Zürich, Tonhalle: WAR REQUIEM, 07.10.2021
Musik: Benjamin Britten | Text: lateinische Missa pro Defunctis und Gedichte von Wilfred Owen | Uraufführung: 30. Mai 1962 in der Kathedrale von Coventry | Aufführungen in Zürich: 7.10. | 8.10.2021
Kritik:
Mit unfassbarer Pianokultur liess die Zürcher Sing-Akademie das Amen verklingen - und dann war nur noch Stille im grossen Saal der Zürcher Tonhalle. Eine Stille, die nochmals der Ergriffenheit Ausdruck verlieh, welche einen während dieser unglaublich intensiven, bewegenden Aufführung von Benjamin Brittens epochalem WAR REQUIEM erfasst hatte.
Kent Nagano am Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich, die Zürcher Sing-Akademie, einstudiert von Florian Helgath, die Zürcher Sängerknaben, einstudiert von Konrad und Alphons von Aarburg, der Tenor Ian Bostridge, der Bariton Russell Braun und die Sopranistin Georgia Jarman brachten die Trauer um die Toten, die Wut über das Kriegsgeschehen und das Mitleid mit allen physisch und psychisch Kriegsverletzten des Pazifisten Britten mit überwältigender Kraft zum Erklingen, einer Kraft, die direkt zu Herzen ging. Die Wirkung, welche Britten mit der Gegenüberstellung des tradierten lateinischen Textes der Totenmesse mit der beklemmenden Poesie des in den letzten Kriegstagen des ersten Weltkriegs gefallenen Soldaten Wilfred Owen erzielt, ist übermächtig - und der Apparat, den er dazu einsetzt, entsprechend gewaltig. Ein grosses Sinfonieorchester, Orgel, Glocken, ein zusätzliches Kammerorchester zur Begleitung von Tenor und Bariton, welche die Texte Owens vortragen, ein stark besetzter gemischter Chor, ein Kanbenchor und eine Sopransolistin. Kent Nagano verstand es, die Wiedergabe dieses Ausnahmewerks transparent zu halten, die schmerzhaften, vom Tritonus dominierten Passagen waren nie zu laut - und doch laut genug, um aufzurütteln. Daneben aber auch filigrane kammermusikalische Passagen, welche den beiden männlichen Gesangsolisten ermöglichten, ihre ergreifenden Texte mit grandioser Gestaltungskraft einzubringen. Die Sopranistin war nicht mitten in den Chor eingebettet (was die Vishnevskaya ja anlässlich der Ersteinspielung zu einem Aufstand bewegt hatte, da sie sich gegenüber den Sängern Pears und Fischer-Dieskau benachteiligt gefühlt hatte), sondern war engelsgleich rechts oben auf der Galerie platziert. Eine gute Wahl, denn so wirkten ihre atemlosen, anklagend-stotternden Einwürfe, die sich manchmal dann wunderschön über den Gesamtklang schwangen, noch aufwühlender. Georgia Jarman machte das fantastisch im Rex tremendae, brachte die beinahe erstickten, abgehackten Phrasen des Lacrimosa mit Eindringlichkeit zu Gehör, gestaltete ein wunderschönes, sanftes und tröstliches Benedictus.Erregnd geltaltete sie das Tremens factus, einzig im finalen In paradisum hätte man sich noch ein wenig mehr an über allem und allen schwebender Leuchtkraft wünschen können. Ian Bostridge mit seiner so wunderschön timbrierten Tenorstimme steigerte sich im Verlauf des Abends zu immer stärkerer Expressivität, verlieh den Texten ihre anklagende Wirkung, genau wie auch Russell Braun mit seiner ausdrucksstark geführten Baritonstimme aufzuwühlen und zu ergreifen verstand. Als sich die beiden Stimmen am Ende in der noch und noch wiederholten Phrase Let us sleep now mit dem In paradisum der beiden Chöre und der Sopranistin verschmolzen, war man nur noch gebannt vor Ergriffenheit. Diese stellte sich vor allem auch durch die überragende Leistung der Chöre ein, sowohl die zum Teil achtfach geteilt singende Zürcher Sing-Akademie als auch die Zürcher Sängerknaben demonstrierten eine chorische Klangkultur vom Allerfeinsten! Das überragende Tonhalle-Orchester Zürich erwies sich einmal mehr als Spitzenensemble: Gleissendes, sauber intonierendes Blech, wendiges Holz, präzises Schlagwerk (die unheilvollen Rhythmen der Trommeln am Anfang des Libera me), prägnanter Streicherklang. Herausragend auch die Transparenz im Spiel des Kammerensembles, welches den Tenor und den Bariton weit mehr als nur begleitete, diese Ensemble von Streichern und Holzbläsern war eine weitere gewichtige Stimme im Gesamtrahmen.
Wer eine der ergreifendsten Kompositionen des 20. Jahrunderts in einer überragenden Wiedergabe erleben möchte, hat heute Abend noch die Gelegenheit dazu in der frisch renovierten Tonhalle Zürich, welche gerade mit einem solchen Riesenwerk ihre exzellente Akustik unter Beweis stellt.
Werk:
Der zeitlebens überzeugte Pazifist Benjamin Britten (1913 – 1976) setzte die folgenden Worte des Poeten und im ersten Weltkrieg kurz vor dem Waffenstillstand gefallenen Soldaten Wilfred Owen als Vorspruch in seine Partitur:
„My subject is War, and the pity of War,
The Poetry is in the pity …
All a poet can do today is warn.“
Britten konzipierte das reichhaltig besetzte Werk, das als eines der Hauptwerke des brittischen Komponisten gilt, für grosses Orchester, ein Kammerorchester, Sopran, Tenor und Bariton, gemischten Chor, Knabenchor und Orgel. Dabei begleiten das volle Orchester die lateinischen Passagen des Messetextes und das Kammerorchester die von Tenor und Bariton vorgetragenen poetischen Passagen aus Owens Feder. Owen gilt als einer der wichtigsten Zeitzeugen des Schreckens des ersten Weltkriegs. Die Uraufführung in der nach fast vollständiger Zerstörung im zweiten Weltkrieg wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry sollte auch mit Brittens Wunschbesetzung ein Zeichen der Versöhnung der Kriegsgegener des zweiten Weltkriegs setzen. Doch die Sowjetunion erteilte der Sopranistin Galina Vishnevskya kein Ausreisevisum, so dass die Sopranpartie dann mit Heather Harper besetzt wurde. Brittens Lebensgefährte Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau sangen die beiden männlichen Partien. Für die Schallplatteneinsppielung stand dann die Vishnevskaya endlich zur Verfügung. Britten selbst dirigierte anlässlich der Uraufführung das Melos Ensemble, Meredith Davies das City of Birmingham Symphony Orchestera.
Ein Tritonus C/Fis durchzieht das Werk wie eine Art Hauptmotiv zwischen Konflikt und Versöhunung, oft bleibt dabei der Akkord unaufgelöst, dissonant, dann wieder folgt eine tonale Auflösung. Aufwühlend gestaltete Britten das Offertorium, wo der Kanbenchor den lateinischen Text von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern sollte, singt, während Tenor und Bariton repetitiv um das Opfer der halben Jugend Europas für den Krieg trauern (But the old man would not so, but slew his son, and half the seed of Europe, one by one).