Zürich, Tonhalle: BRINGUIER / WANG, 24.06.2015
Johannes Brahms: Klavierkonzert Nr.2 in B-Dur | Uraufführung: 9. November 1881 in Budapest | Johannes Brahms: Sinfonie Nr.1. in c-Moll | Uraufführung: 4. November 1876 in Karlsruhe | Aufführungen in Zürich: 24.6. | 25.6. | 26.6.2015
Kritik:
„Wer sich durch die Musik beruhigen will, der wird der Musik von Brahms anhängen; wer dagegen von der Musik gepackt werden will, der kann von jener nicht befriedigt werden.“ Dieses Zitat, das Anton Bruckner (dem grossen Antipoden Johannes Brahms’) zugeschrieben wird, wurde gestern Abend in der Tonhalle Zürich Lügen gestraft. Denn nach diesem reinen Brahms – Konzert verliess wohl kaum jemand den Saal, der nicht von dieser Musik (und der ungemein engagierten, leidenschaftlichen Ausführung) ergriffen und aufgewühlt worden wäre. Ursprünglich hätte ja Gustavo Dudamel sein Debüt auf dem Podium des Tonhalle-Orchesters Zürich geben sollen, mit einem Programm bestehend aus Werken der Spätromantik (Wagner, Strauss, Tschaikowsky). Wegen Rückenproblemen musste Dudemal leider absagen und der Chefdirigent des Orchesters, Lionel Bringuier, sprang dankenswerterweise kurzfristig für den Kollegen ein, änderte jedoch das Programm ab und brachte zwei Schlüsselwerke von Johannes Brahms zur Aufführung, nämlich dessen 2. Klavierkonzert und die erste Sinfonie. Die Pianistin Yuja Wang, Artist in Residence der auslaufenden Saison an der Tonhalle, wechselte also von Tschaikowskys b-Moll Konzert zu Brahms’ B-Dur Konzert. In einem selbstbewussten Dialogisieren machte sie von Anfang an klar, dass das Klavier in Brahms’ Komposition ein zumindest gleichwertiger Partner ist. Mit stupender Virtuosität, unfassbar wahnwitzigen Akkordkaskaden, blitzsauberen Läufen und Verzierungen brachte sie das viersätzige Werk zum Erklingen. Beinahe atemlos verfolgte man ihr zupackendes, griffiges Spiel, freute sich neben all den der Komposition inhärenten Rastlosigkeiten auch an ruhigeren Passagen, wenn der Klavierpart in ein verzücktes Murmeln übergeht oder im Andante in grosser Ruhe sich nach innen wendet, in einen intimen Zwiegesang mit dem Solocello oder den Bratschen einstimmt. Bringuier und dem Orchester gelangen die Übergänge ausgezeichnet, so zum Beispiel im zweiten, scherzoartigen Satz der Übergang ins Trio oder das witzige, sich gegenseitig anspornende Wechselspiel des punktierten Hauptmotivs zwischen Soloinstrumenten des Orchesters und Piano im Finalsatz. Wenn die Wiedergabe dieses Konzertes schon grosse Wirkung hinterliess, dann galt dies erst recht für die erste Sinfonie von Brahms, welche nach der Pause erklang. Bringuier erwies sich hier noch mehr als im ersten Teil als Dirigent mit untrüglichem Gespür für Spannungsaufbau und Effekt. Der Beginn dieser Sinfonie mit den gewaltigen Paukenschlägen allein ist ja schon eine Wucht. Bringuier setzte die erratischen Blöcke der Motive zwar zum Teil recht harsch voneinander ab, doch verlor sich die Interpretation nicht im Detail, der grosse Atem, der Bogen blieben gewahrt. Das Orchester folgte seinem Chefdirigenten mit grandioser Präzision (die Pizzicati im vierten Satz, ein Traum!) und ausgeprägter Wachsamkeit. Lionel Bringuier und das Tonhalle-Orchester Zürich nahmen die Zuhörer mit auf eine Reise durch beinahe diabolisches Gebiet, durchstreiften aber auch wunderbar warm intonierte, tröstende Streicher-Landschaften, stürzten in beinahe mystische Abgründe. Bevor alle (dynamischen) Dämme zu reissen schienen, führte die wunderbare Reminiszenz ans Berner Oberland (Alphornweise) zum erhabenen Choral, um dann in einer packenden klanglichen Verdickung dem Kulminationspunkt zuzustreben. Frenetischer Applaus folgte!
Oh ja, verehrter Herr Bruckner, man wurde von Brahms’ Musik sehr wohl gepackt.
Werke:
Johannes Brahms schrieb sein zweites Klavierkonzert in B-Dur über 20 Jahre nach seinem ersten Konzert für Klavier und Orchester (d-Moll). Das Konzert mit seinen vier Sätzen und einer Aufführungsdauer von ca. 50 Minuten gehört zu den längsten seiner Gattung und wird manchmal auch als "Sinfonie mit Klaviersolo" bezeichnet, was eigentlich nicht korrekt ist, da der Klavierpart äusserst virtuos und auch dominierend angelegt ist. Brahms selbst spielte am Klavier die Uraufführung und gastierte mit dem erfolgreichen Konzert in vielen europäischen Metropolen.
Brahms zeigt in diesem Konzert seine Meisterschaft der vielschichtigen thematischen Variation. Im dritten Satz verwendet Brahms eine Melodie, welche er später für das Lied "Immer leiser wird mein Schlummer" wieder verwendet hat und gibt sie zur Exposition dem Solocello. Der Finalsatz erinnert thematisch und in seinem Kolorit an eine ungarische Weise.
Seltsamerweise weisen die grossen Sinfoniker unter den Komponisten eine Verbundenheit durch die Anzahl ihrer zu Lebzeiten bekannt gewordenen Werke auf: Beethoven, Bruckner, Mahler und Vaughn Williams sind mit je neun Werken vertreten, Schumann und Brahms mit deren vier.
Brahms (1833-1897) hatte bereits 67 Werke veröffentlicht, als er seine erste Sinfonie endlich der Öffentlichkeit vorstellte. Da er ein äusserst selbstkritischer und ehrgeiziger Schaffer war, vernichtete er selbst viele seiner Entwürfe und Werke. So dauerte der Entstehungsprozess der ersten Sinfonie wahrscheinlich an die 16 Jahre. Dazu kam, dass das Geltungswesen der absoluten Musik und ihrer vermeintlichen formalen Enge durch Komponisten wie Liszt und Wagner zunehmend hinterfragt wurde. Die erste Sinfonie wirkt in Brahms' Opus wie eine Art Kirchenportal, die zweite fungiert als liebliches Andantino, die dritte als heiteres Scherzo und die vierte bildet das wuchtige Finale.
Clara Schumann, welcher Brahms immer wieder Entwürfe seiner Kompositionen zuschickte, war vom ersten Satz der ersten Sinfonie „betrübt und niedergeschlagen“ von dessen Schmerzlichkeit. Und tatsächlich, der Satz hat etwas Düsteres – aber in aller Melancholie auch Glanzvolles – an sich. Nach ruhigem Beginn entdeckt man im zweiten Satz etwas störend Bohrendes, oft hinter lieblichen Melodien der Holzbläser versteckt. Mehr Heiterkeit kommt im dritten Satz auf und den vierten hat Brahms selbst mit den Worten „Hoch auf'm Berge, tief im Tal, grüss' ich dich viel tausendmal“ an Clara Schumann gesandt. Es ist ein Satz voller Erhabenheit und Frische, Moll wendet sich zu Dur, Düsternis zu Jubel. Dieses Finale weist unverschleierte Parallelen zu Beethovens neunter Sinfonie auf.