebendieser Uniform durch Carmen hätte man auch zu Beginn des Aktes zeigen können. Micalea betet dazu in Latein, Carmen auf spanisch …
Einige Einfälle waren allerdings bestechend: Endlich einmal erhielt die Manuelita (sie wird von Carmen im Streit im ersten Akt verletzt und damit kommt die Handlung erst in Gang) ein Gesicht und eine Geschichte. Diese Manuelita ist hier in Bielefeld nämlich die Braut von Leutnant Zuniga, welcher seinerseits von den mafiösen Begleitern Carmens mit alten Videos am Hochzeitstag erpresst wird. Auch die ständig tickende Uhr, welche das schnelle Verglühen von Carmens Leben und die Vergänglichkeit der Lust anzeigt, erzeugt einen unheimlichen Schauereffekt. Die gesprochenen Dialoge wurden teilweise der Inszenierung angepasst, aber dann doch nicht radikal genug und zudem zu gestelzt gesprochen. Das Drama fand so nicht statt.
Frances Pappas sang die Carmen schön, spielte die männerhungrige und -verzehrende Zigeunerin mit grosser erotischer Ausstrahlung. Allerdings vermisste man in ihrer Stimme Volumen und Tiefe. Emmanuel di Villarosa sang einen sanften Don José. Sein lyrisch gefärbter Tenor besaß auch Durchschlagskraft. Es wäre wünschenswert, wenn es ihm gelänge, in Zukunft noch die zu larmoyante Färbung seines Gesangs wegzulassen. Zum Escamillo ist der Regisseurin leider nicht allzu viel eingefallen. Deshalb blieb wohl Alexander Marco-Buhrmester trotz bunt eleganten Auftretens eher farblos. Eine wunderbar klare Micaela Stimme steht Melanie Kreuter zur Verfügung, welche sie mit herrlich aufblühenden Kantilenen differenziert einsetzt. An der sauberen Intonation ihrer grossen Arie im dritten Akt müsste noch ein wenig gefeilt werden.
Inhalt und Werk:
L’amour est un oiseau rebelle
Carmen ist der Traum aller Männerphantasien, voll impulsiver Sinnlichkeit und erotischer Anziehungskraft. Tagsüber arbeitet die Zigeunerin in einer Tabakfabrik, nachts verdreht sie den Männern in Lillas Pastias Kneipe am Rande der Stadt den Kopf. Geschickt wickelt sie die Männer um den Finger und lässt sie daraufhin eiskalt wieder abblitzen. Doch ihr alle Konventionen sprengender Freiheitsdrang wird ihr eines Tages zum Verhängnis. Als Carmen wegen einer Messerstecherei in der Tabakfabrik von Don José ins Gefängnis abgeführt werden soll, überredet sie diesen, sie laufen zu lassen, und verspricht ihm, für ihn allein in Lillas Pastias Kneipe zu tanzen. Von Carmen komplett in den Bann gezogen, wirft Don José alle seine moralischen Grundsätze über Bord, lässt das Andenken an seine Mutter und seine alte Jugendliebe Micaela hinter sich und stürzt sich in das Abenteuer mit Carmen. Auch Carmen scheint für einen kurzen Moment ihre wahre Liebe gefunden zu haben und will ihre Karriere als Schmugglerin an den Nagel hängen. Doch das Schicksal der beiden scheint bereits von Anfang an vorprogrammiert. Zu unvereinbar sind die beiden Lebensentwürfe. Don José, hin und her gerissen zwischen Pflicht und Leidenschaft, kann sich nicht zu einem Leben mit Carmen in Freiheit entschliessen. Statt dessen steigert ein feuriger Torero namens Escamillo seine Eifersucht ins Unermessliche, so dass der pflichtbewusste Sergeant schliesslich zum Mörder wird.
CARMEN ist Georges Bizets letzte Oper und zugleich sein grösster Publikumserfolg. Die Titelheldin steht als verführerische Femme fatale in der Tradition von Verdis Violetta und weist voraus auf Schönbergs Lulu. Schauplatz und Musik der Oper lassen das typisch spanische Kolorit erkennen. Doch Carmen ist mehr als eine folkloristische Ausstattungsoper. Es ist ein Stück über komplett unterschiedliche Lebensentwürfe und die fatale Verbindung von Liebe und Freiheit, Pflicht und Leidenschaft.