Berlin, Deutsche Oper: LA GIOCONDA, 06.02.2014
Oper in vier Akten | Musik: Amilcare Ponchielli | Libretto: Arrigo Boito, unter dem Anagramm Tobia Gorria, nach Victor Hugos ANGELO, TYRAN DE PADOUE | Uraufführung: 8 April 1876 in Mailand | Aufführungen in Berlin: 19.1. | 26.1. | 2.2. | 6.2.2014
Kritik:
Wunderbar zart, mit berückender Schönheit und kammermusikalischer Transparenz von den Streichern des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Jesùs López Cobos intoniert, setzt das Vorspiel zu Ponchiellis leider viel zu selten aufgeführter Oper ein. Doch schon bald eskalieren musikalisch im Orchester und in den Gesangspartien die Leidenschaften, die Intrigen, die Verleumdungen.
In der Oper an der Bismarckstraße hegt und pflegt man die 40 Jahre alte Inszenierung von Filippo Sanjust, für die der adelige Ästhet damals bei Recherchen in einer römischen Werkstatt auf Teile von Originaldekorationen aus der Uraufführungszeit stieß und diese nach Berlin brachte. Die kunstvoll gemalten Prospekte mit ihren eindrücklichen Perspektiven mussten schon damals - und wurden auch für diese Aufführungsserie wieder – mit enormem Aufwand restauriert werden. Einem Großteil des Publikums scheint diese Art musealer, farbenprächtiger und kulinarischer Ausstattung nach all den leeren, grauen Bühnen manchen Regietheaterexperiments zu gefallen. Für das Hafenbild an der Lagune gab es spontanen Szenenapplaus. Theater und Museum vertragen sich zwar grundsätzlich nicht besonders gut, denn Theater lebt vom Hier und Jetzt, die Werke müssen und sollen immer wieder auf ihre Relevanz für die Gegenwart befragt werden. Als Ausnahme von der Regel kann eine solche „Inszenierung“ aber durchaus ihre Berechtigung haben, zum Nachdenken über manch missratenes Experiment auf der anderen Seite der Skala anregen.
Einige Einwände bleiben aber doch: Es mag schwieriger sein, sich in den steifen Kostümen aus der Zeit des 17. Jahrhunderts adäquat und rollengestaltend zu bewegen, doch der Rückzug auf konventionelle Operngestik der allerschlimmsten Sorte, welche an gewissen Stellen schon unfreiwillig parodistische Züge annahm, kann wohl kaum im Sinne von Sanjust gewesen sein. Nur im ersten Akt, als Barnaba beginnt, seine Intrigen zu spinnen, war ein gewisses Mass an durchdachter Personenführung zu erleben. Ansonsten viel steifes Herumstehen, Arme ausbreiten, Faust ballen, Colliergriff … .
Opulente, große und luxuriöse Stimmen sind für diese italienische Ausformung der Grand Opéra gefragt und der Deutschen Oper Berlin ist es zweifelsohne gelungen, ein solches Sextett auf der Bühne zu vereinen. Hui He in der Titelpartie zeigte sich in blendender Verfassung, mit wunderschöner Leichtigkeit im Ansatz der Töne. Überzeugend gestaltete sie stimmlich die abrupten Stimmungswechsel der Gioconda: liebende Frau, auf Rache und gar Mord sinnende Eifersüchtige, besorgte Tochter (als ihre blinde Mutter liess Dana Beth Miller mit charaktervollem Alt aufhorchen), selbstlose Retterin. Imposant, wie sich Hui Hes Stimme klagend im Finale I über den Chor erhebt (exzellent der Chor der Deutschen Oper Berlin), ebenso imponierend der Beginn der berühmten Suicidio-Arie im vierten Akt, in deren Verlauf sich mit unmotivierten sforzati leider einige Manierismen einschlichen, die jedoch bald wieder durch eindrückliche crescendi aufgefangen wurden. Ihre Konkurrentin um Enzos Liebe, Laura, war mit Marianne Cornetti stimmlich ganz hervorragend besetzt. Ihr spannend gefärbter Mezzosopran und die sorgfältige, dynamisch fein abgestufte Interpretation gefielen außerordentlich gut, das Duett mit Gioconda im zweiten Akt ein musikalischer Glanzpunkt der Aufführung. Zwischen den beiden Frauen steht der Tenor, Enzo Grimaldo. Marcelo Álvarez scheint über unerschöpfliche dynamische Reserven zu verfügen und füllte den großen Zuschauersaal der Deutschen Oper mühelos bis in die hintersten Winkel. Mit stählernem, heldischem Klang markierte er seine Präsenz, blieb aber darstellerisch sehr blass und das Singen im Dauer-forte wirkte mit der Zeit etwas ermüdend und undifferenziert. In der Romanze Cielo e mar geriet er im piano-Bereich zeitweise an Grenzen und erhöhte dann den Druck auf die Stimmbänder wieder. Nichtsdestotrotz obsiegte als Gesamteindruck natürlich seine akustisch beeindruckende stimmliche Kraft und Sicherheit. Lado Atanelis schon fast zu geschmeidigem Bariton mag das Fiese, Hinterhältige Barnabas, dieses Vorläufers von Verdis Jago, zwar etwas abgehen, und doch vermochte er den sich selbst überschätzenden Emporkömmling und Speichellecker des Regimes musikalisch glaubwürdig zu interpretieren. Wunderbar schwarz, mit sonorer Tiefe, der Alvise von Ante Jerkunica. Mit sarkastischer Nonchalance lud er seine Gäste zum Ballett, dem berühmten Tanz der Stunden. Mit Spitzentanz und Tutus wie wenn sie GISELLE oder LA SYLPHIDE entsprungen wären, wurde Alvises Version der Dreiecksgeschichte den geladenen Gästen in der Ca d´Oro vorgesetzt. Die Choreografie von Gudrun Leben, auch wenn sie stilistisch nicht so ganz zum Venedig des 17. Jahrhunderts passen will, wurde von den Tänzerinnen wunderbar sauber ausgeführt und die drei Tanzsolisten (Anna Lieceica, Gauthier Dedieu und Miguel Angel Collado Sanchez) wurden verdientermaßen bejubelt.
Jesùs López Cobos gab den Sängern mit seinem fulminanten, die Effekte durch klug gesetzt rubati nicht scheuenden, Dirigat eine sichere Stütze. Am Ende des langen Abends (bedingt durch drei aufwendige Umbaupausen ergab sie eine Spieldauer von vier Stunden vierzig Minuten!) durften sich die Ausführenden vom begeistert applaudierenden Publikum ausgiebig feiern lassen.
Fazit: Stimmlich und ausstattungsmäßig von beeindruckender Opulenz (darf auch mal sein), wunderschöne und hoch ästhetische Tableaus. Wer lieber ein Weniger an oberflächlicher Farbenpracht, dafür ein Mehr an psychologischer Durchdringung der Figuren und eine Spurensuche nach Relevanz der Handlung hat, dem sei die zur Zeit laufende Produktion der GIOCONDA in St.Gallen empfohlen!
Inhalt:
Hochdramatisches Liebeskarussell: Barnaba liebt Gioconda, Gioconda aber liebt Enzo, doch Enzo liebt Laura, aber Laura ist mit Alvise verheiratet ...
Der Spitzel der Inquisition, Barnaba, begehrt die schöne Strassensängerin Gioconda, wird von ihr jedoch zurückgewiesen. Aus Rache verleumdet er Giocondas blinde Mutter als Hexe. Die Meute wittert Blut und will die alte Frau auf dem Scheiterhaufen sehen. Der Inquisitor Alvise erscheint mit seiner Frau Laura, welche in der Hand der blinden Alten einen Rosenkranz entdeckt und so die Freilassung von Giocondas Mutter erwirkt. Laura erhält von der Blinden den Rosenkranz. Barnaba schmiedet bereits neue Rachepläne. Er erkennt in Giocondas Begleiter den aus Venedig verbannten Fürsten Enzo Grimaldo aus Genua, welcher Lauras Geliebter war, bevor diese mit Alvise zwangsverheiratet wurde. Barnaba macht sich an Enzo heran und verspricht ihm ein Rendezvous mit Laura zu arrangieren. Gleich danach schreibt Barnabo einen Denunziatonsbrief, in welchem er Laura und Enzo des Staatsverrats bezichtigt. Gioconda hat alles mitangehört. Sie ist verzweifelt über Enzos Untreue.
Enzo und Laura treffen sich auf Enzos Schiff und beschliessen die gemeinsame Flucht. Gioconda taucht auf und liefert sich mit Laura ein aufpeitschendes Eifersuchtsduett. Alvise nähert sich ebenfalls. Laura nimmt den Rosenkranz hervor, Gioconda erkennt in ihr die Frau, welche ihrer Mutter das Leben gerettet hat und verhilft ihr zur Flucht. Enzo zündet sein Schiff an und rettet sich mit einem Sprung in die Fluten.
In Alvises Palast wird gefeiert und getanzt (Tanz der Stunden). Alvise fordert Laura auf, sich mit Gift selbst zu töten. Gioconda vertauscht die Flacons, Laura sinkt in einen tiefen Schlaf. Barnaba zerrt die blinde Alte in den Raum, welche für Lauras Seele beten soll. Die Totenglöcke läutet. Alvise bestätigt Lauras Treuebruch und ihren Tod. Enzo will sich auf Alvise stürzen, wird jedoch festgenommen. Gioconda will sich Barnaba hingeben, wenn dieser hilft, Enzo zu befreien.
Gioconda hat sich auf die Insel Giudecca zurückgezogen. Die scheintote Laura wird zu ihr gebracht. Gioconda kann der Versuchung widerstehen, die Rivalin ins Jenseits zu befördern. Enzo wurde befreit. Er macht Gioconda Vorwürfe, dass sie den Leichnam Lauras durch die Exhumierung entehrt habe. Als Laura jedoch erwacht, erkennt Enzo Giocondas Selbstlosigkeit. Laura und Enzo können endlich gemeinsam aus Venedig fliehen. Barnaba will seinen „Lohn“ erhalten, doch Gioconda wählt lieber den Freitod durch den Dolch. Zum Glück kann sie die letzten Worte Barnabas nicht mehr hören: Ier tua madre m' ha offeso! Io l' ho affogata! (Deine Mutter hat mich gestern beleidigt, ich habe sie ersäuft!)
Werk:
Amilcare Ponchielli (1834-1886) kennt man heute nur noch dank seiner Oper LA GIOCONDA, aus welcher die Balletteinlage DER TANZ DER STUNDEN ein Wunschkonzert-Hit wurde. Er schrieb insgesamt jedoch ein gutes Dutzend Opern und war auch der Lehrer Puccinis und Mascagnis am Mailänder Konservatorium.
Die Operntauglichkeit von Victor Hugos Schauerdramen hatten schon Komponisten wie Donizetti (LUCREZIA BORGI) und Giuseppe Verdi (ERNANI, RIGOLETTO) erkannt. Interessant ist, dass der renommierte Arrigo Boito (der Komponist des MEFISTOFELE und Librettist für Verdis OTELLO und FALSTAFF) das Textbuch für Ponchiellis Oper unter einem Pseudonym schrieb. Vielleicht war ihm als aufgeschlossenem Intellektuellen die Anlehnung an die opulente Ausstattungsoper im Stile eines Eugene Scribe peinlich.
LA GIOCONDA wird von Musikkritikern oft ignoriert oder höchstens in Nebensätzen abgehandelt und eher belächelt. Dabei ist die Musik von einer ungeheuren Wucht. Mitreissende, hochdramatische Szenen peitschen die Handlung voran, erzeugen einen packenden Klangstrudel von sprühender italianità. Die Oper erfordert opulente Stimmen und bietet dankbare Partien. Die Titelrolle erfreute und erfreut sich bei vielen Sopranistinnen des spinto-Fachs grösster Beliebtheit: Callas, Tebaldi, Cerquetti, Caballé, Scotto, Bumbry, Marton, Urmana ... Die grosse Tenorarie Cielo e mar gehörte zu Carusos Paradestücken. Walt Disney hat dem TANZ DER STUNDEN durch seinen Zeichentrickfilm FANTASIA zu zusätzlicher Popularität verholfen.