Zürich: SALE, ein Musiktheaterprojekt, 04.11.2012
Musik: Georg Friedrich Händel | Projekt von Christoph Marthaler | Uraufführung: 4. November 2012 in Zürich | Weitere Aufführungen in Zürich: 7.11. | 9.11. | 14.11. | 18.11. | 20.11. | 22.11. | 25.11. 27.11.2012
Kritik:
Wer die Arbeiten von Christoph Marthaler und Anna Viebrock (Bühnenbild, Kostüme) schon bislang zu schätzen und zu geniessen (!) wusste und die Bereitschaft aufbringt, sich auf diese spezielle Art von Langsamkeit einzulassen, wird auch bei SALE voll auf seine Kosten kommen und einen Abend voller Subtilitäten, (musikalischen und szenischen!) feinem und manchmal auch schwarzem Humor erleben dürfen.
Anna Viebrock stellt eine Etage eines Kaufhauses auf die Bühne, dessen Architektur von einer grossen Vergangenheit zeugt, dessen Einrichtung aber schon sehr ramponiert wirkt und dessen Sortiment nun nur noch Billigwaren enthält, die nun geplündert werden von all den unwillkommenen Schnäppchenjägern, welche die Eigentümerdynastie nur mit Widerwillen hereinlässt. Die Totalliquidation steht unmittelbar bevor – man trifft sich ein letztes Mal in dem Geschäft, welches zwar den meisten der Anwesenden einst Wohlstand gebracht hat, aber auch dunkle Geheimnisse zu bergen scheint. (Dies vielleicht ein kleiner dramaturgischer Schwachpunkt der Aufführung: Man wird über die Beziehungen der Personen und ihre Vergangenheit ziemlich im Ungewissen belassen.) Modisch ist man in den 50er Jahren des vergangenen Jahrunderts stehen geblieben, das hässlich braune Muster des Teppichbodens wird als eine Art corporate identity benutzt und blitzt in den Kostümen der Familienmitglieder je nach Intensität ihrer Beziehung zum Geschäft mehr oder weniger vordergründig auf. Es sind gerade solch subtil gesetzte Details (man achte z.B. auf die Krawattennummer – von umwerfend feiner Ironie!), welche die Arbeiten des Teams um Christoph Marthaler (Anna Viebrock ist verantwortlich für die Ausstattung, Malte Ubenauf für die Dramaturgie) immer wieder auszeichnen. Man könnte unzählige Seiten füllen mit genau beobachteten menschlichen Schwächen, Verhaltensweisen, Komplexen und Phobien, die Marthaler behutsam aus der Gestik, der Mimik, der Körpersprache seiner Personen entwickelt. Gesungen haben Marthalers Personen schon immer gerne und oft, wenn die Sprache nicht mehr ausreichte. Hier nun singen sie beinahe ausschliesslich. Mit Ausnahme des Verwandten aus England (Graham F. Valentine), welcher mit seiner Wiedergabe von E. A. Poes The Masque of the Red Death den Anwesenden die Ausweglosigkeit ihrer Flucht ins Réduit spiegelt – und die bei diesem Blick in den Spiegel nur noch verlegen lachen können, ein Lachen, das ihnen bald im Hals stecken bleiben wird. Bei der Auswahl der Musiknummern aus dem reichhaltigen Oeuvre Händels haben sich die Verantwortlichen mehrheitlich auf bekannte Arien und Instrumentalstücke des Komponisten gestützt, die halsbrecherischen und leidenschaftlichen Bravourarien aber nicht einbezogen, sondern eher die elegischen, wehmütigen und von Trauer und Abschied handelnden Musiknummern bevorzugt. Das gibt zusammen mit der Langsamkeit von Marthalers Bühnensprache ein stimmiges Ganzes. Manchmal hätte man sich als Belebung und zusätzliche Ironisierung doch ein rasantes, konterkarierendes Element gewünscht. Immerhin darf man sich an den grandios wiedergegebenen Arien aus GIULIO CESARE IN EGITTO und ADMETO durch den mit einer stupenden Technik, fantastischer Koloratursicherheit und wunderbar sanftem Timbre glänzenden Countertenor Christophe Dumaux (Grossneffe) erfreuen. Anne Sophie von Otter wartet als Oberhaupt der Dynastie mit einem feinen Klang in der Stimme auf, in welchen sie dezent eine Prise von herberen Farben mischt, jedoch auf plakative Expressivität wohltuend verzichtet. (Sie singt Arien, Duette und Terzette aus ALCINA, ORLANDO, AGRIPPINA, SEMELE und SALOMON.) Malin Hartelius (Nichte) hat einen ganz grossen, berührenden Moment in Oh sleep, why dost thou leave me (SEMELE), eine Arie welche sie mit unermesslich zarter Tongebung interpretiert. Zu den beiden gesellt sich Tora Augestad (norwegisch-amerikanische Verwandte), welche mit einer satten, leuchtkräftig funkelnden Sopranstimme in ihren beiden Arien (aus ALCINA und L'ALLEGRO ... ) auf sich aufmerksam macht und die Ensembles mit dem Klang ihrer Stimme bereichert. Die weiteren Familienmitglieder werden von Schauspielern gespielt, bekannte Namen wie Jürg Kienberger, Ueli Jäggi, Catriona Guggenbühl, Marc Bodnar, Raphael Clamer und Bernhard Landau, welche immer wieder in Marthalers Produktionen auftauchen und selbstverständlich auch grossartig singen können. Dies zeigt sich besonders im grössten aller Händel-Hits: Lascia ch'io pianga aus RINALDO, welchen der Regisseur als bizarre Begräbnisszene ablaufen lässt: Nach mehrmaligem Versuch finden die Stimmen endlich zum Lied, intonieren es dann traumhaft schön und sicher a capella und lassen dazu Waschmittel ins Grab des zentralen Tresens rieseln – ein unglaublich bewegendes Bild, umflort mit feinfühligem Humor. Und genau dieser Humor ist es, der die Arbeiten Marthalers ausmacht – doch muss man die Ruhe und die Konzentration aufbringen, um ihn zu entdecken und ihm nachzuspüren. Das ist kein Schenkelklopfen-Theater und keine plakative Kapitalismus- und Konsumkritik sondern eher eine dezente Parabel über Frustrationen, Scheitern und stumpfes Erdulden. Es werden zwar im Verlauf des Abends unter den Mitglieder auch Emotionen frei gesetzt, einmal muss gar der Dirigent (Laurence Cummings) vom Pult aus ein Rezitativ aus dem MESSIAH singen (er macht das fantastisch!!!), um die sich prügelnden Verwandten zur Ruhe zurückzubeordern – doch grossenteils herrscht eine Stimmung der fatalistischen Lethargie. Man versucht selbst, sich der Kleidung zu entledigen, um einen Aufbruch zu wagen, schafft nicht mal das richtig und ergibt sich mutlos wieder dem umständlichen Anziehen derselben.
Laurence Cummings leitet umsichtig - grosse Ruhe ausstrahlend und sehr feinfühlig die klanglichen Schönheiten entfaltend - das Orchester LA SCINTILLA, welches man noch selten mit derart warmem Klang spielen gehört hat. Wunderschön dürfen sich Holz- und Blechbläser solistisch hervortun, reichhaltig die Begleitungen der beiden Cembali, sanft und klangschön die Streicher.
Die Ingredienzen, welche da für dieses Pasticcio subtil zusammengemixt wurden, führten zu einer im Geschmack feinwürzigen, gut verdaulichen Wurst (Plakat des Opernhauses Zürich zu SALE).
Dass sich dennoch so viele Leute in diese Premiere begaben, welche von vornherein nicht gewillt waren, sich mit dieser Art der Theatersprache und der Bühnenästhetik auseinanderzusetzen, erstaunt umso mehr, als Marthaler und sein Team gerade in Zürich keine Unbekannten sind. Dies führte am Ende des Premierenabends zu einer gespaltenen Reaktion des Saals: Jubelnd geäusserte Zustimmung und vehemente Ablehnung prallten aufeinander – und das war auch gut so: Theater soll schliesslich bewegen, Emotionen freisetzen. Dieser Aufführung gelingt es!
Inhalt:
Inmitten der von radikalen Reduzierungsankündigungen überfluteten Regale eines ehemals florierenden Warenhauses versammeln sich die verbliebenen Mitglieder der Eigentümerdynastie zu einer letzten Familienzusammenkunft. Es sind die Cousins, Neffen zweiten Grades, ausgewanderten Schwiegertöchter und Schwippschwager der Konzernchefin, die von weit her angereist sind. Und diese Menschen, die sich seit Jahrzehnten nicht begegnet sind und deren Zusammengehörigkeitsgefühl bisher lediglich auf dem Kontopapier existierte, erinnern sich auf einmal gemeinsam an das Glück vergangener Tage. Sie träumen von edlen Waren, zahllosen Angestellten und klingelnden Kassen. Und weil sie es nicht fassen können, dass das Schicksal sich zu ihren Ungunsten gewendet hat, verschanzen sie sich mehr und mehr hinter den Mauern ihres dem Untergang geweihten Warenhauses. Fast so, als liesse sich die Katastrophe aufhalten, indem man die Türen mit aller Kraft geschlossen hält. Und während sie die Realität verleugnen und immer tiefer hinein geraten in die Zeitschlaufen der Vergangenheit, beginnen sie zu singen. Sie singen eine Musik, die wie keine andere von Verlust, Trauer und Irrationalität zu künden vermag. Es ist eine Musik aus einem weit entfernten Jahrhundert. Dass ein Komponist namens Georg Friedrich Händel sie einst geschrieben hat, ist keinem der Anwesenden bewusst. Umso mehr jedoch, dass sie ein grosses und wundervolles Versprechen zu beinhalten scheint – ganz ähnlich dem, wie es vor langer Zeit einmal zwei Wochen im Sommer und zwei im Winter zu spüren war, in den goldenen Tagen des Schlussverkaufs. (Text: Opernhaus Zürich)
Werk:
Beim Projekt von Christoph Marthaler handelt es sich um eine Art Pasticcio, also einer „Pastete aus Musik“. Das hat nichts Verwerfliches an sich, denn die Tradition dieser musikalischen Pasteten, in welchen Ingredienzen verschiedener Herkunft zu einem neuen, schmackhaften Ganzen zubereitet wurden, geht tatsächlich auf den Beginn des 18. Jahrhunderts zurück und reicht so von Händel (1685-1759) über Vivaldi und Gluck bis in die Zeit Rossinis und Donizettis. Grosse Komponisten allesamt, welche selbst immer wieder in ihrem eigenen Fundus gewühlt und alte Arien, Ouvertüren und andere musikalische Kostbarkeiten in neue Werke eingefügt haben und sich auch nicht scheuten, Kompositionen anderer Meister zu verwenden (copy – paste lässt grüssen!). Auch Gesangsstars reisten oft mit ihren Bravourarien im Gepäck herum und boten diese an passenden (und manchmal auch unpassenden) Stellen in neuen Opern dar, in welchen sie eigentlich a priori nichts zu suchen hatten. Oft machten auch Komponisten selbst aus der Not eine Tugend und holten Arien aus den Schubladen hervor, um Besetzungsproblemen an verschiedenen Häusern auszuweichen. Da die formale Gestaltung der Arien zu dieser Zeit ziemlich typisiert war, liessen sie sich problemlos als Versatzstücke für dramatisch unterschiedliche Handlungen verwenden, es finden sich selbst Arien aus Tragödien in Lustspielen wieder.