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Zürich, Tonhalle: FRANCESCO PIEMONTESI, Klavierrezital; 27.11.2023

Erstellt von Kaspar Sannemann | | Schubert

Applausbilder, 27.11.2023: K. Sannemann

Der Tessiner Weltklasse-Pianist spielt DEBUSSY, RACHMANINOW und SCHUBERT

Claude Debussy: Aus Préludes, Heft II «Brouillards»,«Feuilles mortes»,«Les fées sont d'exquises danseuses»,«Général Lavine - eccentric», «La terrasse des audiences du clair de lune», «Feu d'artifice» | Uraufführung: 1913 in London | Sergej Rachmaninow: Klaviersonate Nr. 2 b-Moll, op. 36 | Uraufführung: 18. Oktober 1913 in Kursk | Franz Schubert: Klaviersonate Nr. 21 in B-Dur, D960 | Die Sonate entstand 1828, Schubert spielte sie noch selbst im Freundeskreis, sie wurde aber erst 1838/39 (also 10 Jahre nach Schuberts Tod) gedruckt und veröffentlicht.

Kritik: 

FEUERWERK

Feu d'artifice nannte Debussy sein letztes der 24 Préludes - und Francesco Piemontesi zündete damit am Ende des ersten Blocks seines Klavierrezitals gestern Abend in der Tonhalle Zürich wahrhaftig fingerakrobatische Raketen - Raketen allerdings, die nie knallten, sondern einen bezaubernden, fast magisch irrlichternden Glanz verbreiteten. Über tremolierenden und trillernden Begleitfiguren liess er Funken und Lichtblitze sprühen, bevor die Klänge zauberhaft verglommen. Mit sanften, leicht verschatteten Klängen stieg er in Brouillards ein, reizte die verschroben-zarten klanglichen Reibungen in Feuilles mortes mit dezentem Pianospiel aus, evozierte mit flirrenden Zweiundreissigsteln das Feenreich in Les fées sont d'exquises danseuses, wo er die Tasten zu streicheln schien und damit Debussys Aussage gerecht wurde, der einmal seinen Schülern sagte, dass dies so zu spielen sei, wie wenn der Flügel keine Hämmer hätte. Im Prélude Général Lavine - eccentric akzentuierte Francesco Piemontesi mit Witz den Catwalk-Rhythmus, diesen Vorläufer des Ragtime, legte viel tänzerischen Schwung in die Interpretation und rief damit ein kurzes Schmunzeln im Publikum hervor. Doch sogleich driftete er mit La terrasse des audiences du clair de lune wieder in entrücktere Gefilde ab, in denen zarte Tanzrhythmen nur ganz entfernt hereinwehten. Am Ende des ersten Teils folgte dann das bereits erwähnte, virtuose Feuerwerk, mit den unglaublich präzise gespielten Zweiundreissigsteln-Triolen, den rasanten Passagen in Vierundsechzigsteln und den effektvollen Glissandi.

ENTRÜCKUNG MITTEN IM TASTENGEWITTER

Obwohl die erste Fassung von Rachmaninows 2. Klaviersonate praktisch gleichzeitig mit Debussys Préludes entstanden war, ist sie von gänzlich anderem Charakter. Rachmaninow richtete mit gewohnt grosser Kelle an; das ist kein zart gefärbter Impressionismus wie bei Debussy, sondern absolute Musik von allerhöchster Virtuosität. Allerdings enthält auch Rachmaninows fulminantes Werk Passagen, die völlig verinnerlicht sind, und gerade die arbeitete Francesco Piemontesi mit berückender Feinfühligkeit heraus. Die Melancholie des zweiten Satzes war von nachdenklicher, nostalgischer Empfindsamkeit geprägt, steigerte sich kurz zu befreiterer, entspannterer Emphase, um dann wieder in klangschöner Innigkeit zu versinken. Trotz aller stupender Akkordkaskaden und vertrackter Passagen wirkte Piemontesis Interpretation nie exaltiert oder selbstverliebt, im Gegenteil, er extrahierte auch in den Ecksätzen wunderschöne, zarte melodische Fragmente, um sich dann wieder mit Vehemenz und Brillanz in rasante Passagen zu stürzen, die sich trotz aller Schwierigkeiten immer "leicht" und selbstverständlich anhörten. Ohne Fehlgriffe oder Verwaschungen des Klangs warf er sich in dieses Tastengewitter und führte es dem schlichten Wahnsinn am Ende des Finalsatzes entgegen. 

REFLEXIONEN

Nach der Pause folgte dann mit Schuberts letzter, kurz vor seinem frühen Tod komponierten Klaviersonate eines der schönsten und innigsten Werke der Klavierliteratur des 19. Jahrhunderts. Francesco Piemontesi blieb dieser gewaltigen Komposition nichts an tiefgehender Empfindsamkeit schuldig, gestaltete sie ganz aus reflektivem Weltschmerz heraus, setzte feine Rubati ein, um mit Verzögerungen von Sekundenbruchteilen in der Melodie dieses Leiden in Schönheit nicht zur Süsslichkeit zu verklären. In der Durchführung des ersten Satzes fand er zu aufwühlenden, dramatischen Ausbrüchen, blieb dabei aber immer in stilgetreuer dynamischer Bandbreite. Mit beinahe unhörbarer Delikatesse stupste Piemontesi die feinen Staccati-Noten in der zarten, melancholischen Melodik des langsamen zweiten Satzes an und wurde dem Charakter dieses sanft vorbeischwebenden Satzes wunderbar gerecht. Nach diesen beiden nach innen gerichteten Sätzen bildeten der dritte und der vierte Satz einen lebhaften Kontrast: Das leichtfüssig vorgetragene Scherzo mit seinem lüpfigen Dreivierteltakt (und dem kurzen Trio in Moll) huschte beschwingt vorbei. Im ausgedehnten Rondo des Finalsatzes wurden neben dem fröhlich trällernden A-Teil, dem Refrain, in den Gestaltungsteilen B, C, ... immer wieder die von Piemontesi mit dramatischer Akzentuierung herausgearbeiteten Reflexionen hörbar. 

Das Publikum im fast voll besetzten Grossen Saal der Tonhalle Zürich spendete dem Pianisten grossen Applaus, für den er sich mit zwei Zugaben bedankte: Mit Schubert (dem Schluss aus DREI KLAVIERSTÜCKE D946) und mit Debussys CLAIR DE LUNE schlug er einen wunderbaren Bogen vom Ende zum Beginn des Rezitals zurück. 

Werke:

Claude Debussy (1862-1918) komponierte zwischen 1910 und 1913 zwei Zyklen mit je zwölf Préludes. Mit diesen Kompositionen knüpfte er eher an die freier ausgelegte Tradition der Préludes französischer Komponisten an (Rameau, Couperin) als an die Linie, die sich von Bach zu Chopin bewegte. Die 24 Préludes Debussys stehen quasi exemplarisch für sein Verständnis des Impressionismus: Freie, poetische Gestaltung, ohne festgefügte formale, tonartliche oder rhythmische Korsetts. Damit öffnet Debussy poetische Gedankenräume - die "Titel" setzte er erst zu den Nachklängen am Ende der einzelnen Stücke, sie sollen das Gehörte eine Art wie bestätigen. "Nicht die Farbe, sondern die klangliche Konstruktion, die Melodik und die Rhythmik bestimmen ihre Gestalt", schreibt Heinrich Strobel in seiner Debussy-Biografie. Gesamtaufführungen aller 24 Préludes sind eher selten (und oftmals "Kassengift"). Einzelne dieser wunderbaren Stücke in ein Rezital zu integrieren wird hingegen sehr oft gemacht, das hat schon der Komponist selbst in seinen Konzerten so gehalten.

Sergej Rachmaninow (1873-1943) komponierte wesentliche Teile seiner zweiten Klaviersonate in Rom, nach der Vollendung seines dritten Klavierkonzerts. Verschiedentlich wurde sie etwas abschätzig als nie endenwollende Kadenz betitelt. Natürlich ist sie ein Stück, das mit seinen immensen Schwierigkeiten nur von technisch hochklassigen Tasten-Virtuosen bewältigt werden kann. Wenn man jedoch etwas tiefer bohrt, entdeckt man, dass die Themen eigentlich in den ersten 10 Sekunden des Kopfsatzes verdichtet angelegt sind. Die Verarbeitung dieses Ausgangsmaterials ist schlicht stupend. Was Rachmaninow da an Verformungen und Verwandlungen des Themas konzipiert hat, ist unglaublich. In allen drei Sätzen seiner Sonate verwendet Rachmaninow thematisches Material aus dem Kopfsatz.

Rachmaninow überarbeitete die Sonate 1931. Vladimir Horowitz erstellte 1940 eine Mischform aus beiden Versionen (mit dem Einverständnis des Komponisten).

Franz Schubert (1797-1828) schuf seine letzten drei Klaviersonaten wenige Wochen vor seinem Tod. Die Sonate in B-Dur war eine seiner letzten Kompositionen, quasi sein Schwanengesang im Bereich der Instrumentalmusik. Lange Zeit wurden Schuberts Klaviersonaten etwas abschätzig behandelt, man fand sie bloss "hübsch", sprach ihnen aber die Tiefe der Beethovenschen Sonaten ab. Diese Urteil herrschte bis weit ins 20. Jahrhundert vor. Doch ab den 1950er Jahren nahmen sich vermehrt alle grossen Pianisten der letzten drei Sonaten Schuberts an, öffneten dem Publikum die Ohren für diese grossartigen Meisterwerke. Gerade die letzte dieser Sonaten, D 960, ist eines der bewegendsten Werke, die je für Klavier geschrieben wurden: Wie Schubert hier ausgehend von einem schlichten, sanften Thema Kontraste und Spannungen aufbaut, einen 20minütigen Kopfsatz mit kontrastreichem Material voller Uberraschungen füllt, ist meisterhaft. Da muss er sich hinter keinem anderen Komonisten verstecken. Auch die Entwicklung des Andantes ist faszinierend: Aus einem beinahe zögerlichen Beginn entwickelt sich in einer traumhaften Attitüde nach und nach leicht melancholische Fröhlichkeit. Die aber schlägt schon bald wieder um in den langsamen, traurigen Tanzrhythmus. Spritzig kommt das Scherzo daher, erfährt im Trio leichte Eintrübungen, erinnert an die vorangehenden Sätze. Mit "falschen" Tonarten wartet das Finale auf, bis die dramatische Wirkung einsetzt, wo Schubert gekonnt das Wechselspiel beider Hände einsetzt. Stauung und Fliessen wechseln sich ab - bis sich die aufgestaute Energie im Presto entlädt. Einer der letzten Tagebucheinträge Schuberts lautete: "Der Schmerz schärft die Phantasie und stärkt den Geist." Wenige Wochen nach der Vollendung dieser Klaviersonate erlag Schubert seiner unheilbaren Krankheit, er wurde nicht einmal 32 Jahre alt.

Eigentlich wollte Schubert diese Sonate Johann Nepomuk Hummel widmen, doch da Hummel bei der Drucklegung 10 Jahre später bereits gestorben war, entschloss sich der Verleger, Anton Diabelli, die Sonaten dem jungen Robert Schumann zu widmen. Der allerdings zeigte sich in seiner Besprechung dieser Sonate in der Neuen Zeitschrift für Musik "ziemlich enttäuscht". Ganz im Gegensatz zu Johannes Brahms, der sie eingehend studierte.

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