Zürich, Tonhalle: RACHMANINOW, 10.11.2023
Abschluss des Rachmaninow-Zyklus, den das Opernhaus und die Tonhalle Zürich als Gemeinschaftsprojekt gestalteten.
Gianandrea Noseda, der GMD des Opernhauses dirigiert das Tonhalle-Orchester Zürich
Werke: Sergej Rachmaninow: Klavierkonzert Nr. 4 in g-Moll, op. 40, mit Francesco Piemontesi am Flügel | Uraufführung: 18. März 1927 (unter Leopold Stokowski) in Philadelphia (erste Version), mit Rachmaninow am Klavier, 1941 in Philadelphia unter Eugen Ormandy, ebenfalls mit Rachmaninow als Solisten (dritte Version) | Sergej Rachmaninow: Sinfonie Nr. 1 d-Moll op. 13 | Uraufführung: 17. März 1897 in St.Petersburg, unter der Leitung von Glasunow
Dieses Konzert in Zürich: 8.11. und 10.11.2023
Kritik:
SPERRIGKEIT DER JUGEND - SPERRIGKEIT DER REIFE
Im Rahmen der Zusammenarbeit für den Rachmaninow-Zyklus zwischen Opernhaus und Tonhalle tauschten die beiden Chefs Paavo Järvi und Gianandrea Noseda die Pulte und die Orchester: Noseda dirigierte nun also das Tonhalle-Orchester Zürich in der Tonhalle, Järvi wird heute Abend im Opernhaus dirigieren. In beiden Konzerten tritt der Tessiner Pianist Francesco Piemontesi (mit unterschiedlichen Werken Rachmaninows!) auf. Gianandrea Noseda wählte für sein Konzert in der Tonhalle eher sperrige, seltener aufgeführte Werke des Russen, nämlich Rachmaninows viertes und letztes Klavierkonzert (1927/41) und seine erste Sinfonie von 1897. Die beiden Werke entstanden also in einem Abstand von gut 30 Jahren (es sind knapp 45 Jahre, wenn man auf die zweite Fassung des Klavierkonzerts Nr.4. blickt).
FASZINATION DES JUGENDLICH-BRACHIALEN UNGESTÜMS
Es ist überaus nachvollziehbar, dass Rachmaninows erste Sinfonie 1897 bei Kritik und Publikum durchfiel (siehe Werkbeschreibung weiter unten). Denn diese Sinfonie braucht einen absoluten Könner am Pult und ein Spitzenorchester auf dem Podium, um das Ungestüme und Brachiale des Jugendwerks nicht in plakative Banalität abgleiten zu lassen. Mit Gianandrea Noseda und dem Tonhalle-Orchester Zürich standen Interpreten zur Verfügung, welche dieser vorwärtsdrängenden, auch manchmal zerklüfteten und mutigen Musiksprache gerecht wurden, ja mehr als das: Mit gigantischer Wucht legten Orchester und Dirigent los, legten viel Feingefühl in die (wenigen) elegischen Momente und die spätromantischen Aufschwünge; die riesige Streichergruppe verströmte grandiose Leuchtkraft, alles federte mit rhythmischer Präzision, die orgiastischen Steigerungen im Kopfsatz führten zu entfesselten, aber stets kontrollierten Klangfontänen. Überwältigend! Mystisches, atmosphärisches Suchen, mit bewegter Klarinetten-Kantilene prägte das vorwärtsdrängende Scherzo, die hoch interessante Instrumentationskunst des jungen Rachmaninow verblüffte, das klang alles sehr mutig (und schwierig auszuführen) konzipiert, kein spätromantisches Schwelgen zum Zurücklehnen! Im ruhenden Duktus des Larghetto konnte sich das Ohr etwas entspannen, ganz fantastisch erklangen die solistischen Phrasen der Holzbläser des Tonhalle-Orchesters Zürich, apart spielten zwei erste Geigen und zwei Celli begleitet von Pizzicati eine Streichquartett-Passage. Nach einer traumhaft schön gespielten Kantilene der Klarinette verklang der Satz in himmlischem Piano. Doch zu melancholischem Träumen blieb keine Zeit: Mitreissende Fanfaren und Marschrythmen des Blechs akzentuierten die Dramatik und das Zuschlagen des Schicksals (oder des Jüngsten Gerichts ...) mit lärmiger Wucht und berauschender Sogwirkung und kulminierten in der Faszination der brachialen Gewalt! WOW Nr.1! Was für eine unfassbar intensive Klangerfahrung! Eine überaus mutige Sinfonie eines jungen Komponisten, sperrig, kantig, schwierig. Dem Tonhalle-Orchester Zürich unter Gianandrea Noseda brandete verdientermassen beigeisterter Applaus entgegen für diesen bemerkenswerten Höllenritt.
ABSCHIED VON DER SPÄTROMANTIK
Mit dem eher selten gespielten Klavierkonzert Rachmaninows hatte das Konzert begonnen. Rachmaninow konnte nach viel Kritik an seinem Festhalten am tonalen Stil und nach dem Weltenbrand des ersten Weltkriegs nicht mehr zum spätromantischen Überschwang seiner grossen Erfolge mit dem 2. und dem 3. Klavierkonzert oder der zweiten Sinfonie zurückkehren. In seinem letzten Klavierkonzert sind die Themen kürzer gehalten, das Werk wirkt bedeutend sperriger als die vorangehenden Klavierkonzerte, man hört deutlich die Einflüsse des aufkommenden Jazz (Rachmaninow lebte da schon in den USA). Geblieben ist allerdings die unglaubliche Virtuosität des Soloparts. Mit Francesco Piemontesi sass ein absoluter Meisterinterpret am Flügel. Sein Spiel war auch in den vertracktesten Passagen von einem atemberaubenden Fluss geprägt, ganz und gar uneitel. Mit perlendem Klang umspielte er das immer nur kurz aufflammende - doch noch etwas wie trauernd die Spätromantik heraufbeschwörende - Hauptthema. Es entwickelte sich unter der aufmerksamen Leitung Nosedas ein Strom, der wie in verschlungenen Flussbetten unaufhaltsam dahintrieb, mal eruptiv mitriss, dann wieder in sanften Wellen dahinfloss, sich wieder aufbäumte, zurück in ein ruhiges, gesangliches Strömen fand, in wunderbar klaren Trillern verhallte. Rasante Tempi in synkopischer Akzentuierung gelangen genauso stark wie Passagen von fast ätherischer Schwerelosigkeit. Piemontesi bestach mit seiner präzisen Geläufigkeit, seiner austarierten Dynamik, seiner differenzierten Anschlagtechnik. Die Zugabe riss einen vom Sessel. Mit Debussys FEU D'ARTIFICE zündete Francesco Piemontesi wahrlich ein veritables Feuerwerk: Was da abging an Rasanz und Perfektion in der Koordination der beiden Hände war nicht von dieser Welt. WOW Nr. 2!
KEINE PAUSE
Für mich nicht ganz verständlich (und für viele andere Besucher*innen auch nicht) war, dass zwischen den beiden doch gewichtigen Werken keine Pause eingefügt wurde. Wie gerne hätte man sich nach dem Klavierkonzert ausgetauscht, sich einen Schluck eines Getränks oder eine Zigarette genehmigt oder die Toilette aufgesucht (viele Besucher*innen klassischer Konzerte sind ja in einem entsprechenden Alter ...). Dieser zunehmenden Tendenz pausenloser Konzerte kann ich persönlich gar nichts abgewinnen.
Werke:
Sergej Rachmaninows (1873-1943) 4. Klavierkonzert ist wahrscheinlich das am seltesten aufgeführte seiner Werke für Klavier und Orchester. Entstanden ist es 1926, in seiner ersten Form uraufgeführt 1927 in Philadelphia, mit dem Komponisten am Klavier und Leopold Stokowski am Pult. Doch die Überlänge machte es dem Werk schwer sich durchzusetzen. 1941 brachte Rachmaninow seine dritte Bearbeitung (ca 80 Takte hatte er gestrichen, Passagen umgearbeitet) zur Uraufführung in Philadelphia, diesmal unter der Leitung von Eugene Ormandy. Ernet spielte Rachaninow selbst den Solopart. Die Melodik des vierten Klavierkonzerts ist beim ersten Anhören weniger eingängig als diejenige der anderen drei Konzerte. Deutlich hörbar sind Einflüsse des Jazz (Gershwin), vor allem im Schlusssatz. Ansonsten ist das Konzert weit weniger auf brillante Effekte angelegt als die Vorgänger, dafür besticht es mit stilsicherer, auch impressionistisch angehauchter Eleganz.
Am Beispiel von Rachmaninows erster Sinfonie kann man deutlich sehen, was schlampige Aufführungen und abschätzige Verrisse durch Komponistenkollegen (Kritiker) mit einem sensiblen Künstler anrichten können. Die Uraufführung von Rachmaninows erster Sinfonie geriet nach Zeugenaussagen desaströs. Kein geringerer als Alexander Glasunow (vor allem bekannt geworden durch seine Ballettmusik zu RAYMONDA) dirigierte diese Uraufführung seines jungen Kollegen Rachmaninow (vermutlich war Glasunow betrunken). Rachmaninow war zu dieser Zeit aber kein Nobody mehr, er hatte unter anderem bereits sein erfolgreiches erstes Klavierkonzert dem Publikum präsentiert und für die Oper ALEKO Auszeichnungen erhalten. Glasunow schien total unvorbereitet an das Dirigat herangegangen zu sein. Die Temporelationen stimmten nicht, von Interpretation der impressionistischen Passagen mittels Dynamik und Ausdruck keine Spur. Als Krönung des Unheils publizierte der Komponist Cesare Cui (zusammen mit Borodin, Mussorgski, Balakirew und Rimski-Korsakow Mitglied des die russische Seele in der Musik bewahren wollendes "Mächtigen Häufleins") eine vernichtende Kritik der Sinfonie in einer St.Petersburger Zeitung. Dies führte zu einer Depression Rachmaninows, die eine dreijährige Schockstarre auslöste, es ihm verunmöglichte, neue Werke zu komponieren. Aus dieser Schaffenskrise fand er erst mit Hilfe hypnotischer Behandlungen durch den Psychiater Nicolai Dahl heraus. Ihm widmete er dann auch sein zweites Klavierkonzert, ein Gipfelpunkt seines Schaffens.
Die erste Sinfonie verschwand in den Archiven und wurde erst 1944 restauriert. Die Urauffühung dieser aufgrund der Orchesterstimmen und der Originalpartitur restaurierten Fassung 1945 in Moskau, zwei Jahre nach Rachmaninows Tod in Beverley Hills, geriet zu einem Triumph. Die Kritiker lobten die Form, die Frische und die Aktualität der Musiksprache - Cui hatte noch despektierlich von einer Musik gesprochen, die den "Sieben ägyptischen Plagen" gleichkomme. Knapp 50 Jahre nach der St.Petersburger Uraufführung war das Werk endlich rehabilitiert!