Zum Hauptinhalt springen Skip to page footer

Zürich, Opernhaus: CARMEN; 07.04.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Carmen

Copyright aller Bilder: Monika Rittershaus, mit freundlicher Genehmigung Opernhaus Zürich

Marina Viotti und Saimir Pirgu als fatales Liebespaar, Gianandrea Noseda dirigiert

Oper vier Akten | Musik: Georges Bizet | Libretto : Henri Meilhac und Ludovic Halévy | Uraufführung: 3. März 1875, Salle Favart, Paris | Aufführungen in Zürich: 7.4.| 10.4.| 12.4. | 14.4. | 19.4. | 21.4. | 24.4. | 4. 5. | 11.5. | 15.5. | 12.6. | 15.6.2024

Kritik:

DON JOSÉS ALBTRAUM

Ein junger Mann stolpert während der Ouvertüre unbeholfen in Alltagskleidern auf die Bühne (auf der Bühne). Auf dem Bühnenboden findet er eine Partitur oder einen Klavierauszug, beginnt sich in den Notentext zu vertiefen. Zum Schicksalsmotiv umkreisen Carmen, Micaëla und Escamillo in historischen Kostümen den jungen Mann, der sich immer weiter in die die Rolle des Don José hineinzuträumen scheint. Die Szene bevölkert sich mit Zuschauern, die in Cul-de Paris-Roben (Damen) und befrackt und mit Zylinder (Herren) vielleicht zur Uraufführung in die Opéra-Comique strömen, dem Ort der Uraufführung von Bizets CARMEN und auf deren von Paul Zoller exakt nachgebildeten Bühne Regisseur Andreas Homoki die Oper spielen lässt. Im Zuschauerraum des Opernhauses Zürich geht das Licht an (das exzellente Lichtdesign wie sehr oft am Haus stammt von Franck Evin), die Männer auf der Bühne intonieren den Soldatenchor (Sur la place, chacun passe) und zeigen mit dem Finger ins Zürcher Premierenpublikum (drôle de gens que ces gens-là). Wir befinden uns in einer albtraumhaften Situation - doch steckt in den Träumen ja auch immer verdrängte Wahrhaftigkeit ... . José gerät in seinem Traum denn auch gleich in die nächste Bedrouille, er wird vom (herausragend singenden und agierenden) Kinderchor bedrängt und gepiesakt und schliesslich bis auf die Unterhosen entkleidet. Wenigstens ist nun gleich seine Sergeanten-Uniform zur Stelle, und José kann sich nun auch äusserlich in die Inszenierung einfügen. Die "nervigen" Bälger klauen ihm die Partitur, zerknüllen die Seiten und werfen sie wild durcheinander. So geschah es auch mit der echten Partitur Bizets. Nach dem Desaster der Uraufführung (die hypokriten Pariser waren entsetzt über das Sujet, den Mord, die Fahnenflucht, über eine rauchende, sexbesessene und selbstbestimmte Hauptfigur etc.) wurde Bizets Partitur ja zuerst für Wien von von Ernest Guiraud bearbeitet (komponierte Rezitative und Balletteinlagen), knapp hundert Jahre später folgte Oesers Version, welche auf das Originalmaterial zurückgriff, wovon Bizet allerdings selbst Teile für die Uraufführung wieder gestrichen oder korrigiert hatte. Im 21. Jahrhundert legten Robert Didion (für den Verlag Schott) und Richard Langham-Smith (für die Edition Peters) neue kritische, auf dem Urtext und Klavierauszügen erster Aufführungen beruhende Herausgaben der Partitur vor. Auf der akribisch recherchierten Edition des renommierten Professors am Royal College of Music London, Richard Langham-Smith, fusst nun auch diese Zürcher Version der CARMEN. Es zeugt vom subtilen Humor Andreas Homokis, dass er solch feine Anspielungen auf Enstehungs- und Wirkungsgeschichte in seine Inszenierung dieser mit der Opéra-Comique in Paris koproduzierten Opéra-Comique einfliessen lässt. Da Homoki das Ganze als Albtraum eines linkischen, naiven Mannes ablaufen lässt, kann er auf der - bis auf ein paar Stühle und einen sich ständig öffnenden und schliessenden Vorhang - leeren Bühne auch wunderbar die Zeitlosigkeit des Stoffes (Liebeswahn, Eifersucht bis zum Femizid, Freiheitsdrang, sexuelle Selbstbestimmung) thematisieren. Der erste Akt spielt wie erwähnt zur Zeit der Uraufführung nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg, der zweite Akt in der Kneipe von Lillas Pastia ist von den Kostümen her (Gideon Davey hat sie entworfen) dezent folkloristisch gehalten, der dritte Akt mit der Schmugglerszene bei Schneefall spielt zur Zeit der deutschen Besatzung irgendwo in Frankreich. Die Schmuggler sehen eher wie Partisanen der Résistance oder ie  Kriegsflüchtlinge aus, die sich mit Teppichen und verschnürtem Gepäck in den Bergen verstecken. Im vierten Akt schliesslich landen wir nahe an der Jetztzeit. Cortège, Quadrille und die Corrida werden am tragbaren TV-Gerät verfolgt, dazu wird in der Tradition des Botellòn (kollektives Besäufnis auf der Strasse aus Pappbechern und Flaschen in spanischen Grossstädten) und mit Konfetti und Papierschlangen bühnenwirksam gefeiert was das Zeugs hält, bevor dann die Schiene mit dem Vorhang der Opéra-Comique niederfährt und ein schwarz-golden schimmernder Galavorhang für das fatale Ende vom Bühnenhimmel sinkt. Aus dem Albtraum gibt's kein Erwachen mehr, dazu hat Bizet nach dem tödlichen Femizid des eifersüchtig rasenden José keine Musik komponiert. Auch wenn es nur ein Traum war, als Zuschauer bleibt man am Ende erschüttert zurück.

PACKENDE DARSTELLER*INNEN

Dass diese Erschütterung so vehement einsetzt, ist natürlich einerseits das Verdienst des Regisseurs Andreas Homoki, der mit seiner tief in die Charaktere und ihre Befindlichkeiten eintauchenden Personenführung - trotz der Umwege über Theater auf dem Theater und Traum - eine direkte Betroffenheit evoziert. Aber es ist andererseits auch der sängerisch-darstellerisch herausragenden Besetzung aller Partien zu verdanken, dass so eine bewegende Unmittelbarkeit des Geschehnes zu erleben ist. Saimir Pirgu verströmt mit seiner bronzen strahlenden Tenorstimme ungestüme Leidenschaft, bewegt sich vor allem im Fortebereich bombensicher, vermag aber auch zartere Phrasen in voix-mixte berührend einzusetzen (die Blumenarie purer Wohlklang!), zeigt eine starke Bühnenpräsenz und wirkt nie weinerlich, sondern ist schlicht und einfach als naiver Jüngling vollkommen überfordert mit seiner Situation. Für mich DER Sympathieträger des Abends. Ganz anders natürlich die selbstsicher mit ihren Reizen spielende und kalkulierende Carmen von Marina Viotti: Ein beeindruckendes Rollendebüt. Die Habanera (L'amour est un oiseau rebelle) gestaltet sie mit ausgeklügelter Differenzierungskunst, nicht guttural-erotisch und plakativ chargierend, sondern subtil mit dynamischen Abstufungen variierend. Sie setzt ihre körperlichen Reize sparsam (mal ein entblösstes Knie), aber genau abzielend auf die erhoffte Wirkung ein. Ganz stark ist Marina Viotti auch in den anderen unverwüstlichen Szenen und Ensembles dieser unsterblichen Erfolgsoper: Verführerisch bewegt sie José zu ihrer Freilassung mit den zauberhaft vorgetragenen Chansons z.B. Près des remparts de Seville, begeistert mit dem baskischen Lied (Les tringles des sistres tintaient), das im Refrain bereichert wird mit den fantastisch mit Viottis Timbre verschmelzenden Stimmen von Niamh O'Sullivan als dunkel timbrierte Mercédès und Uliana Alexyuk als leuchtend strahlende Frasquita. Die drei gestalten auch das Kartenterzett im dritten Akt mit der gebotenen gespenstischen Eindringlichkeit und formen zusammen mit Spencer Lang (Le Remendado) und Jean-Luc Ballestra (Le Dancaïre) das diffizile Schmugglerquintett im zweiten Akt mit grandioser Klasse. Der vierte Akt gehört dann ganz dem klang- und farbenprächtig singenden Chor der Oper Zürich und den SoprAlti (einstudiert von Janko Kastelic) und dem fatalen Liebespaar. Diese letzte Szene singen Marina Viotti und Saimir Pirgu mit unter die Haut gehender Leidenschaft, treiben sich gegenseitig spiralenartig zu vokalen Höchstleistungen an - bis José nach der letzten verbalen Erniedrigung durch Carmen keinen anderen Ausweg mehr weiss und zum Messer greift.

GEGENPOLE

Dabei hätte José eine Alternative gehabt: Micaëla. Natalia Tanasii ist von Beginn weg eine unerschrockene junge Frau vom Land: Sie vermag die übergriffigen Männer in der Eröffnungsszene in Schach zu halten und fürchtet sich auch nicht vor dem Gang zu den Partisanen im Gebirge. Die Stimme von Natalia Tanasii ist überaus einnehmend, sicher geführt mit wunderbar leuchtenden Höhen - für mich war sie am Premierenabend an gewissen Stellen eine Spur zu wenig lyrisch, zu laut, zu vordergründig, das passte aber gut zur so angelegten Rolle. Aber José hat sich nicht für diese Frau entschieden, obwohl seine von ihm so verehrte Mutter sie ihm in ihrem aus dem Off vorgelesenen Brief so sehr ans Herz gelegt hatte. Carmen hingegen hat sich relativ schnell für eine Alternative zu José entschieden: Den Torero-Superstar Escamillo. Łukasz Goliński singt ihn mit seinem satten Bassbariton mit Verve und Entschlossenheit. Obwohl ihm Bizet die grosse, effektvolle Auftrittsarie - der Łukasz Goliński nichts an trefflicher Wirkung schuldig bleibt - und die auch musikalisch hochspannende Auseinandersetzung mit José im dritten Akt zugeschrieben hat, bleibt die Figur für mich stets etwas amorph. Das liegt weder am Sänger, noch am Regisseur, sondern daran, dass die Librettisten der Figur nicht so viel Aufmerksamkeit widmeten wie Carmen, Micaëla und Don José.

Ergänzt wird das hochklassige Ensemble durch den warmstimmig und leicht anzüglich spöttelnden Moralès von Aksel Daveyan und den selbstsicher agierenden, seine höhere Position im Militär deutlich akzentuierenden Zuniga von Stanislav Vorobyov.

DER "WOW"-EFFEKT

Bei aller Hochachtung für das Geschehen auf der Bühne kam für mich der "WOW"-Effekt an diesem Abend aus dem Graben: Die Philharmonia Zürich spielte Bizets Partitur mit einer Brillanz, einer Frische, einer Emphase und mit leidenschaftlichem Drive und einer rhythmischen Akkuratesse, die aufhorchen liess, auch wenn man Bizets genialen, unsterblichen Opernknaller schon Dutzendemal gehört und gesehen hat.

Die CARMEN war ja wie Wagners RING DES NIBELUNGEN am Opernhaus Zürich Chefsache: Intendant Homoki inszenierte und GMD Gianandrea Noseda stand am Pult. Was er aus dieser so bekannten Partitur, bei der man praktisch jede Phrase mitsummen könnte, herauskitzelt, hat einfach eine unglaubliche Klasse. Das ist bis in feinste und zarteste Vor- und Nachspiele zu den einzelnen Nummern und Szenen so wunderbar dynamisch austariert und fantastisch musiziert, das hat in den "Reissern" eine dramatische, soghafte Wucht, die einen beinahe vom Stuhl reisst. Zu Recht erhielten das Orchester und der Dirigent an diesem dankbar und warm (aber aus welchen Gründen auch immer nicht stürmisch oder stehend) akklamierten Premierenabend den enthusiastischsten Applaus.

Inhalt und Werk:

L’amour est un oiseau rebelle
Carmen ist der Traum aller Männerphantasien, voll impulsiver Sinnlichkeit und erotischer Anziehungskraft. Tagsüber arbeitet die Zigeunerin in einer Tabakfabrik, nachts verdreht sie den Männern in Lillas Pastias Kneipe am Rande der Stadt den Kopf. Geschickt wickelt sie die Männer um den Finger und lässt sie daraufhin eiskalt wieder abblitzen. Doch ihr alle Konventionen sprengender Freiheitsdrang wird ihr eines Tages zum Verhängnis. Als Carmen wegen einer Messerstecherei in der Tabakfabrik von Don José ins Gefängnis abgeführt werden soll, überredet sie diesen, sie laufen zu lassen, und verspricht ihm, für ihn allein in Lillas Pastias Kneipe zu tanzen. Von Carmen komplett in den Bann gezogen, wirft Don José alle seine moralischen Grundsätze über Bord, lässt das Andenken an seine Mutter und seine alte Jugendliebe Micaela hinter sich und stürzt sich in das Abenteuer mit Carmen. Auch Carmen scheint für einen kurzen Moment ihre wahre Liebe gefunden zu haben und will ihre Karriere als Schmugglerin an den Nagel hängen. Doch das Schicksal der beiden scheint bereits von Anfang an vorprogrammiert. Zu unvereinbar sind die beiden Lebensentwürfe. Don José, hin und her gerissen zwischen Pflicht und Leidenschaft, kann sich nicht zu einem Leben mit Carmen in Freiheit entschliessen. Statt dessen steigert ein feuriger Torero namens Escamillo seine Eifersucht ins Unermessliche, so dass der pflichtbewusste Sergeant schliesslich zum Mörder wird.

CARMEN ist Georges Bizets letzte Oper und zugleich sein grösster Publikumserfolg. Die Titelheldin steht als verführerische Femme fatale in der Reihe starker Frauenfiguren der Kunst - und Menschheitsgeschichte, von Lilith über Medea und Helena zu Dalilah, Salome, Melusine, Loreley, Francesca da Rimini, Lulu bis hin zu Filmen mit Marlene Dietrich, Rita Hayworth, Lana Turner, Glenn Close (Fatal Attraction). Schauplatz und Musik der Oper lassen das typisch spanische Kolorit erkennen, das nach der napoleonischen Zeit als exotisch und erotisch wahrgnommen wurde. Doch Carmen ist mehr als eine folkloristische Ausstattungsoper. Es ist ein Stück über komplett unterschiedliche Lebensentwürfe und die fatale Verbindung von Liebe und Freiheit, Pflicht und Leidenschaft.

Musikalische Höhepunkte:

Duett Micaëla – José: Parle-moi de ma mère, Akt I

Habanera der Carmen: L’amour est un oiseau rebelle, Akt I

Segeduille der Carmen: Près des remparts de Seville, Akt I

Couplets des Escamillo: Votre toast, je peux vous le rendre, Akt II

Blumenarie des Don José: La fleur que tu m’avais jetée, Akt II

Schmugglerquintett, Akt II

Kartenterzett Carmen, Frasquita, Mercedes, Akt III

Arie der Micaëla: Je dis que rien ne m’épouvante, Akt III

Schlussszene Carmen-José, Akt IV

Karten: www.opernhaus.ch

Bizets CARMEN am Opernhaus Zürich (von mir besuchte Vorstellungen)

28.04.1982 ML: Bruno Bartoletti, I: Jean Pierre Ponnelle, Carmen: Agnes Baltsa, José: Jon Buzea, Micaëla: Deborah Cook, Escamillo: Simon Estes

03.06.1982 wie oben, aber José: José Carreras

11.06.1982 ML: Bartoletti, Carmen: Victoria Vergara, José: Corneliu Murgu, Micaëla: Rachel Yakar, Escamillo: Yves Bisson

12.01.1985 ML: Ralf Weikert. Carmen: Doris Soffel. José: Robert Dumé, Micaëla: Renate Lennart, Escamillo: Robert Hale

13.12.1997 ML: Raphael Frühbeck de Burgos, Inszenierung immer noch von Ponnelle, Carmen: Agnes Baltsa, José: Gösta Winbergh, Micaëla: Margaret Chalker, Escamillo: Cheyne Davidson, Frasquita: Elena Mosuc

28.06.2008 ML: Franz Welser-Möst, Inszenierung: Matthias Hartmann, Carmen: Vesselina Kasarova, José: Jonas Kaufmann, Micaëla: Isabel Rey, Escamillo: Michele Pertusi

 

Zurück