Zürich, Tonhalle: ZKO | SIR ROGER NORRINGTON, 21.11.2012
Ralph Vaughan Williams: Fantasia on a Theme by Thomas Tallis | Benjamin Britten: Variations on a Theme of Frank Bridge op. 10 | Arcangelo Corelli: Concerto grosso F-Dur op. 6 Nr. 2 | Michael Tippett: Fantasia concertante on a theme of Corelli |
Zürcher Kammerorchester, Sir Roger Norrington
Kritik:
Les absents ont toujours tort - oder um es mit den Worten des Principal conductors des Zürcher Kammerorchesters, Sir Roger Norrington, zu sagen: "Tell your friends what they missed!" (Dies streute er am Ende seiner launigen Zwischenansprache ein, die er hielt, als das Podium für das letzte Werk kurz umgebaut werden musste.)
Was haben drei Werke von englischen Komponisten aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts mit Corellis barockem Concerto grosso zu tun? Sehr viel, wie das klug zusammengestellte Konzert des Zürcher Kammerorchesters gestern Abend zeigte. Denn nicht nur hatte Sir Michael Tippett einige Phrasen aus dem Adagio Corellis für seine Fantasia concertante verwendet, auch die beiden anderen Engländer, Ralph Vaughan Williams und Benjamin Britten, fühlten sich auf die eine oder andere Art der Tradition des italienischen Meisters verbunden. Zwar wirkte Corellis Concerto - eingebettet in die dichten, ungemein farbenreich daherkommenden Kompositionen der Briten - vielleicht beim ersten Hinhören etwas blass. Doch schon bald vermochte der spannungsvolle Wechsel von schnell und langsam (das chiaroscuro), welcher vom Dirigenten Sir Roger Norrington spannungsvoll herausgearbeitet wurde, zu faszinieren. Die Pultführer traten mit klarem Klang hervor, spielten fantastisch aufeinander hörend zusammen und machten die Liebe, welche Corelli den Streichinstrumenten mit all seiner Virtuosität entgegenbrachte, fühlbar. Corelli hat es verstanden, seine Ideen kurz und prägnant in die musikalische Form des Concerto zu giessen – da ist keine Note zuviel. Und gerade in dieser Reduktion auf das Wesentliche wirkt Corelli wiederum „modern“. Die Kompositionen aus Grossbritannien erklangen in chronologischer Reihenfolge: Ralph Vaughan Williams’ Fantasia on Theme by Thomas Tallis machte den Anfang. Dieses rund 20minütige Werk schöpft seinen Reiz aus kontrastierenden, choralartig religiösen (Thema von Tallis) und profanen (Vaughan Williams war ein Erforscher der ländlichen Volksmusik) Einflüssen. Mystische Klänge und tänzerische Elemente verschmelzen zu intensiven Ballungen. Dem zweigeteilten Orchester (das zweite sass leicht erhöht) gelangen interessante Echowirkungen und orgelnde Klangmassierungen. Die Solovioline des Konzermeisters (phänomenal gespielt von Willi Zimmermann) schwang sich berührend aus versinkenden, absteigend punktierten Phrasen herauf, das Verklingen des Werks war ein einzigartiger Genuss. Einen spannenden Kontrast zum elegischen Grundton dieses Werks bildeten die kleingliedrigen, virtuosen Variationen über ein Thema von Frank Bridge, welches Benjamin Britten als Hommage an seinen Lehrer komponiert hatte. Vom energiegeladenen Beginn, über schräge Walzer, einen zerreissenden Trauermarsch, eine tänzerische Romanze und vor allem die vor umwerfender Virtuosität nur so strotzende Aria italiana (begeisterter, verdienter Zwischenapplaus, vom Dirigenten und dem Konzertmeister mit Humor entgegengenommen) im Rossinischen Stil war eine geradezu erschlagende Fülle des Farbenreichtums zu erleben, welcher Streichinstrumenten entlockt werden kann. Die abschliessende, mit stupender Präzison gespielte Fugue führte zurück zum Eingangsthema. Nach dem bereits erwähnten Concerto grosso von Corelli schliesslich Michael Tippetts Fantasie über das Corelli Thema: Ein wunderschönes, bewegendes Stück, welches gekonnt den italienischen Barockstil mit Evokationen der englischen Countryside verknüpft. Das Zürcher Kammerorchester glänzte auch hier mit fein abgestufter Dynamik, wunderbar reinem Musizieren, musikantischem und doch präzisem Klang. Tippett verstand es ausserordentlich gekonnt, die Musik nie in „Kitsch“ abgleiten zu lassen. Immer wenn man in der Schönheit allzusehr zu schwelgen und zu versinken droht, wird man durch leicht dissonante Klangschichtungen aufgerüttelt, öffnen sich Abgründe, welche aber das Ohr nie allzu stark schmerzen. Schon bald jedoch steigt aus den komplexen Zerklüftungen wieder ein Bach-Zitat auf oder es wird subtil mit einem Übergang in einen klassizistischen Modus die Verlorenheit abgeschwächt.
Fazit:
Was für ein fantastisches Konzert: Magnificent and electrifying!!! Ein grossartiges Orchester, wunderbar aufeinander hörend musizierend und ein stilsicherer, feinsinnig inspiriert gestaltender Dirigent schenkten den (leider viel zu wenigen) Zuhörern ein Konzerterlebnis, welches lange nachhallen wird.
Werke:
Ralph Vaughan Williams (1872-1958) komponierte seine "Tallis Fantasia" im Jahr 1910. Sie wurde im September desselben Jahres unter der Leitung des Komponisten in der Gloucester Cathedral uraufgeführt. 1914 und 1919 unterwarf er das Werk kleineren Bearbeitungen. Den Namen erhielt die wunderschöne Komposition vom Schöpfer der Inspirationsmelodie, dem Renaissancekomponisten Thomas Tallis (1505-1585). Gefordert ist ein in drei Sektonen aufgeteiltes Orchester: ein grösseres Streichorchester, ein kleineres, welches oft echoartig antwortet und ein Streichquartett. Zusammen sollen sie dem Klang einer Orgel nahekommen. Das Stück ist in Engalnd äusserst populär und taucht in mehreren Filmen als Filmmusik auf.
Benjamin Britten (1913-1976) schrieb diese Variationen als Tribut an seinen Lehrer Frank Bridge. Das Werk wurde 1937 am Festival von Salzburg uraufgeführt. Jede Variation bringt einen Aspekt des Lehrers (Bridge) durch das Auge und das Empfinden des Schülers (Britten) zum Ausdruck: Humor, Integrität, Charme, Energie, Kunst, Tradition (Britten imitierte in diesem Opus eine Reihe von Kompositionsstilen, z.B. von Rossini, Ravel, Stravinsky). Die Frank Bridge Variations waren 2010 auch in einer Choreographie Hans van Manens im Opernhaus Zürich zu erleben gewesen.
Arcangelo Corelli (1653-1713) gehörte einst zu den einflussreichsten, meistgespielten und verlegten Komponisten weltweit, obwohl sein Gesamtoeuvre (ausschliesslich Instrumentalmusik) nicht sehr umfangreich war. Er war für seine Zeit ein langsam und sehr überlegt kompnierender Musiker. Heute erfreuen sich vor allem seine Concerti grossi immer noch grosser Beliebtheit, besonders das so genannte Weihnachtskonzert (Opus 6, Nr. 8) erscheint in beinahe jeder Sammlung festlicher Weihnachtsmusik. Auf dem Adagio aus seinem Opus 6, Nr. 2 basiert Michael Tippetts (1905 1998) Fantasia Concertante, ein traumhaft schönes, elegisches Werk, in welchem Tippett elegant den Stil des Concerto grosso übernimmt, die Polyphonie komplex erweitert, mit lyrischer Leuchtkraft erfüllt, den Weg aus dem Dunkel ins Licht beschreitet. Auch dieses Werk erfreut sich in England immenser Popularität und damit schliesst sich der Kreis zum Eingangsstück von Vaughan Williams.
Tickets: http://www.zko.ch/Home