Berlin, Philharmonie: SCHUMANN und MAHLER, 13.01.2016
Pierre Boulez: Notation III für grosses Orchester | Robert Schumann: Klavierkonzert in a-Moll, op 54, Uraufführung: 4. Dezember 1845 in Dresden (mit seiner Frau Clara Schumann als Solistin) | Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 1 in D-Dur (oft genannt DER TITAN) | Uraufführung: 20 November 1889 in Budapest unter der Leitung des Komponisten | Dieses Konzert in Berlin: 13.1.2016
Kritik:
Zubin Mehta, der Ehrendirigent der Staatskapelle Berlin, wird im April dieses Jahres 80 Jahre alt werden. Aus diesem Anlass luden ihn die Staatskapelle und ihr Chefdirigent auf Lebenszeit, Daniel Barenboim, zu einem Geburtstagskonzert in der Philharmonie ein. Doch zunächst galt es eines anderen Ehrendirigenten der Staatskapelle zu gedenken, des am 5. Januar 2016 verstorbenen Pierre Boulez. Daniel Barenboim hatte deshalb kurzfristig ein Werk dieses großartigen Musikers, Komponisten und Dirigenten an den Beginn des Konzertes gesetzt, die NOTATION III für Orchester, und auch gleich das Dirigat dafür übernommen, obwohl er anschließend als Solist für Schumanns Klavierkonzert gleich nochmals eine anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen hatte. Es scheint beinahe übermenschlich, was dieser begnadete Künstler alles zu leisten in der Lage ist. Nach einer kurzen Würdigung des langjährigen Wegbegleiters und Menschen Boulez durch Barenboim spielte die groß besetzte Staatskapelle Berlin also dessen Notation III für Orchester. Boulez hatte schon früh begonnen, musikalische Gedanken in Form der Notations für Klavier zu Papier zu bringen, danach galten sie lange als verschollen, bis sich der Komponist Ende der 70er Jahre ihnen wieder zuwandte und damit begann, sie für großes Orchester zu orchestrieren, unterstützt durch Barenboim, der zu dieser Zeit Chefdirigent des Orchestre de Paris war und Boulez’ Notations I – IV mit diesem Klangkörper zur Erstaufführung brachte. Die Notation III ist ein knapp fünf Minuten dauerndes, packendes Klangerlebnis, welches von der Staatskapelle Berlin unter der Leitung Barenboims eine würdige Wiedergabe erfuhr und neugierig auf die anderen Notations machte. In geschichteten Klangflächen angelegt und hochkomplex in der Struktur erschließt sich die Komposition doch unmittelbar. Kurzes spätromantisch angehauchtes Aufblühen des riesigen Orchesterapparates wird schnell in sich überlagernde Stimmen aufgespalten, expressive Klangballungen und Cluster prägen das Klangbild, in einem Diminuendo verklingt das Stück.
Danach also das Klavierkonzert in a-Moll von Robert Schumann, mit Daniel Barenboim als Solisten und Zubin Mehta am Pult der Staatskapelle Berlin. Die beiden kennen sich seit 60 Jahren, sind freundschaftlich verbunden und das spürt man stark beim gemeinsamen Musizieren. Sehr genau wird aufeinander gehört, Temporückungen und Ritardandi werden unmittelbar aufgenommen, es entsteht ein wahrer Dialog zwischen Klavier und Orchester. Was bei Barenboims Klavierspiel stets fasziniert, ist – neben aller technischen Raffinesse - die ungeheure Differenzierungsfähigkeit seines Anschlags! Stellen von großer Sensibilität, perfekt gesetzte Triller (Überleitung nach der Kadenz!) und beschwingte Akkordfolgen im rondoartigen Finalsatz begeisterten die ZuhörerInnen in der ausverkauften Philharmonie. Mit den fulminant dargebotenen TRAUMES WIRREN aus den Fantasiestücken op.12 von Robert Schumann schenkte er dem Publikum noch eine heftig applaudierte Zugabe.
Nach der Pause dirigierte Zubin Mehta dann auswendig (wie schon bei Schumann) Mahlers erste Sinfonie, mit dem Blumine-Satz – es wurde eine triumphale Aufführung, vom düsteren Beginn aus den Weiten des Universums kommend, mit den fahlen Flageolett- Klängen der Streicher, der erwachenden Natur mit ihren Vogellauten bis zur hymnischen Apotheose des Finales in strahlendem D-Dur, welche ihre überwältigende Wirkung nicht verfehlte. Die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle Berlin spielten diese atmosphärisch so dichte Musik mit exemplarischer Genauigkeit und Schönheit des Klangs. Von den Holzbläsern des Vogelgezwitschers im ersten Satz, den sauber einsetzenden Hörnern, den zuerst aus weiter Ferne erklingenden Trompeten, dem präzisen Schlagwerk zur Harfe und den Streichern im Blumine-Andante, über deren wunderschön ausgebreiteten Teppich sich die Solotrompete mit ihrem liedhaften Gesang erhob (abgelöst von der ebenso schön spielenden Solo-Oboe). Sehr gelungen war auch das Scherzo, welches mit seinem Anflug von groteskem Ländler ebenso überzeugte wie der vierte Satz, dieser verfremdete, mit grandioser Präzision gespielte, kontrapunktisch so raffiniert gesetzte Kanon über das bekannte Kinderlied Frère Jacques. Klarheit und Prägnanz prägten auch den imposanten Schlusssatz, wobei Mehta sehr darauf bedacht war, die Effekte zwar imponierend auszureizen, aber nicht zu bloßer Effekthascherei verkommen zu lassen. Süße Kantilenen der Violinen im Seitenthema wurden mit plastischer Intensität herausgearbeitet, die Reminiszenzen an den Kopfsatz sehr schön eingebettet, die herrlich rau gespielte Rückführung der Bratschen zum Eingangsthema prominent herausgestellt.
Mit seinen nun beinahe 80 Jahren ist Zubin Mehta nach wie vor eine äußerst elegante Erscheinung, ein Mann von nobler Zurückhaltung und Bescheidenheit, sein immenses Können, seine Musikalität ganz in den Dienst des jeweiligen Werkes stellend, ohne jegliche Eitelkeit des Pultstars (sogar mit Stern auf dem Hollywood Boulevard), der er zweifelsohne ist. Mögen uns und ihm noch viele spannende Konzerte bevorstehen, auch wenn es nicht mehr weitere 80 Jahre sein werden, wie sein Freund Daniel Barenboim im Vorwort des Konzertprogrammheftes sie sich wünscht!
Werke:
Robert Schumann hatte zwar viele Kompositionen für Klavier geschrieben, allein ein Klavierkonzert fehlte noch in seinem reichhaltigen Oeuvre. Einsätzige Arbeiten wurden von seinen Verlegern zurückgewiesen, erst als er die Phantasie für Klavier und Orchester in a-Moll zu einem dreisätzigen Werk erweiterte, stellte sich der Erfolg ein. Dabei arbeitete Schumann (wie auch in seinen anderen Solokonzerten) nach dem Verschmelzungsprinzip, d.h. die traditionelle Satzaufteilung wird in einen grösseren sinfonischen Zusammenhang gestellt. Besonders schön herausgearbeitet hat Schumann darin den reizvollen Kontrast von stürmischem Verlangen und versonnener Träumerei. Biografen sehen im Konzert den Niederschlag von Schumanns Werben um seine Frau Clara Wieck. Sie war es auch, welche sowohl die Phantasie (1841) als auch das fertig gearbeitet Klavierkonzert zur Uraufführung (1845) brachte.
Gustav Mahler, 1. Sinfonie: Viel von der mahlerschen Musiksprache ist bereits in seiner ersten Sinfonie enthalten. Volksliedhafte Sequenzen werden eingewoben, verfremdet, überlagert, gesteigert. Lange, ruhig fliessende Expositionen kontrastieren mit schroffen dynamischen Steigerungen. Lyrisch fliessende Passagen wechseln mit derben Ländlern, ein Trauermarsch fehlt auch nicht, geht über in ein Zitat aus einem Lied aus den Liedern eines fahrenden Gesellen. Im Schlusssatz türmen sich die Motive zu einer grandiosen Apotheose, dargeboten von einem gross besetzten spätromantischen Sinfonieorchester. Den zeitweiligen Titel TITAN erhielt die Sinfonie von Mahler selbst (nach dem gleichnamigen Roman seines Lieblingsschritstellers Jean Paul). Später jedoch verzichtete Mahler auf diesen Beinamen für seine Sinfonie, weil er fand, das Publikum gerate damit auf falsche Wege.
Ursprünglich hatte die Sinfonie noch einen Satz mehr, ein Andante an zweiter Stelle. Diesen - auch BLUMINE genannten Satz - strich Mahler nach der dritten Aufführung, da diese Musik heftig kritisiert worden war. Ursprünglich war BLUMINE ein Teil von Mahlers Bühnenmusik zum Stück DER TROMPETER VON SÄCKINGEN. Das Manuskript zu BLUMINE wurde erst 1966 wieder entdeckt und von Benjamin Britten 1967 in Aldeburgh zum ersten Mal im 20. Jahrhundert wieder aufgeführt. Nach wie vor verzichten aber die meisten Dirigenten auf die Aufführung dieses Satzes innerhalb der ersten Sinfonie Mahlers - nicht so Zubin Mehta anlässlich seines Geburtstagskonzerts mit der Staatskappelle Berlin.