Zürich, Tonhalle: BOULANGER, ELGAR, SAINT-SAËNS; 29.05.2025
Das Akademische Orchester Zürich spielt unter der Leitung von Lukas Meister Werke von Lili Boulanger, Sir Edward Elgar und Camille Saint-Saëns
Lili Boulanger: D’un matin de printemps | Uraufführung: 13. März 1921 in Paris (Orchesterfassung) | Sir Edward Elgar: Konzert für Violoncello und Orchester in e-Moll, op. 85 | Uraufführung: 27.Oktober 1919 in London | Camille Saint-Saëns: Sinfonie Nr. 3 in c-Moll, op.78 | Uraufführung: 19. Mai 1886 in London
Kritik:
In der berühmtesten und letzten seiner Sinfonien hat Camille Saint-Saëns den Einsatz der Orgel effektvoll hinausgezögert: Erst nach 350 Takten legt sie ein sattes, aber fein gewobenes Klangfundament für das Adagio aus, bevor sie dann im zweiten Teil mit wuchtigen Akkorden das Maestoso einleitet und das Tutti ins überwältigende Finale dieser Ausnahmesinfonie führt. Die Organistin Mirjam Wagner und das fantastisch disponierte Akademische Orchester Zürich unter der magistralen Leitung von Lukas Meister blieben diesem gewaltigen Werk von Saint-Saëns nichts an differenziert ausgestalteter Wirkung schuldig, das war schlicht hinreissend musiziert. Von der langsamen, von Oboe und Flöte wunderschön ausgestalteten Introduktion über den an Schumanns „Rheinische“ gemahnenden, jubelnden Allegro moderato Teil, mit den plastisch herausgearbeiteten diversen musikalischen Motiven, die klar artikuliert und nie zu lärmig oder zu massig gespielt wurden, spannte sich der Bogen zum beseelten Adagio mit dem erwähnten Einsatz der Orgel, mit den sich über das Orgelfundament celestial erhebenden Violinen, führte weiter zum hervorragend akzentuierten, diabolischen Scherzo und mündete schliesslich ins majestätisch-grandiose Finale, mit einer sich hochschraubenden klanglichen Ekstase. Der verdiente Jubel des Publikums kannte kaum Grenzen, das Orchester und die Organistin bedankten sich (und beschenkten das Publikum) mit einer unglaublichen Zugabe: Saint-Saëns' überwältigende Komposition CYPRÈS ET LAURIERS (zur Feier des Endes des Ersten Weltkriegs 1919 komponiert und am 11. Juli 1919 in Ostende uraufgeführt). Daraus spielten das Akademische Orchester Zürich und Mirjam Wagner an der Orgel den zweiten Teil, LAURIERS (der erste Teil CYPRÈS wäre für Orgel solo). Dieses mit Triolen-Fanfaren der Trompeten und berauschenden, choralartigen Orgelklängen gespickte Werk mit der virtuosen Orchestrierungskunst von Saint-Saëns gewürzt, bildete einen erhebenden und begeisternden Abschluss eines grandiosen Konzerterlebnisses.
Das klug zusammengestellte Programm aus Werken der Spätromantik, die innerhalb von drei Jahrzehnten entstanden waren, begann mit der flirrenden Komposition D'UN MATIN DE PRINTEMPS der viel zu früh verstorbenen Lili Boulanger. Quasi auf ihrem Sterbebett komponiert, evoziert das scherzoartige Nocturne mit seiner glanzvollen Orchestration einen leicht melancholisch-impressionistisch angehauchten Tanz, mit federndem Duktus und bestechender klanglicher Transparenz dargeboten vom Akademischen Orchester unter der Leitung von Lukas Meister, der den leicht verschatteten, tänzerischen Charakter des kurzen Stücks mit wunderbarer Tranparenz klar herauszuarbeiten vermochte.
Quasi zur gleichen Zeit wie Lili Boulanger ihre Komposition orchestrierte, war Edward Elgar mit seinem Cellokonzert beschäftigt. Elgar befand sich nach seinen riesigen Erfolgen mit den Enigma-Variationen, den Pomp an Circumstance Märschen, den beiden Sinfonien, den Tondichtungen und anderen populären Werken nach dem Ersten Weltkrieg in eher verhaltener, düsterer Stimmung. Dies merkt man seinem Cello-Konzert an. Nur selten, dafür umso stärker einfahrend, blüht der schwelgerisch-spätromantische „Elgar-Klang“ auf. Mancherorts wirkt das Konzert suchend um um Entfaltung des thematischen Materials ringend. Die junge Westschweizer Cellistin Camille Thévoz (sie wird ab September Mitglied der Cello-Gruppe der Philharmonia Zürich – dann wieder Orchester der Oper Zürich genannt – und des Orchestra La Scintilla der Oper Zürich) gestaltete mit wunderschöner und überaus warmer Tongebung dieses Ringen ums thematische Material, liess ihr Instrument mit einnehmendem Klang und herausragendem Piano-Spiel singen. Das berühmt gewordene Hauptthema des ersten Satzes, welches zuerst von den zweiten Violinen angestimmt und von der Cello-Gruppe weitergetragen wird, kommt erst dann zum Solo-Cello und erst nachdem die ersten Violinen das Thema sanft und tröstend aufgenommen haben, erklingt es herrlich aufschwingend im Orchestertutti. Diese grandiose Emphase wird vom Orchester mit direkt zu Herzen gehender Sensibilität intoniert, ohne je sentimental überladen zu werden. Dafür sorgt allein schon der zerklüftete Charakter des Endes des Kopfsatzes. Dieses Suchende setzt sich im zweiten Satz fort, wo Camille Thévoz mit brillant gespielten Läufen den Beistand des Orchesters sucht – und schliesslich findet. Im romanzenartigen Adagio schimmert viel Wärme, aber auch tief empfundene Trauer auf, welche das Orchester mit einer einer wilden Introduktion des Themas des vierten Satzes zu vertreiben versucht. Aber das Solocello mahnt stets zur Reflexion. Erst nach einer kurzen, virtuos gespielten Kadenz bricht kurz mal eine Jubelstimmung durch. Aber auch sie ist von kurzer Dauer; Abschiedsschmerz scheint zu überwiegen, Motive der vorangegangen Sätze werden brüchig miteinander verwoben, bevor das eindringliche Konzert mit dem weiterhin nach Erfüllung suchenden, klagenden Cello und drei Akkordschlägen des Orchesters abrupt schliesst. Dem Akademischen Orchester Zürich mit seinen jungen, mit Elan und Enthusiasmus und fantastischer Musikalität spielenden Musiker*innen, der Cellistin Camille Thévoz und dem Dirigenten Lukas Meister ist eine tief empfundene Interpretation diese beim ersten Anhören etwas sperrig daherkommenden Cellokonzerts aus Elgars Feder gelungen! Doch je öfter man sich in diese Musik vertieft, desto lieber gewinnt man sie!
Werke:
Die französische Komponistin Lili Boulanger (1893-1918) stammte aus einer Musikerfamilie: Ihre Mutter war Sängerin, der Vater Komponist und ihre ältere Schweseter Nadia ebenfalls Komponistin, Dirigentin und Musikpädagogin. Lili Boulanger litt seit der Kindheit an einer chronischen Bronchialpneumonie und an Morbus Crohn. Ihre ausserordentliche musikalische Begabung wurde ganz früh offenbar. Obwohl sie aus gesundheitlichen Gründen das Conservatoire nur sporadisch besuchen konnte, erreichte sie erstaunliche Fähigkeiten, gab Konzerte und beschloss bald, selbst zu komponieren (studiert hatte sie u.a. bei Gabriel Fauré). 1914 gewann sie den renommierten PRIX DE ROME, als erste Frau im Bereich Musik (Preisträger waren bisher u.a. Berlioz, Bizet, Debussy, Charpentier, Gounod und Massenet gewesen). Den damit verbundenen Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom konnte sie nur kurz geniessen - einerseits, weil sie ein Jahr davor schwer an Masern erkrankt war, und dann setzte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs dem Studienaufenthalt in Rom ein jähes Ende. Lili Boulanger starb im Alter von nur 24 Jahren an ihren diversen Krankheiten. Kurz vor ihrem Tod konnte sie noch quasi ihr eigenes Requiem vollenden: Das Pie Jesu wurde zu einer ihrer brühmtesten und ergreifendsten Kompositionen. Ihre Schwester Nadia hatte Lili in den letzten Tagen hingebungsvoll gepflegt. Für die Beerdigung komponierte Nadia ein Lux aeterna und setzte sich zeitlebens für die - leider viel zu wenigen - Werke ihrer jüngeren Schwester ein. Nadia Boulanger starb 1976 im Alter von 91 Jahren als hochangesehene Musikpädagogin.
Das Nocturne D'un matin de printemps entstand 1917, zuerst als Kammermusikstück für Violine und Klavier, später adaptiert als Trio für Violine, Cello und Klavier und als Duo für Flöte und Violine. 1918 erstellte Lili Boulanger noch eine Fassung für Orchester, es wurde ihr letztes Orchesterwerk vor ihrem frühen Tod. Nichtsdestotrotz evoziert das knapp fünf Minuten dauernde Werk eine luftige, tänzerische und leicht melancholisch angehauchte Fröhlichkeit.
Edward Elgars (1857-1934) Cellokonzert stellt quasi seinen „Schwanengesang“ dar, es ist das letzte grössere Werk aus der Feder des Briten. Kurze Zeit nach der Uraufführung verstarb auch noch Elgars geliebte Frau Alice. Entstanden ist das Cellokonzert während der Nachwehen des Ersten Weltkriegs 1919. Zuvor hatte sich Elgar auch einer schmerzvollen Mandeloperation unterziehen müssen. Als er aus der Narkose aufwachte, bat er um Papier und Stift und notierte eine Melodie. Sie sollte später als erstes Thema in seinem Cellokonzert auftauchen. Das Werk hat einen elegischen, beinahe grüblerischen Grundton, der „herbstlich“ anmutet – ein letztes Aufschimmern einer Epoche symbolisiert, die nach dem Krieg für immer zu Ende war. Und mit dem Untergang dieser Epoche war auch ihr musikalischer Vertreter, Edward Elgar, nicht mehr so gefragt. Hinzu kam, dass die Uraufführung ein Desaster war (der Dirigent Albert Coates nahm fast die gesamte zur Verfügung ‘stehende Probezeit für sich. Skrjabins LE POÈME DE L’EXTASE und Wagners WALDWEBEN in Anspruch, so dass für Elgar und sein Cellokonzert praktisch keine Zeit mehr blieb und Elgar nur aus Rücksicht auf den Solisten das Werk nicht zurückzog). Nichtsdestotrotz setzte sich dieses wunderbare Konzert schnell durch. Elgar selbst nahm es zusammen mit der Solistin Beatrice Harrison schon 1920 auf Schallplatte auf. Mittlerweile gehört es zum Standardrepertoire aller grossen Cellistinnen und Cellisten. Legendär wurden die Aufnahmen mit Jacqueline du Pré (Barbirolli und Barenboim) oder mit Julian Lloyd Webber (unter der Leitung von Yehudi Menhuin). Aber auch Casals, Tortellier, Yo-Yo Ma, Sol Gabetta und viele andere mehr spielten das Werk ein.
Oft geht etwas vergessen, dass Charles Camille Saint-Saëns (1835-1921) nicht nur der Schöpfer des Carnaval des animaux und der Oper SAMSON ET DALILA war, sondern ein reichhaltiges Œuvre an Kammer- und Orchestermusik hinterlassen hat: Fünf Klavierkonzerte, mindestens drei Sinfonien, drei Celllokonzerte, mehrere Opern und geistliche Musik gehören dazu.
Seine letzte Sinfonie, die Franz Liszt gewidmet ist, trägt auch den Titel “Orgelsinfonie”, der allerdings nicht vom Komponisten stammt. Gemäss der Musiklehre von Berlioz war der Klang der Orgel nicht in den Klang des Orchesters integrierbar. Dieser These setzte sich der Organist von Saint-Sulpice, Charles-Marie Widor, entgegen. Saint-Saëns, der lange Jahre neben seiner Tätigkeit als Komponist und Lehrer auch Organist an der Madelaine-Kirche in Paris gewesen war, kannte das Instrument und dessen Möglichkeiten selbstredend ausgezeichnet und bewies mit seiner 3. Sinfonie sehr wohl, dass sich der Orgelklang nicht nur ins Orchester integrieren lässt, sondern die gesamte Stimmung unheimlich zu bereichern imstande ist. Die Sinfonie entstand als Auftragskomposition für die Londoner Philharmonic Society. Saint-Saëns schrieb an deren honorary secretary Francesco Berger: „Die Arbeit an der Symphonie ist in vollem Gange. Aber ich warne Sie: Es wird ungeheuerlich. […] Glücklicherweise gibt es keine Harfen. Unglücklicherweise wird sie schwer sein. Ich tue was ich kann, um die Schwierigkeiten abzumildern. […] Diese verteufelte Symphonie ist einen Halbton nach oben gerutscht; sie wollte nicht in h-Moll bleiben und steht jetzt in c-Moll. Es wird mir ein Fest sein, diese Symphonie zu dirigieren. Ob es für die anderen ein Fest sein wird, sie zu hören? That is the question. Sie haben es so gewollt, ich wasche meine Hände in Unschuld.“