Zürich, Tonhalle: RAVEL | STRAWINSKY; 28.10.2024
Das renommierte AURORA ORCHESTRA LONDON ist bekannt für seine innovativen Konzertformate. Unter der Leitung von Nicholas Collon und mit dem Solisten Alexandre Tharaud spielt es die folgenden Werke
Zuerst steht eine Überraschung auf dem Programm, danach folgen Ravels Klavierkonzert in G-Dur | Uraufführung: 14. Januar 1932 in Paris unter der Leitung des Komponisten | und Strawinskys Suite DER FEUERVOGEL in der Version von 1945 | Uraufführung als Ballett: 25. Juni 1910 in Paris | Uraufführung der Konzertsuite von 1945: 4. Oktober 1945 in der Metropolitan Opera New York unter der Leitung von Jascha Horenstein
Dieses Konzert am 28.10. in Zürich, am 29.10. in Genf und am 30.10. in Bern
Kritik:
Ein unvergessliches Erlebnis, ja ein Ereignis, stellte dieses Konzert des AURORA ORCHESTRA aus London dar, welches Migros-Kulturprozent-Classics vergangenen Montag in der Tonhalle Zürich präsentierte. Das Aurora Orchestra ist bekannt für seine innovativen Darbietungen klassischer Musik - doch dieses Konzert übertraf alle Erwartungen. Die hervorragenden Musiker*innen des Orchesters, der Dirigent Nicholas Collon und der Solist Alexandre Tharaud liessen das Publikum tief eintauchen in die Klangwelt Ravels und Strawinskys.
Begonnen hatte das Konzert mit einem als "Musikalische Überraschung" angekündigten Programmteil. Nur ein einsamer Trommler stand hinter seinem Instrument. Doch bereits nach wenigen Sekunden wurde klar, was hier im wahrsten Sinne des Wortes "gespielt" wird: Ravels BOLÉRO. Das Werk besteht ja nur aus einem einzigartigen Orchestercrescendo, dem Ostinato des Trommelrhythmus und aus zwei Melodien, die unablässig und ohne jegliche Modulation wiederholt werden. Hier war es nun aber nicht so, dass die Musiker bereits auf dem Podium versammelt gewesen wären, auch ein Dirigent war vorerst nirgends zu sehen. Nach und nach erhoben sich die Mitglieder des Orchesters aus dem Publikum, oder kamen in den Saal, auf die Galerie oder aufs Podium. Auch der Dirigent Nicholas Collon kam gemächlich dazu und baute sein präzises Dirigat organisch aus dem Musizieren des Orchesters heraus auf. Selbstredend brauchte niemand Noten oder Partituren, alles wurde auswendig gespielt. Das Ergebnis war ein Surround-Sound-Klangbad von unfassbarer Faszination und strotzend vor Energie, die abschliessende Coda ein befreiender klanglicher Orgasmus.
Etwas traditioneller dann der Mittelteil des Konzerts, Ravels Klavierkonzert in G-Dur, mit dem renommierten Ravel-Spezialisten Alexandre Tharaud am Flügel. Wunderbar verspielt gelangen ihm die jazzigen Passagen des ersten Satzes, aber auch die Eleganz und die Geschmeidigkeit, die diesem Satz innewohnen. Eine Überraschung folgte aber dann aber auch hier: Im so wunderschönen, liedhaften Adagio assai erhob sich der Spieler des Englischhorns, schritt nach vorn, stellte sich neben den Flügel und duettierte zusammen mit dem Pianisten voller Innigkeit. Traumhaft. Rasant und packend das kurze Presto am Ende, wiederum gespickt mit jazzigen Elementen und alles von einer luftigen Leichtigkeit geprägt, mit dezenter, zirzensischer Würze. Mit der so wunderschön sanft dahinperlenden Zugabe (Erik Saties Gnossienne 1) gab er dem Publikum Zeit zur Einkehr.
Nach der Pause dann Strawinskys Suite L'OISEAU DE FEU, und zwar in der letzten Fassung von 1945. Das Podium war praktisch leer, keine Stühle, keine Notenpulte. Zuerst erläuterten Nicholas Collon und der Autor und Musikjournalist (bekannt auch als Präsentator der BBC-Proms) Tom Service in einem witzigen Dialog das Werk, brachten dem Publikum Terzen und Tritonus nahe, liessen uns alle russische Volksmelodien singen und wie Monster zischen. Die Bratschen und andere Instrumentengruppen unterstützten den Moderator und den Dirigenten bei ihren Ausführungen. Erst danach folgte die fulminante Wiedergabe der Suite am Stück. alle Musiker*innen, die ihre Instrumente auch im Stehen spielen können (einzig eine schwangere Geigerin durfte sitzen), standen auf dem Podium, alle spielten erneut auswendig, auch der Dirigent hatte keine Partitur vor sich. Das komplexe Werk lief in bestechender Präzision ab, die Konzentration auf der Bühne und im Saal war unter Hochspannung - und dank der Erläuterungen zu Beginn achtete man auf bestimmte Stellen und hörte ganz genau hin. Der Höhepunkt allerdings kam am Ende: Als Zugabe spielte das Orchester nämlich nochmals die finale Hymne der Feuervogel-Suite, aber diesmal erneut verteilt im ganzen Saal und auf der Galerie. So hörte man das Werk mit den Ohren eines Orchestermusikers, wenn neben ihm die schrille Piccoloflöte oder die Posaune sitzt, oder (wenn man Glück hatte) warme Celli- oder Bratschenkantilenen den Ohren schmeichelten. Auch choreografisch wurde so ein Bogen vom Beginn zum Ende des Konzerts geschlagen. Das Publikum im vollen Saal der Tonhalle war zu Recht ganz aus dem Häuschen! Gehaltvolle Klassik mit Eventcharakter, ohne anbiedernd zu sein. Weiter so!
Werke:
Maurice Ravel (1875-1937) schuf sein Klavierkonzert in G-Dur in der Zeit von 1929-1931, nach einer ausgedehnten Konzerttournee durch die Vereinigten Staaten. Jazzige Klänge und Anlehnungen an Blues-Rhythmen flossen unüberhörbar in dieses Werk ein. Daneben sind auch mystischere Passagen zu vernehmen, klangmalerische, heitere Gebilde erinnern an Dvoraks Sinfonie Nr.9 oder Chopins Nocturnes. Ursprünglich beabsichtigte Ravel, mit diesem Konzert selbst auf Tournee zu gehen. Doch seine nachlassende Gesundheit stand dem im Wege. So spielte Marguerite Long (mit Ravel als Dirigent) die Uraufführung des Werks (14. Januar 1932). Kurze Zeit nach der Uraufführung liessen Ravels schöpferische Kräfte rapide nach, ein Autounfall im Herbst des Jahres 1932 verschlimmerte die bereits bestehenden Krankheitsbilder noch zusätzlich. Störungen in der Bewegungsmotorik und Einschränkungen im sprachlichen Ausdrucksvermögen verunmöglichten weitere Kompositionen.
Igor Strawinsky (1882-1971): LOISEAU DE FEU, der Feuervogel, Ballettsuite von 1945
DER FEUERVOGEL ist ein Auftragswerk an Strawinsky vom russischen Mäzen und Impresario des Ensembles „Ballets Russes“, Sergej Dhiaghilew. Die Uraufführungam 25. Juni 1910 im Pariser Palais Garnier wurde begeistert aufgenommen. Seither gehört der FEUERVOGEL zu den Grundpfeilern des klassischen Ballettrepertoires. Wendungen herber Chromatik und ausdrucksstarker rhythmischer Brutalität wechseln sich in Strawinskys Partitur mit flirrenden, geheimnisvollen Streicherklängen und folkloristisch angehauchten Melodien. Strawinskys schon in seinem Frühwerk (wozu der FEUERVOGEL zählt) ausgeprägte Instrumentationskunst verleiht der Musik ein farbenprächtiges, in manchen Facetten schillerndes Gewand. Die ungeheure Kraftentfaltung des Orchesters im so genannten „Höllentanz“ nimmt die Ekstasen des „Sacre du printemps“ vorweg.
Für den Konzertsaal schuf Strawinsky insgesamt 3 Fassungen. Die an diesem Abend vom Aurora Orchestra gespielte aus dem Jahr 1945 ist die längste der drei.