Berlin, Philharmonie: BRUCKNER 8, CARTER, 15.12.2019
Elliott Carter: Adagio tenebroso‹ aus der Symphonia: sum fluxae pretium spei | Uraufführung: 13 September 1995 in London unter Andrew Davis | Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 8 | Uraufführung der Urfassung: 2. September 1973 in London (BBC Symphony Orchestra unter Leitung von Hans-Hubert Schönzeler), Uraufführung der 2. Fassung: 18. Dezember 1892 in Wien, unter Hans Richter
Kritik:
Wenn man eine der monumentalen Sinfonien Bruckners aufs Programm setzt, stellt sich für den Dirigenten natürlich immer die Frage: Womit kombiniere ich diesen Koloss? Ist überhaupt ein zweites Werk notwendig (gerade bei der mit ca. 80 Minuten Spieldauer doch beinahe abendfüllenden Achten? Welches Werk läuft nicht Gefahr, von Bruckners Gigantismus erdrückt zu werden und damit in Belanglosigkeit abzusinken?
Oftmals wird eine der kürzeren Sinfonien Mozarts oder eines seiner Klavierkonzerte gewählt. Meistens eine gut gemeinte Idee, jedoch nicht wirklich überzeugend. Da ging Robin Ticciati für das Konzert mit dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin gestern Abend in der Philharmonie einen entschieden anderen – und in seinem Endergebnis – weitaus überzeugenderen Weg.
Mit Elliott Carters (1908-2012) ADAGIO TENEBROSO aus der SYMPHONIA: SUM FLUXAE PRETIUM SPEI, entstanden zwischen 1993 und 1996, setzte er ein gewichtiges zeitgenössisches Opus an den Beginn des Konzerts. Carter, der amerikanische Komponist, der im Alter von über 80 Jahren noch einmal zu ganz großer Form auflief und bedeutende Werke in dieser Zeit schuf, komponierte mit dieser Sinfonie sein bisher umfangreichstes Werk. Die drei Sätze wurden an verschiedenen Orten uraufgeführt: Chicago Symphony Orchestra/Barenboim, BBC Symphony Orchestera/Davis, Cleveland Orchestra/ von Dohnányi) und erst danach als Ganzes in Manchester unter der Leitung von Oliver Knussen. Carter hat deshalb stets betont, dass die drei Sätze auch unabhängig voneinander aufgeführt werden können. Im zweiten Satz, diesem Adagio Tenebroso, erinnert sich der Komponist an das Gedicht Bulla (Seifenblase) des Jakobiters Richard Crashaw. So schillert auch die Musik, sie hat etwas, das man nicht fassen kann. Linie und dann doch wieder nicht, Höhepunkte, die schnell wieder dekonstruiert werden, Rhythmen im Viererschlag, die aber von einzelnen Instrumentengruppen unterlaufen werden. Begonnen wird mit fragenden Trompeten, vielleicht ein Verweis auf Ives’ THE UNANSWERED QUESTION. Die Partitur ist hochkomplex, doch Robin Ticciati und dem DSO Berlin gelingt eine packende Wiedergabe, voller Intensität, und man muss auch gar nicht alles begreifen, jedenfalls hört man so interessiert zu, dass man dem Werk gerne wieder begegnen möchte. Dies ist wahrlich nicht bei jeder zeitgenössischen Komposition der Fall. Davon zeugte gestern Abend auch die konzentrierte Stille im Saal: kein Räuspern, kein Geraschel, kein Husten. Ruhepunkte wechseln mit exaltierter Aufregung, Kontemplation mit hastigen Passagen, kulminierend (wie bei Bruckner) in crescendierenden Ausbrüchen, dann wieder ein Zerfleddern, ein Aufsplittern in lange gehaltene Töne, eine große Ruhe einkehren lassend – wie am Ende des ersten Satzes von Bruckners achter Sinfonie, welche nach der Pause folgte. Gespielt wurde die von Bruckner revidierte Fassung, und in dieser verklingt eben der erste Satz im Piano. Wunderbar auch der Beginn, mit den Phrasen der Celli und der Bratschen über den tremolierenden Violinen, wuchtig und präzise spielten die so immens wichtigen Blechbläser, welche die meisten Sinfonien Bruckners dominieren. Und die Blechbläsergruppe des DSO Berlin ließ an diesem Abend keine Wünsche offen: Wunderbar sauber und klangschön intonierten die Hörner, die Tenor- und die Basstuben, die Kontrabasstuba, die Posaunen und die mal weich, mal schneidend spielenden Trompeten. Ticciati achtet genau auf die scharfe Konturierung der Klangblöcke, auf atemberaubende Kontraste. Im zweiten Satz ließ er das Motiv des „deutschen Michels“ in all seiner Simplizität erstrahlen. Plakativ, aber von Bruckner so großartig instrumentiert, dass es eben gar nicht mehr so simpel klang. Dabei dirigierte Ticciati mit einer ungeheuren Körperlichkeit, formte die Musik quasi mit jedem Muskel seines drahtigen Körpers, ohne dabei wie ein überdrehter Hampelmann zu wirken, Musik, die aus ihm ins Orchester und so ins Publikum floss. Ungemein spannend erklang das Trio, schmachtende Violinen kombiniert mit den erstmals in einer Bruckner-Sinfonie eingesetzten Harfen. Oft ist das Horn dann ein Stichwortgeber für die weitere Entwicklung. Das Adagio (meistens Bruckners ausgedehntester Satz) geriet auch hier zu einem unbeschreiblichen Höhepunkt: Das ergreifende Motiv braucht eine lange Anlaufzeit über mehrere Episoden, bis es zu seinem erlösenden und strahlenden Durchbruch findet, befreit und sich dann voll entfaltend durch einen wundervollen Beckenschlag. Immer wieder nimmt es Anläufe, den Gipfel zu erklimmen, zwitschernde Steigerungen, dann wieder zusammenfallend, dann – endlich – diese unglaubliche, mitreißende Kulmination, gefolgt von einer langen Generalpause, die kaum auszuhalten ist, bevor ein tröstliches Motiv mit Harfenbegleitung und Hörnergruß den Satz beschließt. Wunderbar! Doch noch folgte das triumphale Finale (Bruckner spielte in einem Brief an den Dirigenten Felix Weingartner an das Drei-Kaiser-Treffen in Olmütz an – Franz Joseph I., Wilhelm I., Zar Alexander II.). Ja man hört die Militärmusik, die Reitpferde, den imperialen Duktus, der diesen Satz durchwebt. Doch er ist natürlich nicht eine Programmschilderung, sondern ein kunstvoll gewobenes Konstrukt, das die Themen der vorangegangenen Sätze aufgreift, sie gegeneinander ankämpfen lässt. Kunstvolles Gemurmel in den Streichern trifft auf bombastisches Blech, repetitive Stösse der Trompeten scheinen das Jüngste Gericht anzukünden – und ganz plötzlich ist der Satz zu Ende und Ticciati und das DSO Berlin können den Riesenjubel des Publikums in Empfang nehmen. Ein lange nachhallendes Konzertereignis!
Werke:
Werk:
Anton Bruckner (1825-1896) unterzog seine gewaltigen Sinfonien immer wieder Überarbeitungen, so dass insbesondere von den Sinfonien II - V mehrere Fassungen existieren. Bei der Sinfonie Nr. VIII ist die Lage noch etwas komplexer, da die Urfassung zu Bruckners Lebzeiten gar nie aufgeführt wurde und erst 1973 erstmalig öffentlich zu hören war, also 90 Jahre nach ihrer Entstehung. Der Grund dafür lag darin, dass Bruckner nach dem grossen Erfolg der VII. Sinfonie sich sicher war, mit der VIII. auf Anhieb einen grossen Wurf gelandet zu haben. Doch der Dirigent Hermann Levi, welcher die VII. zu einem Triumph geführt hatte, äusserte sich niederschmetternd über das neue Werk Bruckners und empfahl eine Überarbeitung, eine Empfehlung, welche Bruckner auch befolgte. Die Uraufführung dieser Zweitfassung unter Hans Richter in Wien wurde zu einem grossen Erfolg. Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende, denn im 20. Jahrhundert schuf der Bruckner Kenner Robert Haas eine Mischfassung aus der Originalpartitur und der Zweitfassung von 1890 und diese Version setzte sich erstaunlicherweise mehr und mehr durch.
Diese achte Sinfonie ist mit einer Spieldauer von ca 80 Minuten ein gigantisches Werk. Der erste Satz Allegro moderato, alla breve ist in der Sonatenhauptsatzform gearbeitet. In der Urfassung endet dieser Kopfsatz im dreifachen forte, in der Überarbeitung im Pianissimo. Im Scherzo sah Bruckner (wenn man der Sinfonie ein "Programm" unterlegen wollte) den "deutschen Michel" dargestellt und verleiht dieser Figur mit der energischen Motorik ihre Gestalt, welche in der Urfassung rauer und weniger gelättet aufscheint als in der Überarbeitung. Das Adagio ist um 38 Takte länger als in den nachfolgenden Fassungen und erreicht den Kulminationspunkt in C-Dur, in den späteren Fassungen im milderen Es-Dur. Das Finale (Feierlich, nicht schnell) ist gar um 62 Takte länger und zeichnet sich durch eine andere Instrumentierung gegenüber der entschärften Zweitfassung aus. Auch wenn man die Sinfonie nicht im Strauss'schen Sinne als Programmmusik verstehen sollte, so helfen beim Verständnis sicher auch Bilder, die Bruckner selbst in einem Brief an Felix von Weingartner erwähnt hat: Drei-Kaiser-Treffen in Olmütz (Wilhelm I., Franz Joseph I., Zar Alexander II.), Symbol des Kreuzes, Totenmarsch, Verklärung. Am Ende steht die Verarbeitung aller vier Hauptthemen der Sinfonie in einer strahlende Krönung.