Berlin, Komische Oper: DIE NASE, 28.06.2018
Oper in drei Akten und einem Epilog | Musik: Dmitri Schostakowitsch | Libretto: vom Komponisten, nach einer Novelle von Gogol | Uraufführung: 18. Januar 1930 in Leningrad | Aufführungen in Berlin: 16.6. | 24.6. | 28.6. | 30.6. | 6.7. | 14.7.2018
Kritik:
Nur schon Gogols 1836 entstandene Novelle (surrealistisch, bevor es diesen Literaturbegriff überhaupt gab) ist eine köstliche Preziose, Schostakowitschs knapp hundert Jahre später, in jugendlichem, avantgardistischem Übermut komponierte Musik fügte Gogols Groteske eine weitere, überbordende Schicht hinzu und nun drehte der Regisseur Barrie Kosky mit seiner turbulenten, atemlosen Inszenierung im schnelle Szenenwechsel und scharfe (Film-)Schnitte ermöglichenden Bühnenbild von Klaus Grünberg nochmals an dieser Schraube der Skurrilität. Quasi das Salz in der eh schon gehaltvollen Suppe lieferten die rasanten Choreographien von Otto Pichler und die phantasievollen, knallbunten Kostüme von Buki Shiff . Aber das Inszenierungsteam drehte gerade so stark an dieser Schraube, dass das Ganze nicht überdreht war, die Suppe nicht versalzen war, die Lokomotive (wie Kosky das Stück bezeichnete) trotz überhöhter Geschwindigkeit nicht entgleiste– allerdings hart an der Grenze. Das war die große Kunst des überaus unterhaltsamen Abends, der erst ganz gegen den Schluss hin etwas lahmte, um dann die Kurve in ein augenzwinkerndes Finale doch noch zu kriegen.
Die Krone des Abends jedoch gebührt eindeutig dem Hauptdarsteller, Günter Papendell. Wie er als Platon Kusmitsch Kowaljow zwei pausenlose Stunden lang slapstickartig über die Bühne fegt, sich in Selbstmitleid wegen seiner abhanden gekommenen Nase ergeht, rast, flennt, flirtet, bettelt, sich mit kafkaesken Situationen mit Polizei, HNO Ärzten und Zeitungsredaktionen konfrontiert sieht und dabei auch noch exzellent singt, das MUSS man erlebt haben. Wenn es den Musiktheater-Oscar gäbe, Papendell wäre ein Topfavorit dafür. Unterstützt wird er natürlich vom spielfreudigen Ensemble der Komischen Oper Berlin, welches sich die übrigen, unzähligen Rollen unter sich aufteilt. Man möchte sie alle hier aufzählen, verdient hätten sie es. Stellvertretend für das gesamte Solistenensemble seien einfach die folgenden Sänger und Sängerinnen genannt: Jens Larsen (Barbier, Chefredakteur, Arzt) mit seiner ungeheuren stimmlichen und darstellerischen Präsenz, Ursula Hesse von der Steinen und Mirka Wagner als herrlich exaltierte Mutter und Tochter Podotschina, Caren van Oijen als überdrehte alte Gräfin, Ivan Turšić als Kowaljows Diener Ivan mit umwerfenden, heldentenoralen Ambitionen, der gekonnt falsettierende Aleksander Kravets als Polizeihauptmeister und Eunuche. Diese Rollen erhalten ja wenig Interaktionsprofil, sind aber als Stereotypen ungemein wichtig für die Groteske, über deren Interpretation sich die Gelehrten streiten. Persiflage, Satire, Albtraum – egal. Kosky nimmt gekonnt von allem ein bisschen, scheut natürlich auch vor den sich aufdrängenden, anzüglichen Konnotationen (Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes) nicht zurück. Ja, als die Nase dann endlich wieder in Kowaljows Gesicht sitzt, hat sie die Form eines Riesenpenis angenommen. Doch die Freude über die wiedergewonnene Potenz ist in Koskys Inszenierung von kurzer Dauer – beim nächsten Nießen verliert er sie bereits wieder. Ein schwarzes Ende. Kurz davor hat Kosky noch eine BBC-Reporterin eingebaut, welche die Zuschauer fragt (ganz im Stil von Gogols selbstironischer Art, mit der er seinerzeit auf die Kritik an seiner Novelle reagiert hatte): „Wer will denn das als Oper sehen?“.
Nun, das Publikum wollte, ja es war begeistert, mitgerissen von diesen amüsanten, skurrilen Strudel, mit der überschäumenden, kurzatmigen Musik, die durchaus den der Entstehungszeit angepassten, mit neuen Klängen experimentierenden Charakter aufweist, Stile wild durcheinanderwirbelt, wo Posaunen furzen und rülpsen, wo mit Rhythmen, Tänzen und atonalen, ja chaotischen Klängen und Kakophonien gekonnt gespielt wird. Der designierte GMD der Komischen Oper Berlin, Ainārs Rubiķis, und das Orchester der Komischen Oper Berlin blieben denn auch dieser Rasanz des jungen Schostakowitsch nichts an Drive und auch an Lautstärke (einige Zuschauerinnen hielten sich stellenweise die Ohren zu, aber so schlimm war es gar nicht) schuldig.
Einen Höhepunkt bildeten natürlich auch die atemberaubenden, quirligen Einsätze der elf Tänzer, mal als steppende Nasen mit haarigen, muskulösen Männerbeinen, dann wieder mit Strapsen und Korsetts als bärtige Revue-Tänzerinnen - herrlich zwischen Absurdität und skurrilem Albtraum wie in der Rocky Horror Picture Show changierend.
Kosky hat darauf bestanden, dass die Oper in der Landessprache gespielt wird (Koproduktion mit London, Sydney und Madrid), so können viele aktuelle Bezüge hineingeschmuggelt werden, wie „Lügenpresse“, „Entnasifizierung“ usw. und es wird neben allem Klamauk durchaus auch mal bissigen Untertönen nachgespürt, so dass man dann doch wieder ganz nah bei der ursprünglichen literarischen Quelle ist.
Inhalt:
Eines Morgens erwacht der Petersburger Kollegienassessor Kowaljow ohne seine Nase. Mit der Suche nach seinem Organ beginnt ein burlesker Albtraum. Sein Barbier hat dieses nämlich fast gleichzeitig in seinem Brot gefunden und schleunigst in die Newa geworfen. Kowaljew begegnet seiner Nase in der Gestalt eines hochgestellten Beamten in der Kirche. Doch er kann ihrer nicht habhaft werden. Eine Suchannonce in der Zeitung wird von den Verantwortlichen abgelehnt. Unterdessen ist auch die Polizei auf das sich verselbständigende Organ Kowaljows aufmerksam geworden. Doch die Nase führt selbst die Behörden an der Nase herum. Die Folgen sind Prügeleien, Missverständnisse, ja selbst missverstandene Heiratsanträge. Endlich schrumpft die Nase wieder auf ihre ursprüngliche Grösse, doch gelingt es dem verstörten Kowaljow nicht, sie an ihrem dafür vorgesehenen Platz zu befestigen. Zum Glück erwacht er aus seinem Traum und findet die Nase ganz normal an ihrem anatomisch korrekten Ort vor. Sein Leben als "womanizer" nimmt wieder seinen gewohnten Gang.
Werk:
Der russische Titel von Gogols satirischer Novelle „NOS“ ist eine Umkehr des Wortes „SON“ (Traum). Doch Gogol bezweckte mit seiner Erzählung natürlich weit mehr als die blosse Schilderung eines Albtraums. Mit Humor und Sarkasmus beschrieb er die Absurditäten der (nicht nur russischen) Bürokratie, die Ängste vor dem Verwaltungsapparat und den Auswüchsen der Staatsgewalt. Gogols Novelle von 1836 gilt als erstes surrealistisches Prosastück von Bedeutung. Auch 90 Jahre nach ihrer Entstehung vermochte das Werk in der Bearbeitung Schostakowitschs die Autoritäten noch zu verstören. Deshalb wohl verschwand die Oper kurz nach ihrer Uraufführung von den sowjetischen Spielplänen. Erst 1974 setzte Gennadi Rozhdestvensky weitere Aufführungen dieses frühen Meisterwerks Schostakowitschs in Moskau durch. Schostakowitschs einfallsreiche Montage von Volksmelodien, vokaler Akrobatik und Atonalität wird ähnlich wie Bergs WOZZECK durch formale Formen wie Quartett, Fuge oder Kanon zusammengehalten. Diese Oper passt wunderbar in die Zeit des künstlerischen Aufbruchs zu neuen Ufern der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das Werk garantiert einen äusserst unterhaltsamen und anregenden Abend in der Oper.