Zürich, Tonhalle: TÜÜR | MENDELSSOHN, 18.01.2023
Werke:
Erkki-Sven Tüür: LUX STELLARUM, Konzert für Flöte und Orchester, Schweizer Erstaufführung | Uraufführung: 26. Mai 2022 in Berlin, mit Emmanuel Pahud als Solisten, Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Paavo Järvi | Felix Mendelssohn Bartholdy: LOBGESANG (2. Sinfonie) | Uraufführung: 25. Juni 1840 in Leipzig, unter der Leitung des Komponisten | Dieses Konzert in Zürich: 18.1. | 19.1. | 20.1. 2023
Kritik:
SCHMERZEN
Um es gleich vorwegzunehmen: Falls in den Weiten des Universums tatsächlich solche Töne vorherrschen, wie sie Erkki-Sven Tüür in seinem Flötenkonzert LUX STELLARUM komponiert hat, möchte ich auf eine Reise dorthin noch so gerne verzichten. Auf dem Podium sitzt das Tonhalle-Orchester Zürich in einer Riesenbesetzung, wie zu einer Mahler- oder Bruckner-Sinfonie oder einer Tondichtung von Richard Strauss. Das für den Ausnahme-Flötisten Emmanuel Pahud (diesjähriger Artist in Residence der Tonhalle) geschaffene und 2022 mit den Berliner Philharmonikern uraufgeführte Werk beginnt sogleich mit schmerzenden, brutal aufs Ohr treffenden Tönen der Soloflöte. Man ist bass erstaunt, welche Art von Blastechniken Pahud zur Verfügung stehen, um der Flöte eine solch unermessliche Bandbreite von zumeist "hässlichen", hohlen, gehauchten und durchdringenden, oftmals stakkati-artigen Klängen zu entlocken. Für den Hörer gibt es keine Entkommen, kein Zurücklehnen. die einigermassen erträglichen, sanfteren Passagen kann man während der gut 30 Minuten Spiedauer des Konzerts, in welchem die vier Teile nahtlos ineinander übergehen, an einer Hand abzählen. Echoartig werden manchmal Passagen der Soloflöte in den Instrumentenfamilien des Orchesters aufgenommen, variiert. Doch das Ohr kann sich nie an etwas festklammern, Wiederholungen von Melodien nicht erkennen. Es wird laut, sehr laut, die Schmerzgrenze oftmals überschreitend. Manchmal vermeint man durchs Weltall fahrende Winde zu hören. Trotz viel variantenreicher Rhythmik, einer atemberaubenden Solokadenz von Pahud, irren Crescendi, klingt vieles wie hingespuckt, ausgereizt bis zur Unerträglichkeit. Paavo Järvi am Pult leitet das ganze mit Herzblut, sein Engagement für das Werk seines Landsmanns ist gewaltig. Selbst beim überaus freundlichen Applaus, zu dem der anwesende Komponist aufs Podium gebeten wird, hält Järvi immer wieder die Partitur in die Höhe. Gilt der Applaus wirklich dem Komponisten oder doch eher den Ausführenden? Oder zeugt er von Erleichterung, dass die Ohren nun entlastet sind? Wie dem auch sei, Emmanuel Pahud leistet in den 30 Minuten Unfassbares, das verdient allerhöchste Anerkennung und Bewunderung. Wer mich und meine Rezensionen kennt, weiss, dass ich neuen Klängen gegenüber durchaus aufgeschlossen bin, oftmals schreibe, dass ich eines dieser neuen Werke gerne nochmals hören würde, um es richtig zu würdigen. Das war gestern Abend nicht der Fall. Noch selten war ich so froh, als ein Werk verklang - dies allerdings waren dann die erbaulichsten Töne.
LINDERNDER BALSAM
Auch bei Felix Mendelssohn Bartholdys LOBGESANG gab es Unentrinnbares, das sich im Ohr festsetzte, nämlich das Motiv auf die Worte Alles was Odem hat, lobe den Herrn, zuerst vorgestellt von der Posaune, im Laufe des Werks immer wiederkehrend, einen Bogen über die gesamte Sinfonie-Kantate spannend. Herz und Ohr jubeln nun vor soviel Schönheit und Erhabenheit. Paavo Järvi geht die Sinfonia (die ersten drei rein orchestralen Sätze) sehr vorwärtsdrängend und zügig an, das Tonhalle-Orchester Zürich zeigt sich einmal mehr in blendender Verfassung und zieht kraftvoll mit. Da wird nichts zelebriert, dafür werden herrliche Bögen gespannt, traumhaft schöne Kantilenen herausgearbeitet, man lauscht mit Freude den herausragend spielenden, sanft wiegenden Holzbläsern, den jubelnden Violinen, die in Weberscher Manier jauchzende Freudenstimmung verbreiten. Kunstvoll werden die Motive miteinander verwoben, von Järvi und dem Orchester mit Leichtfüssigkeit offengelegt. Wunderbar tragende , mit viel Wärme intonierte Piani der Streicher lassen aufhorchen!
Effektvoll gelingt der Übergang zum Kantatenteil, wuchtig setzt die Zürcher Sing-Akademie (einstudiert von Florian Helgath) ein. Chen Reiss begeistert mit ihrer wunderschön lichten Stimme in den Soli des ersten und in ihrem Duett mit dem zweiten, ebenso schönen und passend etwas dunkler timbrierten Sopran von Marie Henriette Reinhold. Mit einer klaren und wo geboten auch markanten Diktion (Stricke des Todes, klingt deutlich von Webers FREISCHÜTZ inspiriert) und einer Klangfarbe der Extraklasse wartet der Tenor Patrick Grahl auf. Zum Niederknien!!!
Die Zürcher Sing-Akademie leistet Beachtliches: Klangstark, gewaltig, doch stets kontrolliert und in den einzelnen Stimmen durchhörbar. Der a- cappella Teil des an Bach angelehnten Chorals Nun danket alle Gott gelingt mit blitzsauberer Intonation. Hochdramatisch gestalten Chen Reiss und Patrick Grahl die Nummer IX, den Zwiegesang Drum sing ich mit meinem Liede bevor das Werk ins alles umfassende Chorfinale mündet, eine alles und jeden erfassende Wirkung entfaltet, die eben nur bei einem Live-Konzert möglich ist, ein triumphaler Jubel-Gesang, der schon beinahe gefährliche, christlich propagandistische Tendenzen aufweist. Doch das im ersten Teil des Konzerts so leidgeprüfte Ohr nimmt den tonalen Balsam noch so gerne auf.
Persönliche Anmerkung: Schön, dass es bei diesem Werk keinem Chorsänger, keiner Chorsängerin der Zürcher Sing-Akademie "unwohl" war und sie nicht wie bei Prokofiews ALEXANDER NEWSKI eine Programmänderung durchsetzten. Hier sangen sie während vierzig Minuten voller Insbrunst ein "Lob des Herrn", in dessen Namen doch über Jahrtausende hinweg Tausende, wenn nicht Millionen Menschen den Tod fanden ... .
Werke:
Der estnische Komponist Erkki-Sven Tüür wurde 1959 geboren. Er eignete sich sein muikalisches Wissen und Können erst autodidaktisch an, bevor er ab 1979 Kompositionsunterricht bekam. In seiner frühen Jugend gründete er die Gruppe IN SPE, eine Kammer-Rock-Gruppe, der zeitweise auch der jetzige Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich, Paavo Järvi, angehörte.
Sein dem Flötisten Emmanuel Pahud gewidmetes Flötenkonzert LUX STELLARUM setzt astrale Phänomene in Töne um. Schlagzeugeffekte, Glockenspiel, Vibrafon und Zimbeln evozieren Klänge und Lichtspiele des Universums. Die vier Sätze sind mit FADING STARS, DANCING ASTEROIDS, LITANY OF THE DYING STARS und FLOATING GALAXIES überschrieben.
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) schrieb seine zweite Sinfonie aus Anslass der Vierhundertjahrfeier der Erfindung der Buchdruckkunst, welche man 1840 in Leipzig, dem Zentrum des deutschen Verlagswesens, festlich beging. Das Werk wurde in der Thomaskirche Leipzig unter der Leitung des Komponisten mit rund 500 Mitwirkenden in Chor und Orchester uraufgeführt. Eigentlich handelt es sich beim LOBGESANG um Mendelssohns vierte der grossen Sinfonien. Er fand seine fünfte Sinfonie (die Reformationssinfonie) misslungen und die vierte (die Italienische) bedurfte noch einer Revision. Doch ist der LOBGESANG überhaupt eine Sinfonie oder doch eher eine Kantate? Mendelssohn bezeichnete das Werk in der ersten Ausgabe als "Symphonie-Kantate". Nach dem Vorbild der neunten Sinfonie von Beethoven beginnt auch Mendelssohn mit drei rein instrumentalen Sätzen, die nahtlos gespielt werden. Danach folgt ein Chorfinale, allerdings mit dem Ausmass eines Oratoriums, mit Chorälen und solistischen Passagen der beiden Soprane und des Tenors. Man hat Mendoelssohn den Vorwurf gemacht, dass zwischen der "Sinfonia" und der Kantate ein Bruch bestehe und ihm Eklektizismus vorgeworfen. Die von ihm verwendeten Bibelzitate seien beliebig ausgewählt worden. Heinrich Heine sprach gar von einer "Glaubenslüge", da geistliche Musik nicht von einer inhärenten Frömmigkeit getragen werde.
Das zu Beginn vorgestellte Posaunenthema kehrt im Verlauf der Sinfonie immer wieder, stellt sozusagen einen thematischen Bogen und Keimzelle der Sinfonie dar. Dieses Thema wird am Ende im Chorfinale mit den Worten "Alles, was Odem hat, lobe den Herrn" gleichsam zur Apotheose. In die instrumentalen Sätze werden choralartige Passagen eingeflochten und im Kantantenteil untermalt das Orchester mit seinen romantischen Klängen den streng formalen Kirchenstil.