Berlin, Deutsche Oper: WOZZECK, 05.10.2018
Oper in drei Akten mit 15 Szenen | Musik und Text: Alban Berg, nach Büchners Dramenfragment WOYZECK | Uraufführung: 14. Dezember 1925 in Berlin | Aufführungen in Berlin: 5.10. | 10.10. | 13.10. | 19.10. | 8.11. | 15.11.2018
Kritik:
Kurze Zeit nach der Uraufführung 1925 in Berlin schrieb Alban Berg über seine erste Oper WOZZECK: „ ... von dem Augenblick an, wo sich der Vorhang öffnet, bis zu dem, wo er sich zum letzten Male schließt, darf es im Publikum keinen geben, der etwas von diesen diversen Fugen und Inventionen, Suiten- und Sonatensätzen, Variationen und Passacaglien merkt – keinen, der von etwas anderem erfüllt ist, als von der weit über das Einzelschicksal Wozzecks hinausgehenden Idee dieser Oper. ...“ Diese Prämisse erfüllt hat die musikalische Seite der Neuproduktion von WOZZECK an der Deutschen Oper Berlin in höchstem Maße. Was da aus dem Orchestergraben in den großen Saal überschwappte, war von geradezu bezwingender Magie. Das funkelte, schillerte, war von einer überwältigenden Kraft und beispielhaften Transparenz des Klangbildes geprägt. WOZZECK muss natürlich Chefsache sein – und Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper Berlin blieben Bergs faszinierender Partitur nichts an Farbigkeit, Präzision und austarierter Dynamik schuldig. Die ein Dreiviertel pausenlosen Stunden vergingen wie im Flug, das Premierenpublikum schien äußerst konzentriert zuzuhören – und zeigte am Ende zu Recht seine enthusiastische Begeisterung über eine musikalische Interpretation, die wahrlich erfüllte. Daran hatten natürlich auch die InterpretInnen auf der Bühne enormen Anteil: Johan Reuter sang die Titelpartie mit warmer, ausdrucksstarker Baritonstimme und ausgezeichneter Diktion, man spürte, wie alleingelassen dieser Mensch ist, wie verloren in der ihn ausnützenden und missbrauchenden Gesellschaft. Elena Zhidkova vermochte mit ihrem intensiv leuchtenden Mezzosopran und genau dosierter Exaltiertheit all die widersprüchlichen Emotionen der Marie zu transportieren: Verletzlichkeit, Aberglaube, Religiosität und sinnliches Begehren. Hervorragend gestaltete Seth Carico den diabolisch agierendern und experimentierenden Arzt, der genüsslich die von Wozzeck gesammelten Molche unter dem Mikroskop sezierte und Wozzeck für seine teuflischen, sinnlosen Versuche am lebenden Objekt missbrauchte. Thomas Blondelle war ein auch stimmlich sehr potenter Tambourmajor, Matthew Newlin sang den Andres mit klar fokussierter Stimme. Burkhard Ulrich kämpfte noch nicht restlos souverän mit der hohen, expressiven Tessitura des Hauptmanns. Andrew Dickinson gab den Narren mit sauber geführtem Charaktertenor. Schlicht sensationell war Annika Schlicht als Margret: Sie machte aus der kleinen Rolle ein ganz große und empfahl sich mit dieser Leistung definitiv für gewichtigere Aufgaben. Nur schon ihre herrliche Tiefe MUSS man gehört haben. Tobias Kehrer ließ als erster Handwerksbursch aufhorchen, Philpp Jakal ergänzte die Wirtshausszene als zweiter Handwerksbursch. Souverän sang der Chor der Deutschen Oper Berlin den vertrackten „Jäger aus der Pfalz“ (Einstudierung: Jeremy Bines), der Kinderchor der Deutschen Oper Berlin hatte einen bewegenden Auftritt in der letzten Szene. Levi Mica Weber spielte überzeugend den traurig-dumpfen Bub Maries.
Ole Anders Tandberg legte die zeitlose Handlung in der Gegenwart an, ja er verortete sie gar konkret nach Oslo, ließ sie am norwegischen Unabhängigkeitstag spielen, mit viel Fähnchen schwingen ... (Der Regisseur scheint in den Werken stets Bezüge zu seiner Heimat zu suchen, so in LADY MACBETH VON MZENSK in Berlin, oder in LA BOHÈME in Zürich). So befanden wir uns also in diesem WOZZECK in einem Restaurant/Bar in der Nähe des Königspalastes von Oslo, mit einer riesigen Fensterfront zum Park (Bühne: Erlend Birkeland). Diese Fensterfront ermöglichte stimmungsvolles Lichtdesign (Ellen Ruge) und ebensolche Videoprojektionen (Robert Pflanz). Natürlich macht es ein Einheitsbühnenbild einfach, die schnellen Schauplatzwechsel der 15 kurzen Szenen zu bewältigen. Doch der Gigantismus dieses noblen Restaurantpavillons drohte die „armen Leut’ “ so zu erdrücken, dass man an ihrem Schicksal szenisch nicht mehr viel Anteil nahm, zu stylish, zu gediegen wirkte das alles. Da vermochten selbst der running gag der Soldaten mit den heruntergelassenen Hosen (was muss Wozzeck eigentlich an deren Penissen herumhantieren?) oder die Orgie der Nackten, der sich Marie und der Tambourmajor auf dem Höhepunkt der Wirtshausszene dann anschlossen, nicht aufzurütteln. Zwar störte die Inszenierung nicht, war auch dank der bunten Kostüme von Maria Geber hübsch anzuschauen (das Publikum schien auch sehr angetan von diesem Konzept) – doch dem Anspruch von Bergs zu Beginn dieser Kritik zitierter Forderung vermochte diese Inszenierung nicht restlos zu genügen.
Inhalt:
Der einfache Soldat Wozzeck ist ein Getriebener. Er wird mit vielerlei Aggressionen seitens des Hauptmanns, des Doktors und des Tambourmajors konfrontiert, für Versuche am lebenden Menschen missbraucht (um seinen kümmerlichen Sold aufzubessern). Seine Frau Marie (sie hat ein uneheliches Kind mit in die Beziehung zu Wozzeck gebracht) betrügt ihn mit dem Tambourmajor. Wozzeck verfällt immer mehr ins Brüten, wird wahnsinnig. Während eines Spaziergangs bringt er Marie um. Nachdem er sich in einer Kneipe betrunken hat, kehrt er an den Tatort am Weiher zurück. Das Wasser erscheint ihm als Blut. Er watet hinein, bis er ertrinkt. Einige Kinder berichten Maries Knaben vom Tod seiner Mutter, doch dieser spielt stumpf mit seinem Steckenpferd weiter.
Werk:
Alban Berg (1885-1935) lernte Büchners Dramenfragment 1914 in Wien kennen. Bereits während seiner Soldatenzeit (1915-18) arbeitete er am Text und vollendete das Werk 1921. Die Uraufführung unter Erich Kleiber wurde geteilt aufgenommen. Begeisterung und radikale Ablehnung der atonalen Tonsprache hielten sich die Waage. 1933 wurde das Werk in Deutschland verboten. Erst nach 1945 tauchte es wieder auf den Spielplänen auf und gehört heute zum Standardrepertoire des Opernbetriebs.
Das bewegende Seelendrama wird von formalen Gestaltungsmitteln sorgfältig musikdramaturgisch zusammengehalten: Im ersten Akt findet man Elemente wie Passacaglia, Tanzsuiten, Wiegenlied und Rondo. Den zweiten Akt konzipierte Berg als eine Art Sinfonie in fünf Sätzen, mit Fuge, Largo, Scherzo, Ländler und Walzer. Den Schlussakt baut er auf so genannten Inventionen auf: Maries Tod z.B. ist eine Invention, welche um einen einzigen Ton kreist, der Schluss der Oper entwickelt sich aus einer endlosen Achtelbewegung. All diese Elemente sollen der über weite Strecken atonalen Tonsprache einen formalen Rahmen und Halt geben.
Um ein möglichst breites Spektrum an musikalischen Mitteln zu schaffen, setzt der Komponist neben dem grossen Orchester im Graben (mit mehrfach besetzten Bläsern, grossem Schlagzeugapparat und unüblichen zusätzlichen Instrumenten wie Rute und Bombardon) ein zweites Orchester als Bühnenmusik ein. Die Singstimmen durchschreiten verschiedene Stufen, vom rhythmisch fixierten Sprechgesang zu beinahe belkantesken Ariosi, wobei es Berg jedoch - ganz im Sinne der Zwölftontechnik - vermieden hat, Töne oder Tonfolgen zu wiederholen, sondern auf Variationen setzte.