Zürich, Tonhalle: FAURÉ | POULENC, 07.03.2024
Gabriel Faurés Requiem mit der Zürcher Sing-Akademie und dem Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Paavo Järvi
Werke:
Gabriel Fauré: «Super flumina Babylonis» (Psalm 136) | entstanden 1863 | Francis Poulenc: Francis Poulenc Orgelkonzert g-Moll | Uraufführung: 21. Juni 1939 in Paris | Gabriel Fauré: REQUIEM op. 48 | Uraufführung: 16. Januar 1888 in Paris (erste Fassung), 12. Juli 1900 (zweite Fassung) | Dieses Konzert in Zürich: 6.3. | 7.3. | 8.3.2024
Kritik:
PIE JESU
Da der französiche Fin-de-siècle-Komponist Gabriel Fauré nur wenige gross besetzte Werke hinterlassen hat, erklingt seine harmonisch so reiche Musik leider selten in den grossen Konzertsälen. Aber selbst wenn er nur das PIE JESU (den Teil IV seines Requiems) komponiert hätte, gebührte ihm auf immer und ewig ein Platz im Komponistenhimmel. Diese nur knapp vier Minuten dauernde Bitte um Ruhe für die Toten ist von solch erlesener Schönheit, von solch überirdisch tröstlicher Wärme, dass man nicht anders kann als tief ergriffen zu sein. Und wenn dieses Pie Jesu dann noch mit solch einer wunderbaren stimmlichen stimmlichen Reinheit gesungen wird wie gestern Abend von Giulia Semenzato in der Tonhalle Zürich, ist das Glück vollkommen. Überhaupt ist Faurés MESSE DE REQUIEM ein ungemein fein ziseliertes, warmes und tröstliches Werk. Da ist nichts drin vom brutalen Stachel des Todes, von den Schrecken des Jüngsten Gerichts, das im Libera me nur ganz kurz gestreift wird. Es herrschen Wärme und Fürbitte um Totenruhe vor, auch in den beiden Soli des Baritons, welche Rodion Pogossov mit angenehmer stimmlicher Zurückhaltung und Bescheidenheit intonierte (Hostias und Libera me). Ganz wunderbar leuchteten die Stimmen der Zürcher Sing-Akademie, welche von Florian Helgath einstudiert worden war. Wie rein und erhaben stieg das Sanctus auf, himmlisch untermalt von den sanft wiegenden Phrasen der Violinen des Tonhalle-Orchesters Zürich unter Paavo Järvi, wie sanft und mit schlanker, reiner Tongebung schlangen sich die Soprane in paradiesische Gefilde hoch (In paradisum). Aufhorchen liess auch die Leichtigkeit der Männerstimmen im Agnus Dei, das geradezu verspielt klang. Das Verklingen des In paradisum war so schön gestaltet, dass man sich schon fast freudig zu Lazarus und den Engeln geleiten liess. Von Faurés REQUIEM kann man nicht genug kriegen, das ist schlicht und einfach ein Werk von überirdischer Schönheit - und gerade auch in einer solch feinfühligen Interpretation, wie gestern Abend durch das Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi, die Zürcher Sing-Akademie, die Sopranistin Giulia Semanzato und den Bariton Rodion Pogossov.
Fauré, obwohl Titularorganist in der Pariser Kirche La Madeleine, hat nur wenige geistliche Werke hinterlassen. Neben dem REQUIEM z.B. noch die Vertonung des Psalms 136, SUPER FLUMINA BABYLONIS, welcher zu Beginn des gestrigen Konzerts in der Tonhalle Zürich erklang. Dieses Werk Faurés, das er ungefähr 25 Jahre vor dem REQUIEM vollendet und als Student bei einem Kompositionswettbewerb eingereicht hatte, zeugt bereits von seiner Meisterschaft der Verschmelzung von Orchester- und Chorklang. Eindrücklich wogten die Streicher zu Beginn mit der Schilderung der Wellen des Flusses (By the Rivers of Babylon ...), klagend setzte der Chor ein. Fauré lässt den Psalm zu einer dramatischen Kantate werden, schildert darin auch übermächtig die rächenden Gewaltfantasien der unter Babylons Joch leidenden Juden - eine Aktualität, die gerade in der Jetztzeit überaus betroffen macht. Die Zürcher Sing-Akademie verlieh den dramatischen Einwürfen und den Klagegesängen auf imponierende Art differenzierendes Gewicht. Hervorzuheben sind die herausragend singenden und gestaltenden Chorsolist*innen Keiko Enomoto (Sopran), Ursina Patzen (Alt), Tiago Oliveira (Tenor) und Grégoire May (Bass).
MÖNCH UND LAUSBUBE
Die beiden geistlichen Werke Faurés rahmten das Orgelkonzert von Francis Poulenc ein. Zwar entstand es in Poulencs Zeit, als er sich nach den wilden Zwanzigerjahren und dem tragischen Tod seines Freundes wieder dem Katholizismus zugewandt hatte, doch dringt in diesem wunderbaren, vielschichtigen Konzert auch immer mal wieder der spassige Poulenc durch, gerade im letzten Teil, wo die Orgel beinahe zu einer Drehorgel auf dem Jahrmarkt wird. Somit trifft zu, was Claude Rostand einmal über Poulenc sagte: "In Poulenc wohnen zwei Seelen, die eines Mönchs und die eines Lausbuben." Neben den an Bach gemahnenden, "seriösen" Passagen, enthält das einsätzige, in sieben Abteilungen unterteilte Werk eben auch eine spritzige Leichtigkeit und viel Humor. Diese Vielschichtigkeit wurde in der Interpretation der grandiosen Organistin Iveta Apkalna auf bestechende Weise offenbar. Sie entlockte der grossen Orgel der Tonhalle sowohl wunderbar zarte Klänge als auch gewaltiges, fanfarenartiges Donnern, wie beim Jüngsten Gericht. Daneben eben auch humoriges Jahrmarktsgedudel oder dem Schönklang der Streicher widersprechendes Grummeln. Mal hüpfte die Orgel tänzerisch davon, dann wieder überliess sie den Streichern und der Pauke (!) den Lead. Der Orgelklang war stets wunderbar austriert, erdrückte nie den Klang des Streichorchesters, so dass man auch das Zitat der Streicher aus Tschaikowskis Pathétique-Sinfonie wunderbar heraushörte. Für den grossen Applaus bedankte sich Iveta Apkalna nicht nur bei der Orgel (!) sondern auch beim Publikum mit einem Showpiece der Orgelliteratur: Charles-Marie Widors Toccata aus der fünften Orgelsinfonie. WOW!!!
Den Humor Poulencs hatte man bereits beim Vorkonzert in der Kleinen Tonhalle erleben können, wo Riccardo Acciarino (Klarinette) und Or Re'em (Klavier) die atemberaubende Sonate Poulencs für Klarinette und Klavier aufführten. In der posthumen Uraufführung diese Werks, das Poulenc kurz vor seinem Tod komponiert hatte, spielten Benny Goodman (Klarinette) und Leonard Bernstein (Klavier). Doch ich glaube, Riccardo Acciarino und Or Re'em hätten sich nicht hinter den beiden verstecken müssen, denn was diese beiden jungen Männer hier boten, war vom Allerfeinsten. Mitreissend, virtuos, humorig - schlicht grandios. In diesem Vorkonzert sang auch noch Giulia Guarneri-Giovanelli, begleitet von Daniela Baumann, Poulencs drei Métamorphoses für Sopran und Klavier - auch das ein wunderbares Hörerlebnis. Daneben sprach die Dramaturgin Franziska Galusser mit dem Leiter der Zürcher Sing-Akademie, Florian Helgath, der interessante Einblicke in die Probenarbeit des Chores gab. Es folgte auch noch ein informatives Gespräch mit Dieter Utz, der lange Jahre beim Orgelbauer Kuhn AG in Männedorf in verantwortlicher Position gearbeitet hatte und deswegen mit der Orgel in der Tonhalle bestens vertraut ist. Dies Préludes der Tonhalle-Gesellschaft, welch für Konzertkarteninhaber frei zugänglich sind, kann man allen nur wärmstens empfehlen!
Werke:
Gabriel Fauré (1845-1924) schrieb seine Kantate für Chor und Orchester SUPER FLUMINA BABYLONIS als 18 Jähriger. Sie war ein Beitrag zu einem Kompositionswettbewerb und Fauré gewann damit eine Auszeichnung. Der junge Fauré vertonte dabei einen der berühmtesten Psalmen der Bibel, den Psalm 136 (nach anderer Zählweise auch 137). Der Psalm beschreibt die Sehnsucht der nach Babylon verschleppten Juden nach Jerusalem und ihrem Tempel. Ein Thema, das in der Musik oft aufgenommen wurde: Von Orlando di Lasso, Heinrich Schütz, bis zu Charpentier und Verdis NABUCCO mit dem Chor Va pensiero. Die Disco-Pop Gruppe Boney M. landete mit Rivers of Babylon 1978 einen Riesenhit.
Francis Poulenc (1899-1963) stiess als junger Komponist zur GROUPE DES SIX, einer losen Vereinigung von befreundeten Komponisten, die den Impressionismus zugunsten einer auf Einfachheit und Einbezügen von Elementen aus der Unterhaltungsmusik überwinden wollten. Zur Gruppe gehörten u.a. Athur Honegger und Darius Milhaud.
Poulencs Werke zeichnen sich durch einen anti-romantisierenden Klang aus, oft sind sich durchsetzt von leicht vulgär klingenden Passagen, die der Musik der Varietés oder des aufkommenden Jazz entlehnt scheinen. 1936, nach dem Tod seines Freundes, wandte er sich dem katholischen Glauben zu. Poulenc gilt als einer der ersten Komponisten, der sich zu seiner Homosexualität bekannte. Poulencs 1938 entstandenes Orgelkonzert zeigt die Experimentierfreude des Komponisten, wird im Titel doch neben Orgel und Streichorchester explizit die Pauke erwähnt. Mit der Orgel erweist er zwar eine Referenz ans Barockzeitlater, mit den Orgelkonzerten von Bach, Händel oder Vivaldi, doch ist bei Pulenc die Orgel mit gewaltigen, eruptiven Klangballungen klar ins Zentrum gerückt.
Gabriel Fauré (1845-1924), ein Schüler von Camille Saint-Saëns, war ein äusserst begabter Klavierspieler, Organist und gern gesehener Unterhalter in den Pariser Salons, wo er mit bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten Bekanntschaft machte. Sein musikalisches Schaffen war zwar inspiriert von der deutschen und französischen Romantik, von Berlioz bis Wagner, doch wandte er sich lieber der Kammermusik zu als den grossen Orchesterbesetzungen. Deshalb ist er auch weitaus seltener im Konzertsaal anzutreffen als beispielsweise sein 30 Jahre jüngerer Schüler Maurice Ravel. Auch das (neben der Oper PÉNÉLOPE) populärste Werk Faurés, sein REQUIEM für Sopran, Bariton, Chor und Orchester war in der ersten Fassung nur sehr dünn besetzt, nämlich mit Männer- und Knabenchor, Streichern, Harfe und Orgel. Für die zweite Fassung setzte Fauré dann zusätzlich Bläser und einen gemischten Chor ein. In Faurés REQUIEM fehlt (etwa im Gegensatz zu den Totenmessen Verdis und Berlioz') das Dies irae. Dafür fügte er am Ende das In paradisum ein. Mit seinem Requiem hat Fauré ein sanftes, von dunklen Farben geprägtes, tröstliches Werk geschaffen. Brutale, naturalistische Klänge waren Fauré fremd, ja er hasste sie geradezu. Auch wenn Fauré in seinem ganzen Leben nur das Pie Jesu komponiert hätte, wäre er mit dieser von schlichter Schönheit geprägten Melodie unsterblich geworden. Es ist ziemlich offensichtlich, dass sich Andrew Lloyd-Webber für das Pie Jesu in seinem Requiem von Fauré inspirieren liess.