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Zürich, Tonhalle: MOZART | PROKOFJEW | SCHOSTAKOWITSCH; 23.10.2024

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Schostakowitsch 6. Sinfonie

Applausbilder, 23.10.2024: K. Sannemann

Lisa Batiashvili und Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester Zürich

Wolfgang Amadeus Mozart: Ouvertüre zu Don Giovanni, KV 527 | Uraufführung: 29. Oktober 1787 in Prag, Zweitfassung 7. Mai 1788 im Burgtheater Wien | Sergej Prokofjew: Violinkonzert Nr. 2 g-Moll op. 63 | Uraufführung: 1.Dezember 1935 in Madrid | Dmitiri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54 | Uraufführung: 21. November 1939 in Leningrad | Dieses Konzert in Zürich: 23.10. und 24.10.2024

Kritik: 

ÜBERWÄLTIGENDE SINFONIE OHNE KOPF - Schostakowitschs 6. Sinfonie steht in derselben Tonart wie Tschaikowskys 6., nämlich in h-Moll. Das ist kein Zufall. Schostakowitsch hat Tschaikovskys Sinfonien nicht nur gut gekannt, sondern auch sehr geschätzt. Die 6. Sinfonie, genannt "Pathétique" von Tschaikowsky endet - sehr ungewöhnlich - mit einem langsamen Satz, einem Adagio lamentoso, mit fallenden Seufzern und einem düsteren Akkord in h-Moll. Schostakowitsch beginnt seine sechste Sinfonie mit aufsteigenden Seufzern in h-Moll, setzt also einen langsamen Satz, ein Largo, an den Beginn seiner Sechsten. Darauf lässt er nur noch zwei schnell dahinrauschende Sätze folgen, ein Allegro und ein Presto. Der Sinfonie fehlt also der Kopfsatz - und Schostakowitsch setzt damit ein bemerkenswertes Zeichen. Nach dem vordergründigen Jubel-Marsch-Finale in seiner fünften Sinfonie (sie erklang letzten Sonntag im Opernhaus Zürich unter Tarmo Peltokoski) nun also ein introvertiertes, sorgenvolles Leiden. Ein Leiden, das Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich mit gewaltiger und unter die Haut gehender Emphase interpretierten. Diese klagenden Schreie erklangen mit Gänsehaut erregender Eindringlichkeit. Dabei verzichtete Järvi auf jegliches Pathos, drängte vorwärts, liess die Farben des Orchesters schillern und schmerzhaft gleissen, so z.B. die Piccoloflöte über den Streicherfiguren oder das Englischhoren, das sich zart aus dem Tremolo der Streicher emporschwang. Die Holzbläser brillierten mit den beiden Flöten, der Bassklarinette, den Klarinetten, Fagotten und Oboen. Das Variieren ein und desselben Themas gemahnte an Bach und blieb doch ganz und gar Schostakowitsch. Der warme Klang der Streicher umflorte das Geschehen mit unfassbarer Schönheit. Der Satz verklang leise leidend, in tragischer Schicksalsergebenheit. Ganz anders dann die beiden folgenden Sätze: Die Klarinetten stimmen ein auf einen turbulenten Reigen, Jahrmarktsstimmung an der Grenze zum Chaos, jauchzende, ländlerhafte Passagen der exzellenten Holzbläser des Tonhalle-Orchesters Zürich steuern Witz und unbeschwerte Leichtigkeit bei. Das Finale präsentierte sich als temporeicher Galopp, leichtfüssige, vordergründige Fröhlichkeit (damit wirkt die Fröhlichkeit dieses Finalsatzes so aufgezwungen wie der Jubelmarsch in der Fünften). Aber deutlich hört man das warnende Fauchen der Flöte dazwischen, die zur Vorsicht mahnt. Damit hört man nicht nur stampfende Ausgelassenheit, sondern eben auch drohende Gefahr. Die Entstehung der Sinfonie fiel in die Zeit des Nichtangriffspaktes zwischen Hitler und Stalin, das war eine auf falschen Annahmen beruhende Friedenszeit. Und Künstler wie Schostakowitsch haben das eben gespürt. Der Jubel in der Tonhalle war verdientermassen gross, so dass das Orchester sogar noch eine Zugabe spielte, nämlich Schostakowitschs witzigen Foxtrott "Tahiti Trot", der auf der Melodie TEA FOR TWO aus dem Musical NO, NO, NANETTE fusst. Der Dirigent Nicolai Malko hatte Schostakowitsch zu einer Wette verleitet: Schostakowitsch schaffe es nicht, die Melodie innerhalb einer Stunde aus dem Gedächtnis niederzuschreiben und zu orchesterieren. Schostakowitsch nahm die Wette an und präsentierte nach 45 Minuten das Ergebnis. Malko nahm die Partitur in seine Konzerte auf und die Komposition erfreute sich in der Sowjetunion überwältigender Beliebtheit. Natürlich nur, bis die Kluturverantwortlichen der KPDSU einschritten und den Foxtrott als westlich dekadent brandmarkten. (Sie bezeichneten diese Musik als "Denken mit den Sexualorganen anstelle des Hirns".) Schostakowitsch distanzierte sich von seinem Werk, es verschwand. Die Witwe Malkos jedoch übergab die erhalten gebliebenen Stimmen dem Dirigenten Gennadi Rozhdesvensky, welcher daraus eine Fassung erstellte, die sich erneut grosser Beliebtheit erfreute. so auch gestern Abend beim amüsiert lauschenden Publikum im grossen Saal der Tonhalle Zürich.

PROKOFJEWS VIOLINKONZERT: Doch was spielt man im "Begleitprogramm" einer so überragenden Sinfonie? Diese Frage stellt sich immer wieder, wenn man gewichtige Sinfonien von Bruckner, Mahler oder eben Schostakowitsch spielt. Die Tonhalle Zürich entschied sich für Prokofjews 2. Violinkonzert in g-Moll. Eine gute Wahl, denn Prokofjew und Schostakowitsch waren praktisch Zeitgenossen, beide Russen. Prokofjew verbrachte ab 1918 lange Zeit im Exil und kehrte erst 1936 definitiv und freiwillig in die Sowjetunion zurück. Er hatte bedeutend weniger Ärger mit dem Regime als sein Kollege Schostakowitsch. Als Solistin konnte man die herausragende Lisa Batiashvili erleben. Im Gegensatz zur Sinfonie Schostakowitschs ist die Satzabfolge in Prokofjews Konzert ganz klassisch: Schnell - langsam - schnell. Die Einleitung durch die Solovioline klang für mich nicht ganz so innig, wie ich es mir gewünscht hätte. War da etwas Nervosität im Spiel. Doch später, in den unzähligen Varianten, in denen diese volksliedhafte Phrase verarbeitet wurde, nahm die Kantabilität immer berührendere Züge an, Lisa Batiashvili stieg versiert in die Dialoge mit dem Orchester ein, zeigte ihre stupende Virtuosität in den akzentuierten Passagen des Mittelteils und hob vor allem im wunderbaren Seitenthema den lyrischen Gedanken wunderschön hervor. Im Andante legte sie mit ihrem Spiel die elegische Stimmung des Satzes auf den vom Orchester traumhaft schön grundierten Klangteppich aus den Pizzicati der Streicher und den stimmungsvollen Phrasen der Klarinetten, welche den himmlischen Kantilen der Solovioline eine Art Erdung verliehen. Im leichtfüssig daherkommenden Mittelteil hörte ich orchestrale Anklänge an die Kompositions - und Orchestrierungsweise eines Richard Strauss heraus. Herrlich, wie Paavo Järvi die Fagotte heraushob, wie Lisa Batishvili mit ihrer Klangschönheit der Tongebung sehnsüchtige Gedanken im Dialog mit den Klarinetten offenbarte, wie so ein wundersames Gesamtklangbild entstand. Der markante Finalsatz war dann ein Wirbel aus spanischen Impressionen (Kastagnetten), bizarrer Groteske und virtuoser Rasanz. Verdienter, grosser Jubel führte zu einer ungewöhnlichen Zugabe: Zusätzliche Orchestermusiker gesellten sich aufs Podium, gespielt wurde der Beginn von Prokofjews Ballettsuite ROMEO UND JULIA (Die Montagues und die Capulets), mit Lisa Batiashvili quasi als Stimmführerin der Violinen. Grosse Freude beim Publikum!

Begonnen hatte der Abend mit Mozart, nämlich mit dessen Ouvertüre zu DON GIOVANNI - eine Programmierung, deren konzeptioneller Gedanke sich mir nicht erschloss. Ich sah nur die Parallele, dass auch dieses Stück, wie das Konzert Prokofjews und die Sinfonie Schostakowitschs in in einer Moll-Tonart geschrieben ist (d-Moll). Weitaus passender wäre ein kürzeres Werk aus der Feder Prokofjews oder Schotakowitschs gewesen (davon gäbe es eine riesige Auswahl) - oder eines anderen Russen. Opernouvertüren als "Füller" in Konzertprogrammen sehe ich sowieso kritisch. Oder wollte man dem der Musik des 20. Jahrhunderts eher skeptisch gegenüberstehenden Publikum mit Mozart das Programm versüssen? Gewirkt hat's wenig: Der Applaus nach dieser (gut gespielten) Don-Giovanni-Ouvertüre war äusserst kurz.

Werke:

Da LE NOZZE DI FIGARO, die erste Zusammenarbeit zwischen Lorenzo da Ponte und Mozart (1756-1791), in Prag grossen Enthusiasmus ausgelöst hatte, kam Mozart zu seinem Auftrag, eine Oper für das Prager Nationaltheater zu schreiben. Mozart und da Ponte beschlossen, sich dem damals äusserst populären Don-Juan-Stoff zuzuwenden. So entstand die zweiaktige Oper DON GIOVANNI (welche eigentlich den Titel IL DISSOLUTO PUNITO OSSIA IL DON GIOVANNI trägt). Seit der Uraufführung geniesst das Werk grösste Wertschätzung bei Publikum, Musikern und Kritikern und den Ruf als „Oper aller Opern“ (E.T.A.Hoffmann). Diese Oper regte Denker vom Rang eines Adorno, eines Kierkegaard oder eines Nietzsche zu philosophischen Ergüssen an. Aber all dessen ungeachtet, sind es die direkt ins Herz der Zuhörer und der Charaktere treffende Meisterschaft von Mozarts Musik, seine geniale Einfühlungskraft und die musikdramatisch feinnervig erfasste Vielschichtigkeit der Protagonisten, welche das Werk selbst aus Mozarts Schaffen herausragen und alle anderen Vertonungen des Stoffes neben sich verblassen lassen.

Sergej Prokofjew (1891-1953) komponierte sein 2. Violinkonzert rund 20 Jahre nach seinem ersten Solokonzert für dieses Instrument. Die beiden Konzerte gehören zu seinen inspiriertesten Werken überhaupt. Während das erste mit der Satzfolge langsam – schnell – langsam mit der tradierten Form brach, kehrte Prokofjew mit seinem zweiten Konzert wieder zum klassischen Typus zurück. Der erste Satz (Allegro moderato) wird von der Solovioline mit einem volksliedhaften Thema eröffnet, welches im Verlauf verschiedenartig variiert wird, bevor ein lyrisches Seitenthema auftaucht. Das folgende Andante assai ist ein Satz von einnehmender Kantabilität. Der Finalsatz (Allegro ben marcato) scheint zuerst auf die so typischen (russischen) Grotesken anzuspielen, doch die Virtuosität obsiegt, das Ganze endet in tänzerischem Wirbel. Das Werk war (mit grossem Erfolg) in Madrid uraufgeführt worden und das Stalin-Regime unterliess es natürlich nicht, die Komposition propagandistisch auszuschlachten und sah darin ein Beispiel für einen Komponisten, der zur “Einsicht” gelangt war und sich nun (nach seinen wilden Jahren) dem Ideal des sozialistischen Realismus zugewandt habe, welcher Einfachheit und Volksnähe einforderte.

Dmitri Schostakowitschs (1906-1975) sechste Sinfonie hat eine etwas unübliche Form: Sie besteht nur aus drei Sätzen, wobei der langsame Satz den Kopfsatz bildet, ein langes Largo. Darauf folgen zwei kürzere Sätze, ein Allegro und das finale Presto, ein überschäumender Galopp im Musikhallen Stil. Ursprünglich wollte Schostakowitsch eine „Lenin“ - Sinfonie für Solisten und Chor schreiben, liess jedoch davon ab, da die Gedichtvorlage seines Erachtens unvertonbar war. Es entstand dann diese rein orchestrale Sinfonie, der Schostakowitsch kein „Programm“ unterlegte und nur von der darin enthaltenen Nachdenklichkeit und Lyrik sprach, die um Frühling, Freude und Jugend kreise.

Karten

 

 

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