Zürich, Tonhalle: HOSOKAWA | SUK, 29.06.2023
Toshio Hosokawa: Umarmung - Licht und Schatten, für Orgel und Orchester | Uraufführung: 27. April 2017 in Bamberg, mit Christian Schmitt an der Orgel unter der Leitung von Jakub Hrůša | Josef Suk: Sinfonie Nr. 2 c-Moll op. 27 «Asrael» | Uraufführung: 3. Februar 1907 in Prag | Dieses Konzert in der Tonhalle Zürich 29. und 30. Juni 2023
Kritik:
Dieser Abend geriet zu einem Konzerterlebnis, das seinesgleichen sucht. Persönlich war ich noch selten dermassen ergriffen von einer Sinfonie, wie dieser 2. Sinfonie von Josef Suk, die er mit ASRAEL, dem Todesengel, übertitelte. Mit Jakub Hrůša (dem designierten Musikdirektor des Royal Opera Hous Covent Garden und Chefirigenten der Bamberger Symphoniker) am Pult des Tonhalle-Orchesters Zürich übernahm ein Landsmann Suks die Leitung des Konzerts, und man spürte sofort, dass dem auswendig dirigierenden Maestro diese Musik eine Herzensangelgenheit war. Mit jedem Schlag, jeder Geste "lebte" er dieses wundervolle Werk, übertrug seine Liebe und Achtung vor dem Meisterwerk zuerst auf das in Hochform aufspielende und in einer Riesenbesetzung angetretene Tonhalle-Orchester und letztlich auch aufs Publikum, das mit konzentrierter Ergriffenheit den schmerzerfüllten Klängen lauschte. Erstaunlich ist, dass diese Sinfonie aus der Spätromantik zum ersten Mal in der Tonhalle aufgeführt wurde - lange hat man darauf warten müssen, doch das Warten hat sich mehr als gelohnt. Mit zwei Paukenschlägen setzte die Musik ein, das das gesamte Werk durchziehende Trauermotiv erklang zuerst in den Bratschen und den Celli, breitete sich wuchtig und schmerzensreich aus. Aufflammende, glutvolle Phrasen steigerten sich zu regelrechten Klangexplosionen (die neu renovierte Tonhalle hielt sie problemlos aus!), Pauken und Becken knallten die Schicksalschläge rein, alles kulminierte, bevor der Kopfsatz in Trauer verklang. Der zweite Satz, ein Andante, setzte sehr fein an, Jakub Hrůša achtete auf grösstmögliche klangliche Transparenz. Sehrend stieg eine trauriges Motiv der Streicher auf, das die wunderbar fein gespielte Flöte übernahm. Perfekt begleiteten die Streicher mit ihren Pizzicati. Auch im Vivace des dritten Satzes brillierte die Flöte, gefolgt von wuchtigen klanglichgen Verästelungen. Die Solovioline des Konzertmeisters Klaidi Sahatçi intonierte Phrasen von wärmendem Charakter, nie süsslich, aber von Seele erfüllt. Leidenschaftliche Emphase, entsetztes Aufbegehren und eine schicksalsergebene Unentrinnbarkeit prägten den Satz. Applaus wollte aufbranden, doch Hrůša legte bloss eine längere Pause ein, weil Suk in den letzten beiden Sätzen seiner viel zu jung verstorben Frau gedachte. Im ersten Adagio, geprägt von herzzerreissenden Klagen, war man ebenfalls mit bewegenden Einwürfen der Solovioline konfrontiert (auch Suk selbst war ja ein begnadeter Geigenspieler gewesen) und herrlichen Kantilenen des von Paul Handschke so wunderbar ergreifend gepielten Solocellos. Erneut riefen gewaltige Schläge der Pauke zum Finalsatz, ebenfalls einem Adagio (maestoso). Hier spürte man sehr klar die Schmerzen, unter denen Suk bei der Komposition gelitten haben musste, aber auch die Katharsis im Meisterwerk, das durch diese Trauerarbeit entstanden war. Choralartige Passagen des (exzellent spielenden Blechs) brachten keine Ruhe in den Satz, immer wieder griff das Orchester mit scharfer Erregtheit ein, der Geist in Aufruhr. Erst ganz am Ende kam es zu einer celestialen Ruhe und Schönheit und Sanftheit. Die Trauer und der Schmerz waren sublimiert, das übermenschliche Leid durch den Tod zweier geliebter Menschen - des hoch geachteten Schwiegervaters Antonin Dvořák und dessen Tochter und Suks Ehefrau Otilie. Erst nach mehr als einer Minute der absoluten Stille und Ergriffenheit brandete der Jubel des Publikums auf. Es sind genau solche Momente, die man eben nur live im Konzertsaal erleben kann!
Vor der Pause kam man in den Genuss einer "Orgelsinfonie" des Japaners Toshio Hosokawa, welcher den diesjährigen Creative Chair bei der Tonhalle Zürich innehat. Auch dieses Werk, das als Schweizer Erstaufführung erklang, verlangt eine Riesenbesetzung. Dazu kommt noch das Klangerlebnis der Orgel, für welche man den Organisten Chritian Schmitt verpflichten konnte, der einerseits bereits das ihm gewidmete Werk in Bamberg uraufgeführt hatte, andererseits auch als Berater für die neue Orgel in der Tonhalle tätig war. Um es gleich vorneweg zu sagen: Vor dem Werk Hosokawas muss man sich nicht fürchten, das ist zeitgenössische Musik die man sich ohne physischen Schmerz zu empfinden anhören kann. Mystische Kläge zu Beginn, mit der Orgel als Impulsgeberin, Musik, die regelrecht einfährt, neue Welten und interessante Klangerfahrungen eröffnet, ein Orchester, dass gewaltige Arpeggien spielt, Höllenschlunde öffnet, aus denen Klangmassen strömen, gegen den "Kirchenklang" der Orgel erfolgreich ankämpft. Yin und Yang eben. Manchmal hat man das Gefühl, sich auf einem psychedelischen Trip zu befinden, von Seiten der Orgel viel Licht und herrliche Klangfarben, im Orchester oft Wiederholungen von Themen und Rhythmen, was das Hören und Eintauchen in die Musik extrem vereinfacht. Am Ende verhallten beide Stimmen, die des Orchesters und die der Orgel im Nirgendwo der verhaltenen Zärtlichkeit, einer innigen Umarmung, die dem Werk den Namen gab.
Mit der Zugabe eines Stücks für die Orgel von Max Reger (schade, dass man in den Sinfoniekonzerten kaum mehr Musik von ihm hört) hatte Christian Schmitt die Zuhörer*innen im leider nicht restlos ausverkauften Saal definitiv für sich gewonnen: Was für ein unglaubliches Crescendo zu überwältigender Erhabenheit ist darin angelegt, gekrönt von euphorisierenden Beckenschlägen. WOW!
Fazit: Zutiefst erschütternd, aufwühlend und bewegend! Unbedingt hingehen, es gibt noch ausreichend Karten für heute Abend.
Werke:
Der 1955 geborene Komponist Toshiro Hosokawa ist der diesjährige Inhaber des Creativ Chair beim Tonhalle-Orchester Zürich. In seinem umfangreichen Werk sucht er immer wieder die Gegenüberstellung und Verschmelzung westlicher kultureller Einflüsse mit der reichhaltigen Kultur seines Geburtslandes Japan. In der japanischen Kultur ist der Fluss Chi der Ursprung des Lebens. Yin und Yang sind zwei Erscheinungsformen dieses Flusses, Durch ihre Interaktionen werde alles belebt, sagt Hosokawa. So auch in seinem dem Organisten Christian Schmitt gewidmeten Werk UMARMUNG. Hoskawa beschreibt im Programmheft seine Konzeption folgendermassen: "Zwei hohe und tiefe Melodien in der Orgel versinnbildlichen das Zusammenwirkenvon Yin und Yang. Ich stellte mir vor, wie sie in die verschiedenen Orchesterinstrumente hineinfließen. Das Orchester (Natur und Universum) nimmt die Resonanzen der Orgel (menschlicher Gesang) auf. Es gibt einen Moment der Auflösung, dann verschmelzen Orchester und Orgel miteinander. Ich sehe dies als Metapher für eine Umarmung zweier Menschen, daher der Titel des Werks."
Josef Suk (1874 - 1935) lernte als Kompositionsschüler Antonín Dvořáks dessen Tochter Otilie kennen. Nach der Rückkehr der Dvořáks aus den USA heiratete er sie. Sein Verhältnis zu seinem Schwiegervater war sehr eng. So traf ihn denn auch der Tod des grossen Komponisten ausgesprochen hart. Um ihm auch musikalisch ehrend zu gedenken, entwarf er eine Sinfonie, gedacht als eine Art Requiem für Antonín Dvořák, unter der Verwendung von Motiven aus Dvořáks Schaffen. Doch nach drei vollendeten Sätzen starb seine Gemahlin Otilie im Alter von nur 27 Jahren an einer Herzkrankheit. Suk komponierte in seiner Trauer noch zwei weitere Sätze und überschrieb die Sinfonie mit dem Titel Dem teuren Andenken Antonín Dvořáks und seiner Tochter, meiner Gattin Otilie. Zudem gab er der Sinfonie den Namen des Todesengels aus der islamischen und Jüdischen Tradition: ASRAEL, der die Toten auf seinen Schwingen ins Paradies führt. ASRAEL ist nicht nur ein Werk des immensen Schmerzes, es zeigt auch wie ein Mensch den Schmerz mittels einer Katharsis überwinden und zu neuer Kraft gelangen kann. Diese bei uns viel zu wenig bekannt Sinfonie ist den schmerzensreichen Werken z.B. eines Gustav Mahler durchaus ebenbürtig!